JudikaturJustiz11Os44/21m

11Os44/21m – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. April 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. April 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz als weitere Richter in der Übergabesache des Gal B*****, AZ 315 HR 333/20p des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die Grundrechtsbeschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 4. März 2021, AZ 22 Bs 57/21z (ON 35 der HR Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019) zu Recht erkannt:

Spruch

Gal B***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

[1] Dem V erfahren AZ 315 HR 333/20p des Landesgerichts für Strafsachen Wien (AZ 307 HSt 28/20s der Staatsanwaltschaft Wien) zum Zweck der Übergabe des israelischen Staatsangehörigen Gal B***** zur Strafverfolgung liegt ein im Verfahren AZ 1 Gs 2292/20 des Amtsgerichts Bamberg ausgestellter Europäischer Haftbefehl vom 11. Dezember 2020 zugrunde (§ 16 Abs 1 EU JZG).

[2] Danach ist Gal B***** verdächtig, (zusammengefasst) von 1. Jänner 2016 bis 28. Februar 2019 als („maßgebliche[r] Drahtzieher [...] und gegenüber allen Mittätern weisungsbefugt[er]“) Kopf einer aus vielen Personen bestehenden Verbindung unter anderem mit Callcentern in Sofia, Belgrad und Sarajevo als Chief Executive Officer namentlich genannter Unternehmen über die Tradingplattformen XTraderFX, OptionStarsGlobal und Safemarkets dafür gesorgt zu haben , dass andere Personen als „Retention Agents“ zahlreiche Kunden in Deutschland betrügerisch mit einem Gesamtschaden von mehr als 7,4 Mio Euro schädigten, indem sie vorgaben, als Tradingspezialisten hohe Gewinne erzielen zu können, obwohl sie wussten, dass weder eine Aussicht auf Kapitalerhalt noch Kapitalgewinn bestand, und solcherart die Kunden dazu verleiteten, Gelder in unterschiedliche Finanzinstrumente zu investieren, wobei die einbezahlten Kundengelder tatsächlich nicht investiert, sondern unverzüglich in einem komplexen, europaweit installierten Geldwäschenetzwerk verteilt wurden, auf das der Betroffene ebenfalls Einfluss gehabt haben soll.

[3] Dieses Verhalten wurde rechtlich als Bildung einer kriminellen Vereinigung in Tatmehrheit mit gewerbs und bandenmäßigem Betrug nach §§ 129 Abs 1, 263 Abs 1, Abs 3 zweiter Satz Nr 1, Abs 5 dStGB (mit einer angedrohten Gesamtfreiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren) beurteilt und als Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Cyberkriminalität und Betrug im Sinn der Liste von Straftaten nach Teil A des Anhangs I zum EU-JZG kategorisiert (ON 2 S 6, 9 f – vgl § 4 Abs 3 EU-JZG).

[4] Im (zugrundeliegenden – vgl Schallmoser in WK 2 EU JZG § 19 Rz 4, 28/1) Haftbefehl des Amtsgerichts Bamberg vom 8. Dezember 2020 (ON 2 S 15 ff) werden bezogen auf die Tradingplattformen XtraderFX und OptionStarsGlobal in Deutschland wohnhafte Geschädigte namentlich sowie die jeweiligen Tatzeitpunkte und jeweils erlangten Beträge aufgelistet.

[5] Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 1. September 2020, GZ 122 Hv 4/20g 839 (ON 14 der HR-Akten), wurde Gal B***** – soweit hier relevant – des Verbrechens des gewerbsmäßigen schweren Betruges nach §§ 12 zweiter Fall, 146, 147 Abs 3, 148 zweiter Fall StGB (I) schuldig erkannt.

[6] Danach hat er – stark verkürzt – zu im Urteil einzeln angeführten Tatzeitpunkten zwischen 9. September 2015 und Februar 2019 gewerbsmäßig (§ 70 Abs 1 Z 1 StGB) in Sofia und an anderen Orten im Ausland als Betreiber der Online-Plattformen OptionStars/ OptionStarsGlobal, XTraderFX, GoldenMarkets und SafeMarkets mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz zahlreiche unmittelbare Täter bestimmt, in Sofia, Belgrad und anderen Orten im Ausland mehr als 1.000 im Urteil bezogen auf die einzelnen Online-Plattformen namentlich genannte, in Österreich wohnhafte Personen durch Täuschung über Tatsachen zu im Urteil betragsmäßig einzeln angeführten vermögensschädigenden Zahlungen zu verleiten.

[7] Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11. Februar 2021, GZ 315 HR 333/20t 21, wurde die über Gal B***** mit Beschluss vom 29. Jänner 2021 verhängte Übergabehaft (ON 13) aus den Gründen des § 173 Abs 1, Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO fortgesetzt.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der dagegen gerichteten Beschwerde des Betroffenen, der Rechtswidrigkeit der Verlängerung der Übergabehaft zufolge Verstoßes gegen Art 54 SDÜ, Art 50 GRC und Art 4 7. ZPMRK reklamierte und die herangezogenen Haftgründe bestritt, gab das Oberlandesgericht mit dem angefochtenen Beschluss nicht Folge und setzte die Übergabehaft aus den Haftgründen der Flucht und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit b StPO iVm § 18 EU JZG und § 29 ARHG fort (ON 35).

[9] Soweit hier relevant hielt das Beschwerdegericht fest, dass die Zulässigkeit der Übergabe selbst keine Voraussetzung für die Verhängung der Übergabehaft sei (RIS Justiz RS0120452), weshalb auf das diesbezügliche Beschwerdevorbringen – insbesondere die Ausführungen zum ne bis in idem Grundsatz – nicht weiter einzugehen sei.

[10] Gestützt auf Art 54 SDÜ (Art 4 des 7. ZPMRK und Art 50 GRC – zum beschränkten Anwendungsbereich der GRC Schallmoser in WK 2 EU JZG § 7 Rz 5) wendet sich der Betroffene mit Grundrechtsbeschwerde gegen die unterbliebene Prüfung und Bejahung des Verbots neuerlicher Strafverfolgung, worin er eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit (Art 1 PersFrG und Art 5 EMRK) erblickt (ON 37).

[11] Gemäß § 18 Abs 2 EU JZG iVm § 29 ARHG darf die Übergabehaft nur verhängt oder fortgesetzt werden, wenn hinreichende Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine in Österreich betretene Person eine der Übergabe nach dem EU JZG unterliegende strafbare H andlung begangen hat.

[12] Die Haftvoraussetzungen des § 29 ARHG decken sich mit jenen für die Zulässigkeit der Übergabe (Auslieferung) nur insoweit, als eine der Haft zugrundeliegende strafbare Handlung der Auslieferung unterliegen muss ( Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 29 Rz 7).

[13] Im vorliegenden Fall hat d ie ausstellende Justizbehörde die dem Europäischen Haftbefehl zu Grunde liegenden H andlungen mehreren im Teil A des Anhangs I zum EU-JZG angeführten Kategorien von Straftaten (ohne dass dagegen begründete Einwände erhoben wurden und nicht offensichtlich rechtsfehlerhaft – vgl § 19 Abs 3 EU JZG) zugeordnet (Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung [1], Cyberkriminalität [11] und Betrug [20]), die mit einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe bedroht sind, sodass diese der Übergabe zur Strafverfolgung unterliegen (§ 4 Abs 1 EU JZG). Beiderseitige Strafbarkeit ist nicht zu prüfen (§ 4 Abs 3 EU JZG; Schallmoser in WK 2 EU JZG § 4 Rz 10 ff, § 19 Rz 13 ff; Hinterhofer in WK 2 EU JZG § 18 Rz 8; Kirchbacher/Rami , WK-StPO Vor §§ 170–189 Rz 33).

[14] Da es für die Voraussetzungen der H aft nach § 29 Abs 1 ARHG (hier über die Verweisungsnorm des § 18 Abs 2 EU JZG) auf die Anhängigkeit eines – hier – Übergabeverfahrens, nicht aber auf dessen Ergebnis ankommt ( Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 29 Rz 7; Göth-Flemmich/ Herrnfeld/Kmetic/Martetschläger , Internationales Strafrecht § 29 ARHG Rz 3; Grabenwarter/Pabel EMRK 7 § 21 Rz 54; Kirchbacher/Rami , WK-StPO Vor §§ 170–189 Rz 33, § 174 Rz 10/1; 13 Os 89/15k), wurde der Betroffene dadurch, dass das Beschwerdegericht bei seiner Entscheidung über die Übergabehaft auf dessen Ausführungen zum Grundsatz des ne bis in idem (vgl § 7 Abs 1 EU JZG und Art 16 Abs 3 ARHG) nicht (weiter) eingegangen ist, im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

[15] Denn auch Art 5 Abs 1 lit f MRK stellt nur auf die Anhängigkeit eines Auslieferungsverfahrens, Art 2 Abs 1 Z 7 des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit auf eine beabsichtigte Auslieferung, mithin ebenso bloß auf ein Auslieferungsverfahren, nicht überdies auf dessen Ergebnis ab (vgl 13 Os 136/05g; RIS Justiz RS0120452).

[16] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

[17] Bleibt der Vollständigkeit halber anzumerken, dass das Erstgericht im Haftfortsetzungsbeschluss den (zwingenden) Ablehnungstatbestand des § 7 Abs 1 EU JZG, der – wie Art 54 SDÜ – an eine endgültige Entscheidung wegen „derselben Tat“ anknüpft ( Schallmoser in WK 2 EU JZG § 7 Rz 3; zur identen Tat [idem] vgl 11 Os 5/15t, 11 Os 73/13i; Grabenwarter/Pabel EMRK 7 § 24 Rz 167; Birklbauer , WK-StPO § 17 Rz 28 ff; Ratz in WK-StGB § 29 Rz 6 f) mit zutreffender Begründung verneint hat (zur erforderlichen besonderen Sorgfalt in Fällen einer Inhaftierung zum Zweck der Auslieferung zur Strafverfolgung vgl Grabenwarter/Pabel EMRK 7 § 21 Rz 54).

[18] Erachtet im Übrigen ein österreichisches Vollstreckungsgericht bei seiner (zwingenden – EuGH 25. 7. 2018, C-268/17, AY 2 – Berger/Maderbacher ÖJZ 2018/115 [EuGH], 886 f) Entscheidung über einen Europäischen Haftbefehl den Ablehnungstatbestand des § 7 Abs 1 EU JZG für gegeben, hat es die Übergabe unverzüglich (§ 9 Abs 2 StPO) abzulehnen und deshalb die Übergabehaft mittels gesondertem Beschluss (sofort) zu beenden ( Hinterhofer in WK 2 EU JZG § 21 Rz 7 sowie § 18 Rz 27 zu sofort[iger] Aufhebung der Übergabehaft; Göth-Flemmich in WK 2 ARHG § 29 Rz 17 und Rz 8 mit differenzierter Betrachtung). Letzteres gilt auch, wenn der Ausstellungsstaat einen Europäischen Haftbefehl nachträglich außer Vollzug setzt ( Hinterhofer in WK 2 EU JZG § 21 Rz 8).