JudikaturJustiz10ObS43/22d

10ObS43/22d – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Juni 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch die Hofrätin Dr. Faber als Vorsitzende, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald Fuchs (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Birgit Riegler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Pflegegeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 22. Februar 2022, GZ 9 Rs 8/22w 39, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 26. 1. 2018 gewährte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt der 1977 geborenen Klägerin ab 1. 7. 2017 Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 infolge Annahme einer hochgradigen Sehbehinderung.

[2] Tatsächlich lag im Zeitpunkt der Gewährung des Pflegegelds bei der Klägerin keine hochgradige Sehbehinderung vor. Am rechten Auge der Klägerin bestand ein Sehnervenschwund mit ausgeprägter Sehverschlechterung sowie ein Zustand nach Perforation der weißen Augenhaut. Es bestand funktionelle Einäugigkeit. Am linken Auge bestanden im Gewährungszeitpunkt geringe Gesichtsfeldausfälle.

[3] Darüber hinaus benötigte die Klägerin bereits im Gewährungszeitpunkt Hilfe bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Medikamenten und Gebrauchsgegenständen, der Wohnungsreinigung und der Pflege der Leib und Bettwäsche.

[4] Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 30. 9. 2020 entzog die Beklagte der Klägerin das Pflegegeld mit Ablauf des Monats November 2020 mit der Begründung, es liege kein 65 Stunden monatlich übersteigender Pflegebedarf mehr vor.

[5] Der Zustand des rechten Auges der Klägerin hat sich im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt nicht verändert. Das Sehvermögen am linken Auge der Klägerin hat sich dahin gebessert, dass das Gesichtsfeld im Entziehungszeitpunkt unauffällig war.

[6] Auch im Entziehungszeitpunkt benötigte die Klägerin Hilfe bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Medikamenten und Gebrauchsgegenständen, der Wohnungsreinigung und der Pflege der Leib und Bettwäsche.

[7] Das Erstgericht gab der Klage auf Weitergewährung des Pflegegelds im gesetzlichen Ausmaß über den 30. 11. 2020 hinaus statt.

[8] Das von der Beklagten angerufene Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Für die Beurteilung, ob eine Person als hochgradig sehbehindert gelte, komme es auf die Sehleistung des besseren Auges bei optimaler Korrektur an. Das rechte Auge der Klägerin weise keine verwertbare Sehleistung auf, die Klägerin sei funktionell einäugig. Das bessere linke Auge der Klägerin habe zum Zeitpunkt der Gewährung des Pflegegelds einen Visus von 1,0 mit nur geringen Gesichtsfeldausfällen aufgewiesen. Daraus folge, dass die Klägerin zum Gewährungszeitpunkt nicht hochgradig sehbehindert gemäß § 4a Abs 4 BPGG gewesen und die diagnosebezogene Gewährung von Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 zu Unrecht erfolgt sei. In einem solchen Fall genüge zur Durchbrechung der Rechtskraftwirkung des Gewährungsbescheids auch eine geringfügige Verbesserung des Zustandes des Pflegegeldwerbers, weil eine solche geringfügige Verbesserung auch in Fällen der rechtmäßigen Gewährung einer Leistung zu einer Herabsetzung oder Entziehung der Leistung führen könne. Verbessere sich in einem Fall einer diagnosebezogenen Einstufung nach § 4a Abs 4 BPGG die Sehschärfe oder das Gesichtsfeld des besseren Auges auch nur geringfügig und werde dadurch der Visusgrenzwert gemäß § 4a Abs 4 BPGG überschritten oder liege dadurch die nach dieser Bestimmung geforderte Gesichtsfeldeinschränkung nicht mehr vor, so bedeute dies eine wesentliche Verbesserung, die zur Herabsetzung oder Entziehung des Pflegegelds führe. Bei der Klägerin habe sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt das Gesichtsfeld des besseren linken Auges verbessert, sodass die Entziehung des Pflegegelds zu Recht erfolgt sei. Daran ändere auch die funktionsbezogene Betrachtung nichts, weil der diesbezügliche Pflegebedarf der Klägerin bei Gewährung wie bei Entziehung unverändert 30 Stunden pro Monat betragen habe.

[9] In ihrer erhobenen außerordentlichen Revision zeigt die Klägerin keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:

[10] Die Revisionswerberin macht geltend, dass die Besserung der Gesichtsfeldeinschränkung am linken Auge keine Auswirkung auf die Einschätzung des Pflegebedarfs habe, sodass keine wesentliche, die Entziehung des Pflegegelds rechtfertigende Veränderung vorliege. Da geringe Gesichtsfeldausfälle mit sonst gutem Sehvermögen am besseren Auge nie eine hochgradige Sehbehinderung begründen könnten, könne auch der Wegfall der geringen Gesichtsfeldausfälle keine Auswirkung auf den Pflegebedarf haben.

Dazu wurde erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[11] 1. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegelds sind jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (10 ObS 78/17v SSV NF 31/43 [Leitsatz 1] RS0061709 [T4]).

[12] 2. Zur Entziehung von Rehabilitationsgeld entspricht es der vom Berufungsgericht beachteten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, dass die (materielle) Rechtskraft des Bescheids über die Zuerkennung von Rehabilitationsgeld im Fall einer irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität gemäß § 255b ASVG bei der Gewährung dieser Leistung einer späteren Entziehung gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann entgegensteht, wenn der Sachverhalt im Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt unverändert ist. Ist jedoch im Fall eines aufgrund der irrtümlichen Annahme des Vorliegens vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG zuerkannten Rehabilitationsgelds eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person im Entziehungszeitpunkt feststellbar und bezieht sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen, die die (unrichtige) Einschätzung des Vorliegens vorübergehender Invalidität iSd § 255b ASVG begründet haben, so ist eine Entziehung des Rehabilitationsgelds gemäß § 99 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 lit b sublit aa ASVG dann gerechtfertigt, wenn im Entziehungszeitpunkt vorübergehende Invalidität nicht vorliegt (10 ObS 40/20k SSV NF 34/44 = DRdA 2021/23, 242 [zust Naderhirn ]; 10 ObS 76/21f; RS0133202).

[13] 3. Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht zutreffend auch im vorliegenden Fall einer diagnosebezogenen Mindesteinstufung angewandt. Bei dieser und der funktionsbezogenen Einstufung handelt es sich lediglich um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten, nach denen der allein den Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens bildende Anspruch auf Pflegegeld entsprechend den Voraussetzungen des § 4 BPGG zu beurteilen ist (10 ObS 53/19w SSV NF 33/45 = ÖZPR 2019/107, 180 [ Greifeneder ] = DRdA 2020/34, 367 [ Schaup ]).

[14] 4. Die Mindesteinstufung gemäß § 4a BPGG hängt nicht vom individuell erforderlichen Betreuungs und Hilfsbedarf, sondern von bestimmten Diagnosen ab. Schon aus diesem Grund kommt es nicht auf die von der Revisionswerberin ins Treffen geführten (fehlenden) Auswirkungen geringer Gesichtsfeldausfälle auf den Pflegebedarf an. Die rechtlichen Ausführungen des Berufungsgerichts zu § 4a Abs 4 BPGG zieht die Revisionswerberin zu Recht nicht in Zweifel. Neben dem Visus bzw im Verein mit diesem spielen für die Einstufung als hochgradig sehbehindert oder blind auch Gesichtsfeldeinschränkungen eine wesentliche Rolle (ausführlich Greifeneder/Liebhart , HB Pflegegeld 4 Rz 6.30); sie sind daher für die diagnosebezogene Einstufung gemäß § 4a Abs 4 BPGG maßgeblich. Die Klägerin, der Pflegegeld ursprünglich zu Unrecht zuerkannt wurde, und deren Gesichtsfeld sich verbesserte, soll nicht besser gestellt sein als eine vergleichbare Person, der Pflegegeld rechtmäßig zuerkannt wurde und die infolge der Verbesserung des Gesichtsfelds mit der Folge, nicht mehr hochgradig sehbehindert iSd § 4a Abs 4 BPGG zu sein, eine Entziehung des Pflegegelds hinnehmen müsste (10 ObS 40/20k, Pkt 6.3).