JudikaturJustiz10ObS169/19d

10ObS169/19d – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. Januar 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei, A*****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm und Dr. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Ausgleichszulage, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. September 2019, GZ 9 Rs 17/19i 13, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 9. Oktober 2018, GZ 9 Cgs 28/18z 9, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und in der Sache zu Recht erkannt:

Das die Klage abweisende Urteil des Erstgerichts wird wiederhergestellt.

Text

Entscheidungsgründe:

Die 1959 geborene Klägerin ist rumänische Staatsbürgerin. Im Jahr 2011 zog sie nach Wien, wo sie seither bei ihrem Stiefsohn und dessen Familie lebt. Vom rumänischen Versicherungsträger erhält sie eine Rente in Höhe von (zuletzt) 159,30 EUR monatlich. Sie hat kein Vermögen und bezieht neben ihrer Rente keine nennenswerten Einkünfte. Am 23. 9. 2011 stellte ihr die Magistratsabteilung 35 der Stadt Wien eine Anmeldebescheinigung nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) aus. Über den Antrag der Klägerin auf Ausstellung einer Bescheinigung des Daueraufenthalts wurde bisher noch nicht entschieden.

Kurz nachdem die Klägerin nach Wien übersiedelt war, beantragte sie bei der beklagten Partei erstmals die Zuerkennung der Ausgleichszulage. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 28. 11. 2013 abgelehnt. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wies der Oberste Gerichtshof mit Urteil vom 19. 7. 2016 ab (10 ObS 53/16s). Nach den damaligen Verfahrensergebnissen war die Klägerin nur zum Zweck eines Sozialleistungsbezugs (aus der Krankenversicherung) aus Rumänien nach Österreich gezogen.

Am 5. 10. 2016 beantragte sie neuerlich die Zuerkennung der Ausgleichszulage. Diesen Antrag lehnte die beklagte Partei mit Bescheid vom 29. 11. 2017 ab.

In ihrer dagegen gerichteten Klage macht die Klägerin zusammengefasst geltend, sie habe in Österreich mittlerweile das Recht auf Daueraufenthalt im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 29. 4. 2004 („Unionsbürger RL) erworben.

Die beklagte Partei wendet im Wesentlichen ein, dass der Aufenthalt der Klägerin in Österreich – mag er auch faktisch bereits fünf Jahre angedauert haben – nicht rechtmäßig im Sinn der Unionsbürger RL gewesen sei.

Das Erstgericht wies die Klage ab.

Rechtlich ging es davon aus, das Daueraufenthaltsrecht (Art 16 der Unionsbürger-RL 2004/38/EG) setze voraus, dass sich der Unionsbürger rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Die Anmeldebescheinigung habe keine Auswirkungen auf den Sozialhilfeleistungsanspruch. Seit Beginn ihres Aufenthalts in Österreich habe die Klägerin nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt; ein Bezug zu einer Erwerbstätigkeit fehle. Mit einem Rentenbezug von rund 160 EUR falle sie in die Kategorie der Armutszuwanderung. Ihr Aufenthalt in Österreich sei weiterhin nur denkbar, wenn sie aus öffentlichen Geldmitteln unterstützt werde.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und hob das Ersturteil auf. Wenngleich die Klägerin mangels eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich die Voraussetzungen nach Art 7 Abs 1 lit b der RL 2004/38/EG nicht erfülle, gebe es Hinweise darauf, dass die Voraussetzungen nach Art 7 Abs 1 lit d der RL 2004/38/EG vorliegen könnten, da sie als Stiefelternteil zum Kreis der Familienangehörigen eines Unionsbürgers zu zählen sei. Ob ihr das Recht auf Daueraufenthalt zukomme, hänge davon ab, ob ihr ihr Stiefsohn während ihres Aufenthalts in Österreich zumindest fünf Jahre lang Unterhalt gewährt hatte. Da dazu bisher Feststellungen fehlten, sei die Rechtssache zur Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Das Berufungsgericht ließ den Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss mit der Begründung zu, es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Unionsbürgerin, die die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger RL in der Vergangenheit nicht erfüllt habe, nach einem Aufenthalt von mehr als fünf Jahren in Österreich ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art 16 Abs 1 Unionsbürger RL erwerbe. Weiters bestehe keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu der Frage, ob auch eine Stiefmutter als Angehörige im Sinn der Unionsbürger RL bzw des NAG gilt.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist zulässig und im Sinn einer Wiederherstellung des abweislichen Ersturteils auch berechtigt.

Die beklagte Partei macht in ihrem Rekurs vor allem geltend, dass die Klägerin als Stiefelternteil nicht dem Kreis der Familienangehörigen iSd Art 7 Abs 1 lit d der Unionsbürger RL (§ 52 Abs 1 Z 3 NAG) zuzurechnen sei.

Diesen Ausführungen kommt Berechtigung zu:

1.1 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 (Unionsbürger RL) erlaubt es dem Aufnahmemitgliedstaat, wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern Beschränkungen in Bezug auf die Gewährung von Sozialleistungen aufzuerlegen, damit diese die Sozialhilfeleistungen dieses Staats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit der Einschränkung gilt auch für die österreichische Ausgleichszulage (EuGH C 140/12, Brey , Rz 53 f, 62).

1.2 Nach § 292 Abs 1 ASVG hat der Anspruchswerber Anspruch auf Ausgleichszulage, „solange er seinen rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat“.

1.3 Nach Art 16 Abs 1 der Unionsbürger RL hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten (siehe auch Erwägungsgrund 17). Der Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt setzt somit einen fünf Jahre langen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinn der in der Unionsbürger RL festgelegten Bedingungen im Aufnahmemitgliedstaat voraus. Ein bloß faktischer Aufenthalt im Ausmaß von fünf Jahren reicht nicht aus.

1.4 Erst wenn sich die Klägerin ab ihrer Übersiedlung nach Österreich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in Österreich aufgehalten hat, hat sie (jedenfalls) das Recht auf Daueraufenthalt im Inland erlangt. In diesem Fall bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob die sonstigen, für einen mehr als drei Monate währenden Inlandsaufenthalt notwendigen Voraussetzungen (wie zB ausreichende Existenzmittel und umfassender Krankenversicherungsschutz) weiterhin vorliegen (Art 16 Abs 1 Satz 2 der Unionsbürger RL; siehe auch deren Erwägungsgrund 18; in diesem Sinn auch § 53a NAG; RS0127041).

1.5 Die (im Übrigen nur deklarativ wirkende) Anmeldebescheinigung, über die die Klägerin verfügt, hat keine Auswirkung auf den Sozialleistungsanspruch (10 ObS 53/16s).

2.1 Das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten hat jeder Unionsbürger, wenn er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, sodass sie während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und der Unionsbürger und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (Art 7 lit b der Unionsbürger RL). Diese Voraussetzungen hat die Klägerin in der Zeit bis zum Erreichen einer faktischen fünfjährigen Aufenthaltsdauer in Österreich unstrittig nicht erfüllt.

2.2 Das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten besteht aber auch für einen Familienangehörigen, der den Unionsbürger (der die Voraussetzungen nach Art 7 Abs 1 lit a, b oder c erfüllt) begleitet oder ihm nachzieht (Art 7 Abs 1 lit d der Unionsbürger RL). Der Begriff „Familienangehöriger“ umfasst die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners ..., denen von diesen Unterhalt gewährt wird (Art 2 Z 2 lit d Unionsbürger RL).

3. Art 7 Abs 1 lit d der Unionsbürger RL wurde im Rahmen des Fremdenrechtspakets 2005, BGBl I 2005/100, mit § 52 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) umgesetzt. § 52 Abs 1 NAG normiert, dass „auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie ... EWR Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt sind, wenn sie (ua) ...

„3. Verwandter des EWR Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird; ...

4. Wie die beklagte Partei in ihrem Rekurs aufzeigt, ist die Klägerin als Stiefmutter des Unionsbürgers, dem sie nachgezogen ist, nicht zum Kreis der in Art 7 Abs 1 lit d der Unionsbürger RL genannten Familienangehörigen und auch nicht zu den in § 52 Abs 1 Z 3 genannten Verwandten zu zählen:

4.1 Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „Stiefmutter“ die Frau, die mit dem leiblichen Vater des Kindes verheiratet ist; sie ist keine Blutsverwandte und auch keine Verwandte, deren Verwandtschaftsverhältnis durch Adoption begründet wurde.

4.2 Als Stiefmutter gehört die Klägerin nach dem Wortlaut des Art 2 Z 2 lit d der Unionsbürger RL nicht zu den begünstigten Familienangehörigen (VwGH 2006/18/0089). Auch nach § 52 Abs 1 Z 3 NAG sind Verwandte in aufsteigender Linie (lediglich) Eltern oder Großeltern der EWR Bürger oder ihrer Ehepartner oder eingetragenen Partner, nicht aber ein Stiefelternteil.

4.3 Die Ansicht des Berufungsgerichts, unter den Begriff „Verwandte in gerader aufsteigender Linie“ iSd § 52 Abs 1 Z 3 NAG seien auch Stiefeltern zu subsumieren, weil im NAG der Begriff der Verwandten in absteigender Linie (§ 52 Abs 1 Z 2 NAG) auch Stiefkinder umfasse („Verwandte des EWR Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres ...“), ist vom Wortlaut des § 52 Abs 1 Z 3 NAG nicht gedeckt. Ein Analogieschluss kommt nicht in Betracht, weil für das Bestehen einer Gesetzeslücke im Sinn einer planwidrigen Unvollständigkeit (RS0098756) keine Anhaltspunkte bestehen. Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, entspricht nämlich der Kreis der begünstigten Angehörigen nach dem NAG den in der Unionsbürger RL vorgesehenen Angehörigen und geht nicht darüber hinaus (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 141).

4.4 Zählt die Klägerin nicht zum begünstigten Personenkreis der Familienangehörigen, kann sie sich nicht auf einen rechtmäßigen Aufenthalt iSd Art 7 Z 1 lit d Unionsbürger RL berufen. Ob ihr ihr Stiefsohn ab dem Jahr 2011 tatsächlich Unterhalt geleistet hat, ist nicht maßgeblich. Eine Aufhebung der Rechtssache zu ergänzenden Sachverhaltsfeststellungen erübrigt sich daher.

5. Da das von der Klägerin behauptete Daueraufenthaltsrecht auch nicht aus Art 7 Abs 1 lit d der RL 2004/38/EG (bzw § 52 Abs 1 Z 3 NAG) ableitbar ist, ist ihr Anspruch auf Ausgleichszulage zu verneinen.

Dem Rekurs der beklagten Partei ist daher Folge zu geben und der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass das abweisende Ersturteil wiederhergestellt wird.