JudikaturJustiz10ObS162/93

10ObS162/93 – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Oktober 1993

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Bauer als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter aus dem Kreis der Arbeitgeber Dr.Robert Göstl und Fritz Stejskal in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Johann B*****, vertreten durch Dr.Ingrid Gesselbauer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Bauern, 1031 Wien, Ghegastraße 1, vertreten durch Dr.Herbert Macher, Rechtsanwalt in Wien, wegen Fahrtkostenzuschusses, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 5.Mai 1993, GZ 32 Rs 21/93-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 29.Juli 1992, GZ 19 Cgs 514/92-5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Der Kläger hat die Kosten seines Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Mit Bescheid vom 28.2.1992 lehnte die Beklagte den Antrag des bei ihr krankenversicherten Klägers (vom 27.1.1992) auf Gewährung eines Fahrtkostenzuschusses für die Fahrten am 26.11.1990, 2.1.1991 und 30.1.1991 zu einer Melker Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und am 2. und 5.4.1991 in bzw aus der "niederösterreichischen Landesnervenklinik" Mauer/Amstetten unter Berufung auf § 85 Abs 4 und § 89 Abs 5 BSVG iVm § 21 Abs 1 lit c ihrer Satzung ab. Der Versicherte habe diese Fahrten von seinem Wiener Wohnsitz angetreten, wo sich der nächsterreichbare Vertragsfacharzt für Neurologie und Psychiatrie und die nächsterreichbare Vertragsnervenklinik befänden. Kosten für Fahrten innerhalb des Wiener Ortsgebietes könnten nicht vergütet werden.

Die auf "Vergütung der Reise- und Fahrtkosten" gerichtete Klage stützt sich darauf, daß sich das Aufsuchen der "besonderen" Vertragsfachärztin und der "NÖ Landesnervenklinik" aus dem besonderen Krankheitsverlauf ergeben habe und die Fahrten unumgänglich notwendig gewesen seien.

Die Beklagte beantragte aus den im Bescheid angeführten Gründen die Abweisung des Klagebegehrens.

In der mündlichen Streitverhandlung ergänzte der Kläger, er strebe eine Rekonstruktion des bei einem Autounfall (1983) beschädigten "Cerebralnerven" an. Von seinen behandelnden Ärzten habe er gewußt, daß diese Operation in Wien nicht durchgeführt werde. Er sei der Ansicht gewesen, daß eine solche Rekonstruktion in der "nö Landesnervenklinik" vorgenommen werde, weil dieses Krankenhaus in Niederösterreich allgemein bekannt und er ein geborener Niederösterreicher sei. Eine Krankenschwester habe ihm gesagt, daß eine Melker Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie in dieser Klinik beschäftigt sei. Er habe diese Ärztin daher an den im Bescheid genannten Tagen aufgesucht, um die Zuweisung in diese Klinik zwecks "Cerebralisrekonstruktion" zu erreichen. Die Fachärztin habe ihn auch eingewiesen. Erst während des Klinikaufenthaltes sei ihm bekannt geworden, daß dort grundsätzlich keine Operationen durchgeführt würden.

Das Erstgericht wies das - übrigens unbestimmte (s SSV-NF 5/21) - Klagebegehren ab.

Es stellte im wesentlichen fest, daß der Kläger im Jahre 1982 bei einem schweren Autounfall ua eine Facialisparese erlitt. Zu deren Korrektur suchte er im Juli 1989 die Neurochirurgische Universitätsklinik in Wien auf, wo man ihm erklärte, daß ihm wegen der langen Schädigung und des Umstandes, daß dort Nervenkonstruktionen im Gesichtsbereich nicht durchgeführt würden, nicht geholfen werden könne. An den im Bescheid genannten Tagen suchte er (von Wien aus) die Fachärztin in Melk auf, von der er eine Zuweisung zum (NÖ) Landeskrankenhaus (für Psychiatrie und Neurologie) Mauer bei Amstetten erhielt. Dort befand er sich vom 2. bis 5.4.1991 in stationärer Pflege. Sein Hauptwunsch war eine Facialistransplantation. In mehreren Gesprächen wurde ihm dargelegt, daß das von ihm gewünschte Ergebnis durch eine Facialistransplantation mit größter Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen sei und eine solche Operation in diesem Krankenhaus prinzipiell nicht durchgeführt werden könne. In der Folge beantragte der Kläger bei der Beklagten für die Fahrten nach Melk und Amstetten einen Fahrtkostenzuschuß, wobei er darauf bestand, daß dieser von seinem Hauptwohnsitz in Wien und nicht von seinem Zweitwohnsitz in E***** gezahlt werde.

Das Erstgericht teilte die Rechtsmeinung der Beklagten und konnte keine unumgängliche Notwendigkeit für die Fahrten (von Wien) nach Melk und Mauer bei Amstetten erkennen. Dem Kläger habe auch dort nicht weitergeholfen werden können.

Das Berufungsgericht gab der mit unrichtiger rechtlicher Beurteilung begründeten Berufung des Klägers nicht Folge und sprach aus, daß die Revision zulässig sei.

Auch die zweite Instanz vertrat die Rechtsansicht, daß dem Kläger bei gesetzgemäßer Auslegung des § 21 der Satzung der Beklagten für die im Bescheid genannten Fahrten kein Fahrtkostenersatz gebühre.

In der mit Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung begründeten Revision beantragt der Kläger, das Berufungsurteil im klagestattgebenden Sinn abzuändern oder es, allenfalls auch das Ersturteil, aufzuheben.

Rechtliche Beurteilung

Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.

Die nach § 46 Abs 1 Z 1 ASGG zulässige Revision ist nicht berechtigt.

Die geltend gemachte Mangelhaftigkeit (§ 503 Z 2 ZPO) liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 leg cit). Die in der Berufung unterlassene Rüge eines Mangels des Verfahrens erster Instanz kann auch in einer sozialgerichtlichen Revision nicht nachgeholt werden (stRsp des erkennenden Senates, zB SSV-NF 5/120 mwN).

Auch die Rechtsrüge ist nicht gerechtfertigt.

Nach § 85 Abs 4 BSVG ist im Falle der Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe der Ersatz der Reise(Fahrt)kosten nach Maßgabe der Bestimmungen der Satzung zu gewähren. Bei der Festsetzung des Ausmaßes des Kostenersatzes ist auf die örtlichen Verhältnisse, auf den dem Versicherten für sich ... bei Benützung des billigsten öffentlichen Verkehrsmittels erwachsenden Reisekostenaufwand und auf § 80 Bedacht zu nehmen. ...

§ 21 der Satzung der Beklagten in der auf die vorliegenden Fahrten anzuwendenden Fassung lautet auszugsweise:

"(1) Soweit im folgenden nichts anderes bestimmt, werden Reise(Fahrt)kosten gemäß § 85 Abs 4 BSVG unter Bedachtnahme auf § 80 BSVG für nachstehende Fahrten ersetzt:

b) zur Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe ...;

c) zur und von der nächstgelegenen geeigneten Krankenanstalt ... im

Falle der stationären Pflege;

(3) Für Fahrten gemäß Abs 1 lit b gebührt auch bei Inanspruchnahme

eines Wahlarztes ... höchstens jenes Ersatzausmaß, das bei

Inanspruchnahme des nächsterreichbaren Vertragsarztes ... erwachsen

wäre.

(5) Für Fahrten innerhalb des Ortsgebietes wird kein Ersatz von Reise(Fahrt)kosten geleistet.

Weder die zit Gesetzesstelle noch die wiedergegebenen Satzungsbestimmungen nennen den Ausgangs- bzw Endpunkt der Fahrt zum Arzt oder zum Krankenhaus. Welcher Vertragsarzt der nächsterreichbare und welche Krankenanstalt die nächstgelegene ist, läßt sich nämlich nicht im vornherein festlegen. Insbesondere wäre es nicht sachgerecht, diesbezüglich allein auf den Wohnsitz des Versicherten abzustellen, obwohl von dort aus viele Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhaus angetreten werden. Als Ausgang- und Endpunkt dieser Fahrten wird vielmehr allgemein, also nicht nur in den im § 88 Abs 3 BSVG genannten Fällen (im Inland eintretenden Unfällen, plötzlichen Erkrankungen und ähnlichen Ereignissen), in denen auch ein Zuschuß zu den tatsächlich erwachsenden Kosten einer notwendigen Beförderung in häuslicher Pflege zu leisten ist, der jeweilige Aufenthaltsort des Versicherten anzunehmen sein, in dem die Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe entsteht. Eine solche Notwendigkeit kann ja nicht nur im Wohnsitz auftreten, sondern zB auch am Dienstort, am Urlaubsort oder während einer Reise.

Im vorliegenden Fall ist die unterstellte Notwendigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe durch einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und der Pflege in einer Sonderkrankenanstalt für Psychiatrie und Neurologie nicht im niederösterreichischen Zweitwohnsitz des Klägers, sondern in dessen Hauptwohnsitz in Wien aufgetreten. Daß in der Bundeshauptstadt viele Fachärzte für Psychiatrie und Neurologie ordinieren und daß es dort Sonderkrankenanstalten für Psychiatrie und Neurologie, also zur Feststellung und Behandlung in diese Fachgebiete fallender Zustände des Klägers geeignete Krankenanstalten, gibt, ist allgemein bekannt und damit offenkundig iS des § 269 ZPO. Deshalb sind die genannten Fachärzte und Sonderkrankenanstalten in Wien als nächsterreichbarer bzw nächstgelegene geeignete iS des § 21 der Satzung der Beklagten anzusehen. Bei Inanspruchnahme dieser Einrichtungen wären der Beklagten keine Auslagen für Fahrtkostenersatz erwachsen, weil für Fahrten innerhalb des Ortsgebietes kein Ersatz von Fahrtkosten geleistet wird. Deshalb gebührt dem Kläger für die drei Fahrten von Wien nach Melk und zurück und die eine Fahrt von Wien nach Mauer bei Amstetten und zurück überhaupt kein Fahrtkostenersatz.

Soweit die Satzung der Beklagten im § 21 Abs 3 vorsieht, daß für

Fahrten zur Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe ... auch bei

Inanspruchnahme eines Wahlarztes ... höchstens jenes Ersatzausmaß

gebührt, das bei Inanspruchnahme des nächsterreichbaren Vertragsarztes erwachsen wäre, setzt sie eine Maximalleistung fest, schränkt aber das Recht auf freie Arztwahl nicht ein (s SSV-NF 5/21 mit näherer Begründung zu einer ähnlichen Regelung der Satzung der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse).

Der nicht berechtigten Revision war daher nicht Folge zu geben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.