JudikaturJustiz11Os105/22h

11Os105/22h – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. November 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. November 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab als Vorsitzenden sowie die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Mag. Fürnkranz und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kornauth als Schriftführer in der Auslieferungssache des * S*, AZ 312 HR 25/21y des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 11. Februar 2022 (ON 14 der HR Akten) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, zu Recht erkannt:

Spruch

Das Unterlassen, dem Betroffenen vor der nicht öffentlichen Beschlussfassung am 11. Februar 2022 Gelegenheit zur Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen des Justizministeriums der Republik Serbien vom 11. Oktober 2021 zu geben, verletzt § 31 Abs 2 letzter Satz ARHG.

Der Beschluss vom 11. Februar 2022 wird aufgehoben und dem Landesgericht für Strafsachen Wien die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Gründe:

[1] Am 1. Oktober 2021 leitete die Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 301 HSt 24/21k das Auslieferungsverfahren gegen den serbischen Staatsangehörigen * S* ein und beantragte beim Landesgericht für Strafsachen Wien die Verhängung der Auslieferungshaft gemäß § 29 ARHG „für den Fall der Entlassung des Betroffenen aus der Untersuchungshaft bzw einer daran anschließenden Strafhaft“, seine Vernehmung gemäß § 31 Abs 1 ARHG und die Berichterstattung an das Bundesministerium für Justiz gemäß § 28 Abs 1 ARHG (ON 1 S 1 f).

[2] Nach durchgeführter Vernehmung, bei der S* zur Sache keine Angaben machte, einer vereinfachten Auslieferung ausdrücklich nicht zustimmte und die Beigebung eines Verfahrenshilfeverteidigers beantragte (ON 5), erstattete das Landesgericht für Strafsachen Wien zu AZ 312 HR 25/21y am 12. Oktober 2021 gemäß § 28 Abs 1 ARHG Bericht an das Bundesministerium für Justiz unter Anschluss einer Sachverhaltsdarstellung (ON 6, 7).

[3] Nach Vorliegen des Auslieferungsersuchens des serbischen Justizministeriums samt Auslieferungsunterlagen (ON 10) veranlasste die Einzelrichterin am 20. Dezember 2021 die Zustellung deren deutscher Übersetzung (ON 13) an den S* zwischenzeitig beigegebenen Verteidiger (ON 1 S 3) verbunden mit der Mitteilung, es werde „dem Betroffenen […] gemäß § 31 Abs 2 ARHG die Gelegenheit geboten, binnen drei Wochen zum Auslieferungsersuchen Stellung zu nehmen bzw (allenfalls darüber hinaus) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen“ (ON 1 S 7).

[4] Nach Verstreichen d ieser Frist erklärte die Einzelrichterin ohne Durchführung einer Verhandlung – und ohne dass S* als betroffener Person selbst unmittelbar Gelegenheit geboten worden wäre, zum Auslieferungsersuchen Stellung zu nehmen – mit Beschluss vom 11. Februar 2022, GZ 312 HR 25/21y 14, die Auslieferung des Genannten zur Strafvollstreckung „unter Einhaltung des Schutzes der Spezialität“ für zulässig (1./). Unter einem schob das Gericht die tatsächliche Übergabe an die serbischen Behörden gemäß § 37 Z 2 ARHG bis zum Ende des vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien geführten inländischen Strafverfahrens und einem allfällig daran anschließenden Strafvollzug auf (2./).

[5] Begründend führte die Richterin unter anderem aus, der Betroffene habe der vereinfachten Auslieferung zwar nicht zugestimmt, jedoch keine Gründe vorgebracht, die gegen eine Auslieferung sprechen würden. Es sei ihm die Möglichkeit eingeräumt worden, zum Auslieferungsersuchen Stellung zu nehmen, wobei eine Gleichschrift der übersetzten Auslieferungsunterlagen seinem Verteidiger mit einer entsprechenden Note zugestellt worden sei. Von der Äußerungsmöglichkeit sei kein Gebrauch gemacht worden (ON 14 S 2).

[6] Nach Rechtskraft des Beschlusses wurde am 15. März 2022 die unmittelbare Vorlage der Akten an das Bundesministerium für Justiz (§ 31 Abs 7 ARHG) verfügt (ON 1 S 10).

Rechtliche Beurteilung

[7] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, steht d as Unterlassen, dem Betroffenen selbst Gelegenheit zur Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen des Justizministeriums der Republik Serbien zu geben, und die darauf folgende nicht öffentliche Beschlussfassung am 11. Februar 2022 mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[8] Gemäß § 31 Abs 2 letzter Satz ARHG muss das Gericht, wenn es – wie hier – „ohne Verhandlung“ entscheidet, vor der Beschlussfassung der betroffenen Person und ihrem Verteidiger sowie der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme zum Auslieferungsersuchen bieten ( Göth-Flemmich/Riffel in WK 2 ARHG § 31 Rz 4; vgl Rosbaud in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner , Internationale Rechtshilfe in Strafsachen 5 § 31 ARHG Rz 2; ebenso in diesem Sinn bei vergleichbarer Konstellation 14 Os 20/14v). Die Bestimmung normiert solcherart einen Ausnahmefall zu dem sonst auch im Auslieferungsverfahren (§ 9 ARHG) anzuwendenden § 83 Abs 4 erster Satz StPO, wonach dem (gesetzlichen, bestellten oder frei gewählten) Vertreter (Verteidiger) eines Verfahrensbeteiligten und nicht diesem selbst zuzustellen ist (RIS Justiz RS0097275; Fabrizy/Kirchbacher , StPO 14 § 83 Rz 5).

[9] Dass lediglich dem Verteidiger die (übersetzten) Auslieferungsunterlagen übermittelt wurden, dem Betroffenen aber nicht auch selbst Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, verletzt § 31 Abs 2 letzter Satz ARHG.

[10] Da eine nachteilige Wirkung für den Betroffenen nicht ausgeschlossen werden kann (siehe abermals 14 Os 20/14v), sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, die Feststellung der Gesetzesverletzung mit konkreter Wirkung wie aus dem Spruch ersichtlich zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO).