JudikaturJustiz10ObS100/20h

10ObS100/20h – OGH Entscheidung

Entscheidung
01. September 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Johannes Püller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch Strohmayer Heihs Strohmayer Schlor Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2020, GZ 7 Rs 127/19a-11, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Der am 31. 7. 1975 geborene Kläger bezog bereits von 1. 9. 2003 bis 31. 3. 2018 die Invaliditätspension.

[2] Am 18. 3. 2019 beantragte er die neuerliche Gewährung der Invaliditätspension.

[3] Mit Bescheid vom 20. 3. 2019 lehnte die beklagte Partei den Antrag mangels Erfüllung der Wartezeit ab.

[4] Das Erstgericht wies die Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem 1. 4. 2019 und auf Feststellung der Erfüllung der Wartezeit zum Stichtag 1. 4. 2019 ab.

[5] Es stellte im Wesentlichen fest, dass der Kläger im Zeitraum von Juli 1991 bis einschließlich März 2019 insgesamt 148 für die Wartezeit zu berücksichtigende Versicherungsmonate erworben hat. Seine Versicherungskarriere weist neutrale Monate auf . 107 neutrale Monate liegen im Zeitraum der letzten 120 Kalendermonate vor dem Stichtag. Wird der Beobachtungszeitraum von 120 Kalendermonaten um diese 107 neutralen Monate verlängert, ergibt sich ein Beobachtungszeitraum von 227 Kalendermonaten (Mai 2000 bis einschließlich März 2019). In diesem Zeitraum liegen aber nicht 60 Versicherungsmonate, sondern nur 53 Versicherungsmonate.

[6] Daraus zog das Erstgericht den Schluss, dass die Wartezeit für die Invaliditätspension zum Stichtag 1. 4. 2019 nicht erfüllt sei. Dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 236 Abs 4 ASVG („ewige Anwartschaft“) nicht vorliegen, ist im Revisionsverfahren unstrittig.

[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts. Eine nochmalige Verlängerung des Rahmenzeitraums um die auch in die Verlängerung des Rahmenzeitraums fallenden neutralen Zeiten komme nicht in Betracht. Die im Rechtsmittel ausgeführten verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers seien nicht zu teilen.

[8] In seiner außerordentlichen Revision macht der Kläger – zusammengefasst – geltend, eine verfassungskonforme Auslegung des § 236 Abs 1 Z 1 lit a iVm Abs 2 Z 1 ASVG könne nur ergeben, dass die in den durch neutrale Zeiten erstreckten Rahmenzeitraum fallenden neutralen Zeiten eine weitere Erstreckung des Rahmenzeitraums bewirken. Dies führe zu einem Rahmenzeitraum ab 1. 9. 2003, in den die fehlenden sieben Versicherungsmonate fallen. Eine andere Auslegung dieser Bestimmungen führe zu einer gleichheitswidrigen Schlechterstellung jüngerer (unter 50-jähriger) Pensionsbezieher gegenüber älteren Versicherten, denen ein längerer Rahmenzeitraum zur Verfügung stehe. Eine neuerliche Erstreckung des Rahmenzeitraums entspreche dem Grundsatz der sozialen Rechtsanwendung und der Intention des Gesetzgebers.

[9] Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:

Rechtliche Beurteilung

[10] 1. Ausgehend von dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag 1. 4. 2019 ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Invaliditätspension erfüllt sind (§ 223 Abs 1 Z 2 ASVG).

[11] 1.1 Gemäß § 235 Abs 1 ASVG ist der Anspruch auf jede der im § 222 Abs 1 und 2 ASVG angeführten Leistungen (also auch für die Invaliditätspension) an die allgemeine Voraussetzung geknüpft, dass die Wartezeit durch Versicherungsmonate iSd Abs 2 dieser Bestimmung erfüllt ist (§ 236 ASVG).

[12] 1.2 Gemäß § 236 Abs 1 Z 1 ASVG ist die Wartezeit für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit sowie aus dem Versicherungsfall des Todes bei einem Stichtag vor Vollendung des 50. Lebensjahres bei Vorliegen von 60 Versicherungsmonaten erfüllt. Wenn der Stichtag nach Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, erhöht sich die Wartezeit je nach dem Lebensalter des Versicherten für jeden weiteren Lebensmonat um jeweils einen Monat bis zum Höchstausmaß von 180 Monaten („wachsende Wartezeit“).

[13] Die für die Erfüllung der Wartezeit erforderliche Mindestanzahl von Versicherungsmonaten muss gemäß § 236 Abs 2 ASVG innerhalb der letzten 120 Kalendermonate vor dem Stichtag liegen; dieser Zeitraum verlängert sich, wenn der Stichtag nach Vollendung des 50. Lebensjahres liegt, je nach dem Lebensalter des Versicherten für jeden weiteren Lebensmonat um jeweils zwei Kalendermonate bis zum Höchstausmaß von 360 Kalendermonaten. Fallen in diese Zeiträume gemäß § 236 Abs 2 ASVG neutrale Monate (§ 234 ASVG), so verlängern sich die Zeiträume um diese Monate (§ 236 Abs 3 ASVG). Diese Rahmenfristerstreckung ist in gleicher Weise für unter und über 50 jährige Pensionswerber anzuwenden.

[14] 1.3 Im Einklang mit dieser Rechtslage sind die Vorinstanzen zum Ergebnis gelangt, dass die Wartezeit für die Invaliditätspension für den (zum Stichtag unter 50-jährigen) Kläger nur erfüllt wäre, wenn im Zeitraum von 1. 5. 2000 bis 31. 3. 2019 – dies ist der Zeitraum der letzten 120 Kalendermonate vor dem Stichtag, verlängert um die in diesen Zeitraum fallenden 107 neutralen Monate – mindestens 60 Versicherungsmonate vorlägen.

[15] 2.1 Dass keine nochmalige Verlängerung des Rahmenzeitraums nach § 236 Abs 2 Z 1 ASVG eintritt, auch wenn in die Verlängerung des Rahmenzeitraums neutrale Zeiten fallen, entspricht der ständigen Rechtsprechung (RS0119722; RS0109686 [T2]). Eine in Richtung einer nochmaligen Wartezeitverlängerung gehende Absicht des Gesetzgebers ist weder aus dem Wortlaut des Gesetzes („… fallen in diese Zeiträume gemäß Abs 2 neutrale Monate ...“) noch aus den Materialien (ErläutRV 327 BlgNR 16. GP 24) ableitbar. Sie ist auch im Wege der systematischen oder historisch-teleologischen Auslegung nicht erzielbar (10 ObS 91/17f SSV-NF 31/44).

[16] 2.2 Die vom Kläger mit der Begründung, dass er bereits eine Invaliditätspension bezogen habe, gewünschte Verlängerung des Rahmenzeitraums lässt sich auch nicht aus dem von ihm angesprochenen Grundsatz der sozialen Rechtsanwendung ableiten. Der Versicherte soll durch diesen Grundsatz nur davor geschützt werden, materiell bestehende Ansprüche aus formellen Gründen (etwa infolge einer prozessualen Ungeschicklichkeit) zu verlieren (10 ObS 116/04p SSV-NF 18/78).

[17] 3. Gemäß § 236 Abs 2 Z 2 ASVG erhöht sich mit zunehmendem Lebensalter die Anzahl der für die Erfüllung der Wartezeit erforderlichen Versicherungsmonate schrittweise; parallel dazu erhöht sich die Rahmenfrist für jeden Lebensmonat um zwei Kalendermonate bis zum Höchstausmaß von 360 Kalendermonaten. Bei Erreichung des 65. Lebensjahres beträgt die Wartezeit demnach 180 Versicherungsmonate und die Rahmenfrist 360 Kalendermonate. Der Zweck dieser – mit der 40. ASVG Novelle, BGBl 1984/484, eingeführten – Regelung liegt darin, angesichts des Erfordernisses der Wartezeit von 180 Versicherungsmonaten bei der Alterspension ein „Ausweichen“ von der Alterspension auf Pensionsformen der geminderten Arbeitsfähigkeit mit bis dahin wesentlich kürzeren Wartezeiten zu verhindern ( Panhölzl in SV-Komm § 236 ASVG [206. Lfg] Rz 7). Berücksichtigt man weiters, dass für unter 50-jährige und für über 50-jährige Pensionswerber in gleicher Weise ein Verhältnis zwischen Wartezeit und Rahmenfrist im Sinn einer Hälftedeckung gegeben sein muss, erscheint diese Rechtslage nicht unsachlich und widerspricht nicht dem Gleichheitsgrundsatz des Art 7 Abs 1 B-VG. Die Ausführungen des Revisionswerbers geben daher keinen Anlass, beim Verfassungsgerichtshof den Antrag zu stellen, § 236 ASVG (oder Teile dieser Regelung) wegen der behaupteten Diskriminierung unter 50-jähriger Pensionswerber als verfassungswidrig aufzuheben.

[18] 4. Die Gerichte haben nur die bestehenden Gesetze anzuwenden. Allenfalls als unbefriedigend erachtete Gesetzesbestimmungen zu ändern oder zu beseitigen ist nicht Sache der Rechtsprechung, sondern der Gesetzgebung (RS0009099).

[19] Die Revision ist daher mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.