JudikaturBVwG

W269 2299332-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
17. September 2025

Spruch

W269 2299332-1/25E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Elisabeth MAYER-VIDOVIC als Vorsitzende sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christa KOCHER und Peter STATTMANN als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter ZAWODSKY, gegen den Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX vom 19.06.2024, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 26.08.2024, Zl. XXXX , betreffend die Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes vom 30.04.2024 gemäß § 44 iVm § 46 Abs. 1 AlVG, Art. 1 lit. f iVm Art. 65 Abs. 2 der EG-Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, mangels Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.06.2025 und am 07.08.2025 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und die Beschwerdevorentscheidung gemäß § 28 Abs. 5 VwGVG aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Mit Bescheid des Arbeitsmarktservice XXXX (im Folgenden: AMS) vom 19.06.2024 wurde ausgesprochen, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes vom 30.04.2024 gemäß § 44 iVm § 46 Abs. 1 AlVG, Art. 1 lit. f iVm Art. 65 Abs. 2 der EG-Verordnung Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, mangels Zuständigkeit der regionalen Geschäftsstelle zurückgewiesen werde. Begründend wurde ausgeführt, dass der Wohnsitz und Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers in Tschechien liege und er während seiner letzten Beschäftigung regelmäßig nach Tschechien zurückgekehrt sei. Demnach sei der Beschwerdeführer als „echter“ Grenzgänger zu qualifizieren, für den der Wohnsitzstaat zuständig sei.

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und führte darin zusammengefasst aus, dass sein Lebensmittelpunkt in Österreich liege und er lediglich wegen des Sorgerechtsstreits um seine Kinder einmal pro Woche nach Tschechien gefahren sei.

3. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 26.08.2024 wies das AMS die Beschwerde mit näherer Begründung ab.

4. Am 06.09.2024 stellte der Beschwerdeführer einen Vorlageantrag, woraufhin die Beschwerde unter Anschluss des Verfahrensaktes am 20.09.2024 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt wurde.

5. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.09.2024 wurde dem Beschwerdeführer das Vorlageschreiben der belangten Behörde zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.

6. Am 17.10.2024 langte die mit 09.10.2024 datierte Stellungnahme des Beschwerdeführers bei Gericht ein, in der er zusammengefasst ausführte, dass sein Lebensmittelpunkt in Österreich liege und er mit seinen Töchtern hier leben wolle.

7. Am 12.06.2025 wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführt, zu der der Beschwerdeführer aufgrund eines Gebrechens mit seinem Pkw nicht erschien. Die Verhandlung wurde in Anwesenheit des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers durchgeführt und wurde der vom Beschwerdeführer beantragte Zeuge einvernommen.

8. Zur Einvernahme des Beschwerdeführers und eines weiteren Zeugen wurde die mündliche Verhandlung am 07.08.2025 fortgesetzt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer ist tschechischer Staatsangehöriger.

1.2. Seit dem Jahr 2021 war der Beschwerdeführer immer wieder bei Arbeitgebern in Österreich beschäftigt. Im Zeitraum vom 01.11.2023 bis 30.04.2024 stand er in einem arbeitslosenversicherungspflichtigen Dienstverhältnis zu XXXX GmbH.

1.3. Am 30.04.2024 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes.

1.4. Der Beschwerdeführer wuchs in Tschechien auf. Im Jahr 2008 bezog der Beschwerdeführer zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin den Dachboden des Hauses seiner Eltern an der Adresse XXXX , in Tschechien. In den Jahren 2010 und 2013 wurden die gemeinsamen Töchter geboren. Vor dem Jahr 2013 hielt sich der Beschwerdeführer arbeitsbedingt viel in Deutschland und Frankreich auf. Im Jahr 2013 begann der Beschwerdeführer, Beschäftigungen in Österreich nachzugehen, indem er Autos nach Österreich lieferte. Der Beschwerdeführer verbrachte wenig Zeit zu Hause, es wurden ihm Unterkünfte von den jeweiligen Arbeitgebern im Ausland zur Verfügung gestellt.

Im Jahr 2014 verschlechterte sich die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner damaligen Lebensgefährtin. Diese zog im Jahr 2020 mit den gemeinsamen Töchtern aus dem Elternhaus des Beschwerdeführers aus und lebte fortan mit den Kindern in einem Ort, der sich etwa drei Dörfer weiter weg befindet. Seit der COVID-Pandemie lebten die Kinder dann immer weniger bei ihrer Mutter und deren neuem Freund, sondern hauptsächlich bei den Eltern des Beschwerdeführers. Bereits im Jahr 2022 unternahm der Beschwerdeführer Anstrengungen, um seine Kinder zu sich nach Österreich zu holen.

Im Jänner 2023 stellte sich heraus, dass ein sexueller Missbrauch an den Kindern begangen worden war und wurde Anzeige gegen die Mutter der Kinder und gegen deren Freund erstattet. Ein Strafverfahren wurde eröffnet und Sorgerechtsüberprüfungen fanden statt. Die Kinder lebten fortan nur noch bei den Eltern des Beschwerdeführers. Am 03.04.2024 wurde dem Beschwerdeführer das Sorgerecht gerichtlich zugesprochen, jedoch erhob die Mutter der Kinder Berufung. Mitte Mai 2025 wurde die Berufung durch die Mutter zurückgezogen, sodass der Beschwerdeführer nunmehr alleine sorgeberechtigt ist.

In der Zeit der Beschäftigung bei XXXX GmbH von 01.11.2023 bis 30.04.2024 (und darüber hinaus) nahm der Beschwerdeführer zahlreiche Termine im Rahmen des Strafverfahrens und des Sorgerechtsstreits wahr.

1.5. Im November 2024 teilte der Beschwerdeführer seinen Eltern, bei denen die beiden Töchter nunmehr lebten, mit, dass er die Kinder bald zu sich nach Österreich nehmen werde. Dies missfiel den Eltern, da diese damit gerechnet hatten, dass der Beschwerdeführer nach Tschechien zurückkehren und sich im Alter um seine Eltern kümmern werde. Seitdem besteht kein gutes Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Eltern.

Mit seiner Schwester, die in Tschechien lebt, hat der Beschwerdeführer ebenfalls kein gutes Verhältnis.

1.6. Seit 2021 arbeitet der Beschwerdeführer nunmehr wieder in Österreich. Er wohnt an der Adresse XXXX . Seit 11.05.2021 ist der Beschwerdeführer an dieser Adresse mit Nebenwohnsitz gemeldet. Es handelt sich dabei um ein Zimmer in einem Gasthaus, welches der Beschwerdeführer privat angemietet hat. Das Zimmer ist etwa 40 m2 groß und verfügt über ein Vorzimmer, Bad und WC. Vom Vermieter wurde lediglich ein Bett und ein Kasten zur Verfügung gestellt, die anderen Möbel hat der Beschwerdeführer selbst angeschafft. Im Zimmer befindet sich ein Mikrowellenherd. Der Beschwerdeführer benutzt die Gemeinschaftsküche der Hausbewohner, in der an mehreren Tagen in der Woche gemeinsam gegessen wird, den Aufenthaltsraum mit Essbereich sowie die Waschküche. Die Zimmerreinigung nimmt der Beschwerdeführer selbst vor, ebenso verwendet er eigene Bettwäsche.

1.7. Der Beschwerdeführer verfügte bereits zur Zeit seiner Beschäftigung bei XXXX GmbH im Zeitraum vom 01.11.2023 bis 30.04.2024 über einen Freundeskreis in Österreich, der hauptsächlich aus Arbeitskollegen bestand. Daneben pflegte (und pflegt) der Beschwerdeführer engere Kontakte zu den Personen, die in derselben Pension leben wie er. Weiters nimmt der Beschwerdeführer an Veranstaltungen im Ort, zB am Feuerwehrfest, teil. Er verfügt über ein Fahrrad, mit dem er Ausflüge unternimmt.

1.8. In Tschechien verfügt der Beschwerdeführer über keine eigene Unterkunft. Wenn er im Zusammenhang mit seinen Kindern Termine in Tschechien wahrnehmen musste, übernachtete er bei seinen Eltern.

Im Jahr 2024 hatte der Beschwerdeführer eine in Tschechien lebende Freundin, die er oft in Österreich getroffen hat.

1.9. Der Beschwerdeführer hat ein österreichisches Bankkonto, über ein tschechisches Bankkonto verfügt er hingegen nicht.

1.10. Mit seiner Bankbetreuerin in Österreich ist der Beschwerdeführer seit Juli 2023 in enger Absprache hinsichtlich der Aufnahme eines Kredits, sobald seine Töchter bei ihm in Österreich aufhältig sind. Um seine Kinder zu sich zu holen, befindet sich der Beschwerdeführer in engem Austausch mit einem ihm bekannten Lehrer in XXXX , der ihm bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz für seine ältere Tochter behilflich ist.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit gründen auf dem Akteninhalt.

2.2. Die Feststellungen zu den Arbeitsverhältnissen in Österreich sowie zur arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigung bei XXXX GmbH im Zeitraum vom 01.11.2023 bis 30.04.2024 ergeben sich aus dem Akteninhalt sowie dem Versicherungsdatenauszug.

2.3. Dass der Beschwerdeführer am 30.04.2024 einen Antrag auf Zuerkennung des Arbeitslosengeldes stellte, ist aktenkundig.

2.4. Sämtliche Feststellungen zum Aufwachsen des Beschwerdeführers in Tschechien, zu seinem weiteren Leben mit seiner damaligen Freundin und den gemeinsamen Töchtern, zu seinen Beschäftigungsverhältnissen im Ausland sowie zum sexuellen Missbrauch an den Töchtern und den damit verbundenen Verfahren beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers, die er in der mündlichen Verhandlung am 07.08.2025 tätigte.

2.5. Dass der Beschwerdeführer weder zu seinen Eltern noch zu seiner Schwester ein gutes Verhältnis hat, gab dieser in der mündlichen Verhandlung vom 07.08.2025 zu Protokoll.

2.6. Dass der Beschwerdeführer an der Unterkunft in Österreich seit 11.05.2021 mit Nebenwohnsitz gemeldet ist, ergibt sich aus dem ZMR-Auszug. Die Feststellungen zum angemieteten Zimmer des Beschwerdeführers in Österreich gründen auf den Ausführungen des Beschwerdeführers und des als Zeugen einvernommenen Unterkunftsgebers.

2.7. Dass der Beschwerdeführer bereits zur Zeit seiner Beschäftigung bei XXXX GmbH im Zeitraum vom 01.11.2023 bis 30.04.2024 über einen Freundeskreis in Österreich verfügte, Veranstaltungen in seinem Wohnort besucht und Ausflüge mit seinem Fahrrad unternimmt, ergibt sich einerseits aus den Angaben des Beschwerdeführers und wird auch durch die Ausführungen des Unterkunftsgebers und des in der Verhandlung vom 12.06.2025 als Zeugen einvernommenen Freundes des Beschwerdeführers untermauert.

2.8. Dass der Beschwerdeführer in Tschechien keine eigene Unterkunft hat und stets bei seinen Eltern übernachtet, wenn er sich in Tschechien aufhält, gründet auf den glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2024 eine in Tschechien lebende Freundin hatte, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers, der dazu näher ausführte, dass die damalige Freundin gesundheitliche Probleme hatte und nicht arbeitete, weshalb sie den Beschwerdeführer oft in Österreich besuchte.

2.9. Dass der Beschwerdeführer kein tschechisches, sondern lediglich ein österreichisches Bankkonto hat, beruht auf den Ausführungen des Beschwerdeführers.

2.10. Dass sich der Beschwerdeführer mit seiner Bankbetreuerin in Österreich seit Juli 2023 in enger Absprache hinsichtlich der Aufnahme eines Kredits befindet, sobald seine Töchter bei ihm in Österreich aufhältig sind, sowie dass er sich im Austausch mit einem ihm bekannten Lehrer in XXXX steht, der ihm bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz für seine ältere Tochter behilflich ist, ergibt sich aus den Ausführungen des Beschwerdeführers. Im Akt liegt weiters eine Mitteilung der Bankbetreuerin des Beschwerdeführers ein, in welcher sie bestätigt, dass der Beschwerdeführer seit Juli 2023 wiederholt mit ihr darüber gesprochen habe, dass er seine Kinder nach Österreich holen wolle, sobald das Sorgerechtsverfahren abgeschlossen sei. Aus der Bestätigung geht ferner hervor, dass der Beschwerdeführer gegenüber seiner Bankbetreuerin mehrmals erwähnt habe, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Österreich sehe und er seinen Hauptwohnsitz nach Österreich verlegen wolle, was jedoch wegen des Sorgerechtsstreits nicht möglich gewesen sei. Auch habe der Beschwerdeführer angefragt, die Kinder in die in Österreich abgeschlossene Unfallversicherung miteinzubeziehen, was nicht möglich gewesen sei, weil die Kinder bei der Mutter gemeldet gewesen seien.

Das Gericht hegt keinen Zweifel an der vorgelegten Bestätigung, zumal auch den Ausführungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung durchwegs zu entnehmen war, dass er Tschechien den Rücken gekehrt habe. Der Beschwerdeführer beschrieb eindrücklich, dass er von den Behörden in Tschechien enttäuscht sei und sich sehnlichst wünsche, dass seine Kinder bei ihm in Österreich leben können. Für den erkennenden Senat entstand der Eindruck, dass den Beschwerdeführer – bereits im maßgeblichen Zeitraum seiner letzten Beschäftigung – nichts mehr in seinem Heimatland Tschechien gehalten hat. Aufgrund der zu Tage getretenen Ereignisse rund um seine ehemalige Lebensgefährtin und deren neuen Freund sowie des zerrütteten Verhältnisses zu seinen Eltern und der Schwester ist nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensmittelpunkt nicht mehr im ursprünglichen Heimatland sah.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) 883/2004 unterliegt eine Person (grundsätzlich) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem sie eine Beschäftigung ausübt (lex loci laboris). Der für Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat ist somit der Mitgliedstaat, in dem zuletzt eine Beschäftigung ausgeübt worden ist, sodass grundsätzlich dieser Mitgliedstaat diese Leistungen zu gewähren hat (vgl. die zu Art. 13 Abs. 2 lit. a der Verordnung Nr. 1408/71 ergangenen Urteile des EuGH vom 07.03.1985, Rs 145/84, Cochet, Rn 14, vom 13.03.1997, Rs C-131/95, Huijbrechts, Rn 24 bis 26, und vom 06.11.2003, C-311/01, Königreich Niederlande; vgl. grundsätzlich zur Ermittlung der Zuständigkeit nach der neuen Rechtslage Vießmann, Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten gemäß Verordnung (EG) Nr. 883/2004 im Fall der Vollarbeitslosigkeit de lege lata – neuere Entwicklungen, ZESAR 2015, S 149 ff, 200 ff).

Allerdings sieht die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 u.a. für Arbeitslose, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat (in einem anderen als dem Beschäftigungsmitgliedstaat) gewohnt haben, Ausnahmen von diesem Grundsatz vor. So unterliegt eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates (iSd Art. 65 Abs. 2 iVm Art. 1 lit. r und s der Verordnung (EG) Nr. 883/2004) Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 65 der Verordnung (EG) 883/2004 erhält, gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. c der Verordnung (EG) 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (lex domicilii). Personen im genannten Sinnzusammenhang sind insbesondere Grenzgänger und Nicht-Grenzgänger (siehe unten), die jeweils während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt haben.

Gemäß Art. 1 lit. f der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bezeichnet der Ausdruck „Grenzgänger“ eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (iSd Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004), in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt (ein Grenzgänger im genannten Sinn wird in Judikatur und Schrifttum oft als „echter Grenzgänger“ bezeichnet).

Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie nicht mindestens einmal wöchentlich zurückkehrt, ist unter diesen Bedingungen in der Terminologie des Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 „kein Grenzgänger“ bzw. ein „Nicht-Grenzgänger“ (ein solcher wird in Judikatur und Schrifttum oft als „unechter Grenzgänger“ bezeichnet).

Zu Art. 65 Abs. 2 zweiter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004, wonach sich ein vollarbeitsloser Arbeitnehmer (nämlich der weiterhin im Wohnmitgliedstaat wohnende Grenzgänger oder der in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrende Nicht-Grenzgänger) zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Beschäftigungsmitgliedstaats zur Verfügung stellen kann, hat der EuGH klargestellt, dass sie einem Arbeitnehmer, der zum Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, die Möglichkeit bietet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des betreffenden Staates zur Verfügung zu stellen, aber nicht, um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, sondern nur, um dort Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch zu nehmen (vgl. das Urteil des EuGH vom 11.04.2013, Rs C-443/11, Jeltes ua., Rn 36).

Voraussetzung für den in Art. 65 Abs. 2 und 5 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ausnahmsweise vorgesehenen Statutenwechsel – also den Wechsel der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates bzw. der anzuwendenden Rechtsvorschriften – ist sowohl für den weiterhin im Wohnmitgliedstaat wohnenden Grenzgänger als auch für den in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrenden Nicht-Grenzgänger, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der (voll)arbeitslosen Person zum Zeitpunkt des Endes der Beschäftigung auseinandergefallen sind (vgl. VwGH 28.01.2015, 2013/08/0074, mwN).

Ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger, der während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat, muss sich entweder gemäß Art. 65 Abs. 2 erster Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung seines Wohnmitgliedstaats, wenn er dorthin zurückkehrt, oder, wenn er nicht dorthin zurückkehrt, gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Arbeitsverwaltung des letzten Mitgliedstaates, in dem er beschäftigt war, zur Verfügung stellen (vgl. das Urteil des EuGH vom 11.04.2013, Rs C-443/11, Jeltes ua., Rn 27, mit Anm. Spiegel, DRdA 2013).

Kehrt der Nicht-Grenzgänger (vorerst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurück, ist gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Beschäftigungsmitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, der die Leistungen nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erbringt (vgl. dazu VwGH 02.06.2016, Ra 2016/08/0046; 06.07.2016, Ra 2015/08/0140; 01.08.2016, Ra 2016/08/0106; 10.08.2016, Ro 2016/08/0015).

Wie bereits ausgeführt, erhält gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der in Abs. 2 erster und zweiter Satz leg. cit. genannte Arbeitnehmer (also insbesondere auch der Nicht-Grenzgänger, der in den Wohnmitgliedstaat zurückkehrt) Leistungen – und somit Arbeitslosenunterstützung – nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. In Anbetracht dieser – nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erfolgenden – Leistungserbringung ist der zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Wohnmitgliedstaat.

Ist ein vollarbeitsloser Nicht-Grenzgänger, der während seiner letzten Beschäftigung in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat, (zunächst) nicht in den Wohnmitgliedstaat zurückgekehrt, sondern hat er sich gemäß Art. 65 Abs. 2 dritter Satz der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 (zunächst) der Arbeitsverwaltung des letzten Mitgliedstaates, in dem er beschäftigt war, zur Verfügung gestellt und (zunächst) von diesem zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat Leistungen bezogen, so erhält er gemäß Art. 65 Abs. 5 lit. b iVm lit. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 bei seiner späteren Rückkehr in den Wohnmitgliedstaat (vgl. zur ausnahmsweisen Möglichkeit aufeinanderfolgender Leistungszuständigkeiten bei Nicht-Grenzgängern EuGH 08.07.1992, C-102/91 (Knoch), Rz 30 ff, sowie VwGH 29.06.1999, 98/08/0274) zunächst Leistungen nach Art. 64 (wie wenn sich eine vollarbeitslose Person zur Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben würde), dann jedoch Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. In Anbetracht dieser – nach den weiteren Regelungen der Art. 61 und 62 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 erfolgenden – Leistungserbringung ist der zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 3 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Wohnmitgliedstaat.

Als Wohnort gilt nach Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person. Eine Person kann nur einen (einzigen) Wohnort in diesem Sinn haben (vgl. EuGH 16.05.2013, C-589/10 (Wencel), Rz 51). Der Wohnort ist – im Gegensatz zum „vorübergehenden Aufenthalt“ iSd des Aufenthaltsbegriffs des Art. 1 lit. k der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – nach der Rechtsprechung des EuGH dadurch gekennzeichnet, dass es sich um den Ort handelt, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen der betreffenden Person befindet (vgl. nochmals VwGH 28.01.2015, 2013/08/0074, mwN).

Die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nach einem beweglichen System zu berücksichtigenden Kriterien zur Feststellung des Wohnorts bzw. des gewöhnlichen Mittelpunkts der Interessen der betreffenden Person sind somit insbesondere die familiären Verhältnisse (z.B. der Wohnort der Familie), die Qualität und Kontinuität des Wohnens und der sonstigen Lebensumstände im präsumtiven Wohnmitgliedstaat bis zur Abwanderung, die Gründe für die Abwanderung, die Art und die Dauer der Tätigkeit (z.B. Saisonarbeit, befristete Beschäftigung) sowie die Wohn- und Lebensverhältnisse der betreffenden Person im Beschäftigungsmitgliedstaat (vgl. nochmals VwGH 28.01.2015, 2013/08/0074, mwN).

3.2. Bezogen auf den vorliegenden Fall bedeutet dies Folgendes:

3.2.1. Zur Bestimmung des Wohnortes:

Der Beschwerdeführer war bereits Jahre vor der gegenständlichen Beschäftigung immer wieder über lange Zeiträume im Ausland beruflich tätig und verbrachte nur wenig Zeit in seinem Heimatland.

Hinsichtlich der Wohnsituation des Beschwerdeführers in Österreich hat sich im Beweisverfahren ergeben, dass der Beschwerdeführer bereits seit Mai 2021 (sohin auch während der gegenständlichen Beschäftigung und darüber hinaus) ein Zimmer eines Gasthauses bewohnt, das etwa 40 m2 groß ist und neben einem Vorzimmer auch über Bad und WC verfügt. Der Beschwerdeführer schaffte eigene Möbel für dieses Zimmer an, verwendet seine eigene Bettwäsche und besorgt die Zimmerreinigung selbst. Seit Mai 2021 ist er an dieser Adresse auch mit Nebenwohnsitz gemeldet (wenngleich dem Umstand einer Meldung als Nebenwohnsitz für sich allein genommen keine maßgebliche Bedeutung zukommt; vgl. VwGH 19.12.2017, Ra 2017/08/0027).

Demgegenüber verfügt der Beschwerdeführer in seinem Heimatland Tschechien über keine eigene Wohnmöglichkeit. Wenn er sich in Tschechien aufhält, nächtigt er bei seinen Eltern. Eine Miet- oder gar Eigentumswohnung hat der Beschwerdeführer in Tschechien nicht.

Zu den familiären Verhältnissen des Beschwerdeführers ist auszuführen, dass zwar seine Töchter und Eltern sowie seine Schwester nach wie vor in Tschechien leben. Wie ausgeführt, hat der Beschwerdeführer jedoch weder zu seinen Eltern noch zu seiner Schwester ein gutes Verhältnis. Angesichts der strafrechtlich relevanten Vorfälle rund um seine Töchter konnte der Beschwerdeführer nachvollziehbar zum Ausdruck bringen, dass er seine Kinder zu sich nach Österreich holen wolle und ihn nichts mehr in Tschechien halte. Diesbezüglich hat der Beschwerdeführer auch schon viele Vorkehrungen getroffen, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Der Beschwerdeführer baute sich in Österreich ein Privatleben mitsamt einem Freundeskreis und einem sozialen Netzwerk auf. Dies zeigt sich auch darin, dass er in engem Austausch mit einem ihm bekannten Lehrer in XXXX steht, der ihm bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz für seine ältere Tochter behilflich ist. Zur Zeit der letzten Beschäftigung hatte der Beschwerdeführer eine in Tschechien wohnhafte Freundin, mit der die Treffen jedoch häufig in Österreich stattfanden. Zu erwähnen ist schließlich, dass der Beschwerdeführer lediglich über ein österreichisches Bankkonto verfügt, ein tschechisches Bankkonto hat er nicht.

In einer Gesamtschau der nach der Judikatur zu würdigenden Umstände ergibt sich sohin für den erkennenden Senat, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Beschwerdeführers in Österreich liegt. Der Wohnort des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist somit Österreich.

3.2.2. Da sohin der Wohnmitgliedstaat (Österreich) und der Beschäftigungsmitgliedstaat (Österreich) derselbe ist, liegt keine Konstellation einer Grenzgängereigenschaft vor und Österreich ist als Beschäftigungsmitgliedstaat für die inhaltliche Beurteilung des Antrages des Beschwerdeführers auf Arbeitslosengeld zuständig.

Das AMS hat somit den Antrag des Beschwerdeführers zu Unrecht zurückgewiesen, sodass der Beschwerde spruchgemäß stattzugeben und die Beschwerdevorentscheidung, die dem Ausgangsbescheid endgültig derogiert hat, aufzuheben ist (vgl. VwGH vom 17.12.2015, Ro 2015/08/0026).

3.3. Da der Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens nur die Zurückweisung des Antrags durch das AMS ist und das BVwG abgesehen davon gegenständlich auch nicht selbst beurteilen könnte, ob die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld vorliegen, ist mit der spruchgemäßen Behebung der rechtswidrigen Zurückweisung vorzugehen (vgl. dazu auch VwGH 02.06.2016, Ra2016/08/0046).

Es ist darauf hinzuweisen, dass das AMS gem § 28 Abs. 5 VwGVG in der Folge verpflichtet ist, in der betreffenden Rechtssache unverzüglich den der Rechtsanschauung des BVwG entsprechenden Rechtszustand herzustellen, was im konkreten Fall bedeutet, dass über den Antrag des Beschwerdeführers auf Arbeitslosengeld inhaltlich zu entscheiden ist.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision

3.8. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausschluss der aufschiebenden Wirkung auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde unter Punkt II.3. wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes auf die inhaltlich vergleichbaren Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.