JudikaturBVwG

W153 2266556-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
30. April 2025

Spruch

W153 2266556-1 /10E

Schriftliche Ausfertigung des am 10.03.2025 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christoph KOROSEC als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch den Obsorgeberechtigten XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.12.2022, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.03.2025, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) reiste im November 2021 illegal nach Österreich ein, wo er am 30.11.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

In seiner am selben Tag erfolgten Erstbefragung gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass er Syrien wegen dem Krieg und der Flugzeugangriffe verlassen habe. In Falle einer etwaigen Rückkehr habe er Angst vor dem Krieg und dem Tod.

Am 11.11.2022 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Er führte zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen aus, dass er seinen Herkunftsstaat wegen dem Regime und der iranischen Milizen verlassen habe, die sie rekrutieren wollten. Sie seien zu den Häusern gegangen und hätten Kinder rekrutiert. Zu seinem Wohnsitz sei jedoch niemand gekommen. Sein Vater habe aber von den mutmaßlichen Rekrutierungen gehört und gesagt, er solle ausreisen. Seine vier Onkel väterlicherseits seien desertiert und ein Onkel mütterlicherseits sei vom syrischen Regime festgenommen worden, seither würden sie von ihm nichts mehr wissen. Im Falle der Rückkehr würde er am Flughafen inhaftiert werden, weil er Syrien verlassen habe. Er fürchte auch die iranische Miliz. Die ganze Familie werde gesucht, weil sie desertiert seien und außerhalb des syrischen Regimegebiets gelebt hätten.

Mit Bescheid vom 20.12.2022 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.) Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigen zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 8 Abs 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das BFA zusammengefasst und soweit verfahrensrelevant aus, dass der BF minderjährig und nicht im wehrdienstfähigen Alter sei, womit eine Verfolgung in diesem Zusammenhang durch die syrischen Behörden vor der Ausreise ausgeschlossen werden könne. Sonstige persönliche Verfolgungsszenarien durch die syrischen Behörden seien nicht dargelegt worden. Die Ausführungen hinsichtlich der Rekrutierung von Kindern durch iranische Milizen in seiner Herkunftsregion würden allgemeine Umstände darstellen. Der BF habe verneint, deshalb jemals einer persönlichen Gefahr ausgesetzt gewesen zu sein. Er hätte weiters angegeben, dass sein Vater davon gehört hätte und er sei daher außer Landes geschickt worden. Die Ausführungen bezüglich der Desertationen seiner Onkel würden für den BF keine persönliche Bedrohung darstellen. Aufgrund seiner Minderjährigkeit unterläge der BF im Falle der Rückkehr keiner Militärpflicht und wäre somit von keiner Verfolgung durch das syrische Regime bedroht. Eine Generalmobilmachung des Militärs finde derzeit ohnedies nicht statt. Die Angaben zu den iranischen Milizen bezögen sich auf die allgemeine Sicherheitslage in der Herkunftsregion und würden kein Indiz für eine persönliche Verfolgung oder Inhaftierungsgefahr darstellen. Eine Verfolgung durch regierungsfeindliche Gruppierungen hätte der BF nicht darlegen können und es sei im Falle der Rückkehr auch nicht mit einer solchen zu rechnen. Gemäß seinen Aussagen würde die Kernfamilie in Syrien leben, zu der über WhatsApp Kontakt bestehe.

Gegen den Spruchpunkt I. des verfahrensgegenständlichen Bescheides erhob der BF im Wege seiner Rechtsvertretung mit Schriftsatz vom 13.01.2023 Beschwerde.

Inhaltlich wurde zusammengefasst vorgebracht, dass Kinder in Syrien von verschiedenen Formen der Ausbeutung und Gewalt betroffen seien, wovon die Rekrutierung zum direkten Einsatz in Kampfhandlungen umfasst sei. Zwangsrekrutierungen beschränkten sich nicht auf die aktive Teilnahme an Kämpfen, sondern würden auch verschiedene Hilfstätigkeiten für die Bürgerkriegsparteien, wie Transportdienste, Reinigung, Befestigungs- und Bewachungstätigkeiten inkludieren. Gerade in der Herkunftsregion des BF sei Kinderarbeit besonders weit verbreitet. Menschen, die in ehemals oppositionell besetzten Gebieten leben würden, seien einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt, weil ihnen vom syrischen Regime eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werde. Auch Rückkehrern werde – insbesondere nach der Asylantragstellung im Ausland – eine oppositionelle Gesinnung unterstellt. Bereits an den Grenzübergängen oder am Flughafen von Damaskus wären Rückkehrer der Gefahr willkürlicher Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt und würden überhaupt daran gehindert in ihr Heimatgebiet zurückzukehren. Die reelle Gefahr von Folter oder unmenschlicher Behandlung bestehe grundsätzlich für alle Personen, die nach Syrien zurückkehren. Auch Angehörige von Wehrdienstverweigerern sähen sich mit Verfolgungshandlungen konfrontiert. Kinder würden überdies von UNHCR ausdrücklich als soziale Gruppe im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) angesehen.

Am 10.03.2025 fand am Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der der BF im Beisein seines Obsorgeberechtigten und seiner Rechtsvertretung teilnahmen. Das BFA entschuldigte sich mit Schreiben vom 03.03.2025 für den Verhandlungstermin.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer (BF) ist syrischer Staatsbürger und reiste im November 2021 als Minderjähriger illegal in das Bundesgebiet ein. Der BF stellte am 30.11.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 20.12.2022 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem BF den Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

Der BF stammt aus XXXX , ist Angehöriger der arabischen Volksgruppe und der sunnitischen Richtung des Islam. Seine Identität steht aufgrund des Fehlens von unbedenklichen Originaldokumenten nicht fest.

Der BF lebte bis Sommer 2020 bei seiner Familie in Syrien. Er verbrachte dann rund ein Jahr in der Türkei und reiste dann illegal in die europäische Union ein.

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Perg vom 14.09.2022 (GZ: 3 Ps 146/22b-4) wurde dem Onkel XXXX die alleinige Obsorge der mj. Beschwerdeführer übertragen. Der Obsorge berechtigte hat in Österreich subsidiären Schutz. Seine Beschwerde gegen die Abweisung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14.11.2024, GZ: XXXX wurde rechtskräftig abgewiesen.

Der BF lebt mit dem Obsorgeberechtigten und einem Cousin in einem gemeinsamen Haushalt. Er erhält staatliche Unterstützung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Der BF macht derzeit den Pflichtschulabschluss.

In Syrien leben die Eltern sowie sämtliche Geschwister. Zu sämtlichen Familienmitgliedern besteht grundsätzlich Kontakt.

Festgestellt wird, dass die Angabe, der BF stehe seit ca. einer Woche mit niemandem mehr von der Familie in Kontakt, unglaubwürdig ist und als Steigerung seines Fluchtvorbringens gewertet wird.

Es wird festgestellt, dass der BF eine individuelle Verfolgungsgefahr im Herkunftsstaat Syrien nicht glaubhaft machen konnte bzw. individuelle Verfolgungsgründe nicht plausibel behauptet hat. Er konnte nicht glaubwürdig darlegen, dass er aktuell in das Blickfeld der syrischen Regierung oder anderer Konfliktparteien geraten ist.

Der BF ist 16 Jahre. Derzeit gibt es keine Hinweise auf eine allgemeine Wehrpflicht oder eine Zwangsrekrutierung. Der erst in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Fluchtgrund, er würde nunmehr von seinem Stamm als Kind zwangsrekrutiert werden und es sei in Moscheen der „Djihad“ ausgerufen worden, ist in keiner Weise substantiiert und wird als reine Steigerung seines Fluchtvorbingens gewertet.

Der BF hat 2020, mit 11 Jahren, Syrien verlassen. Die Heimatregion der BF steht nunmehr unter der Herrschaft der neuen syrischen Regierung. Der BF hat keine offen oppositionelle Einstellung gegenüber der neuen Regierung dargelegt.

Es konnte auch keine Verletzung des Kindeswohl festgestellt werden. Der BF hat bis dato immer im Verband der Großfamilie (in Österreich Onkeln und Cousins) gelebt und es besteht keine Gefahr, dass er von dieser unfreiwillig getrennt und alleine in sein Heimatland zurückgeschickt wird und dort alleine sein Leben fristen muss.

Es wird somit festgestellt, dass eine konkrete asylrelevante Gefährdung nicht dargelegt wurde.

Dem BF droht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch den syrischen Staat oder durch Mitglieder regierungsfeindlicher oder –freundlicher (bewaffneter) Gruppierungen.

Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat:

Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen durch die Kurzinformation der Staatendokumentation zu Syrien vom 10.12.2024 zur Sicherheitslage und zur politischen Lage in Syrien wiedergegeben:

1. Zusammenfassung der Ereignisse

Nach monatelanger Vorbereitung und Training (NYT 1.12.2024) starteten islamistische Regierungsgegner unter der Führung der Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) (Standard 1.12.2024) die Operation „Abschreckung der Aggression“ – auf نن Arabisch: ردع العدوا - Rad’a al-‘Adwan (AJ 2.12.2024) und setzten der Regierung von

Präsident Bashar al-Assad innerhalb von 11 Tagen ein Ende. Die folgende Karte zeigt die Gebietskontrolle der einzelnen Akteure am 26.11.2024 vor Beginn der Großoffensive:

Am 30.11. nahmen die Oppositionskämpfer Aleppo ein und stießen weiter in Richtung der Stadt Hama vor, welche sie am 5.12. einnahmen. Danach setzten sie ihre Offensive in Richtung der Stadt Homs fort (AJ 8.12.2024). Dort übernahmen sie die Kontrolle in der Nacht vom 7.12. auf 8.12. (BBC 8.12.2024).

Am 6.12. zog der Iran sein Militärpersonal aus Syrien ab (NYT 6.12.2024). Russland forderte am 7.12. seine Staatsbürger auf, das Land zu verlassen (FR 7.12.2024). Am7.12. begannen lokale Milizen und Rebellengruppierungen im Süden Syriens ebenfalls mit einer Offensive und nahmen Daraa ein (TNA 7.12.2024; Vgl. AJ 8.12.2024), nachdem sie sich mit der Syrischen Arabischen Armee auf deren geordneten Abzug geeinigt hatten (AWN 7.12.2024). Aus den südlichen Provinzen Suweida und Quneitra zogen ebenfalls syrische Soldaten, sowie Polizeichefs und Gouverneure ab (AJ 7.12.2024). Erste Oppositionsgruppierungen stießen am 7.12. Richtung Damaskus vor (AJ 8.12.2024). Am frühen Morgen des 8.12. verkündeten Medienkanäle der HTS, dass sie in die Hauptstadt eingedrungen sind und schließlich, dass sie die Hauptstadt vollständig unter ihre Kontrolle gebracht haben (Tagesschau 8.12.2024). Die Einnahme Damaskus’ ist ohne Gegenwehr erfolgt (REU 9.12.2024), die Regierungstruppen hatten Stellungen aufgegeben, darunter den Flughafen (Tagesschau 8.12.2024). Das Armeekommando hatte die Soldaten außer Dienst gestellt (Standard 8.12.2024).

Russland verkündete den Rücktritt und die Flucht von al-Assad (BBC 8.12.2024). Ihm und seiner Familie wurde Asyl aus humanitären Gründen gewährt (REU 9.12.2024).

Kurdisch geführte Kämpfer übernahmen am 6.12.2024 die Kontrolle über Deir ez-Zour im Nordosten Syriens, nachdem vom Iran unterstützte Milizen dort abgezogen waren (AJ 7.12.2024), sowie über einen wichtigen Grenzübergang zum Irak. Sie wurden von den USA bei ihrem Vorgehen unterstützt (AWN 7.12.2024).

Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppierungen unter dem Namen Syrian National Army (SNA) im Norden Syriens starteten eine eigene Operation gegen die von den Kurden geführten Syrian Democratic Forces (SDF) im Norden von Aleppo (BBC 8.12.2024). ج فف ج Im Zuge der Operation „Morgenröte der Freiheit“ (auf Arabisch رال ر ح ة يية - Fajr al-Hurriya) nahmen diese Gruppierungen am 9.12.2024 die Stadt Manbij

ein (SOHR 9.12.2024). Die Kampfhandlungen zwischen Einheiten der durch die Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA) auf der einen Seite und den SDF auf der anderen Seite dauerten danach weiter an. Türkische Drohnen unterstützten dabei die Truppen am Boden durch Luftangriffe (SOHR 9.12.2024b).

Die untere Karte zeigt die Gebietskontrolle der Akteure mit Stand 10.12.2024:

Der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge sind seit Beginn der Offensive 910 Menschen ums Leben gekommen, darunter 138 Zivilisten (AAA 8.12.2024). Beim Vormarsch auf Homs waren tausende Menschen Richtung Küste nach Westen geflohen (AJ 6.12.2024). Bei der Offensive gegen Manbij wurden hingegen einige Zivilisten in Richtung Osten vertrieben (SOHR 9.12.2024).

In Damaskus herrschte weit verbreitetes Chaos nach der Machtübernahme durch die Opposition. So wurde der Sturz von Assad mit schweren Schüssen gefeiert und Zivilisten stürmten einige staatliche Einrichtungen, wie die Zentralbank am Saba-Bahrat-Platz, das Verteidigungsministerium (Zivilschutz) in Mleiha und die Einwanderungs- und Passbehörde in der Nähe von Zabaltani, außerdem wurden in verschiedenen Straßen zerstörte und brennende Fahrzeuge gefunden (AJ 8.12.2024b). Anführer al-Joulani soll die Anweisung an die Oppositionskämpfer erlassen haben, keine öffentlichen Einrichtungen anzugreifen (8.12.2024c) und erklärte, dass die öffentlichen Einrichtungen bis zur offiziellen Übergabe unter der Aufsicht von Ministerpräsident Mohammed al-Jalali aus der Assad-Regierung bleiben (Rudaw 9.12.2024).

Gefangene wurden aus Gefängnissen befreit, wie aus dem berüchtigten Sedanaya Gefängnis im Norden von Damaskus (AJ 8.12.2024c).

2. Die Akteure

Syrische Arabische Armee (SAA): Die Syrische Arabische Armee kämpfte gemeinsam mit den National Defense Forces, einer regierungsnahen, paramilitärischen Gruppierung. Unterstützt wurde die SAA von der Hisbollah, Iran und Russland (AJ 8.12.2024).

Die Einheiten der syrischen Regierungstruppen zogen sich beim Zusammenstoß mit den Oppositionskräften zurück, während diese weiter vorrückten. Viele Soldaten flohen oder desertierten (NZZ 8.12.2024). In Suweida im Süden Syriens sind die Soldaten der Syrischen Arabischen Armee massenweise desertiert (Standard 7.12.2024). Am 7.12. flohen mehrere Tausend syrische Soldaten über die Grenze in den Irak (Arabiya 7.12.2024; vgl. Guardian 8.12.2024). Präsident al-Assad erhöhte am 4.12. die Gehälter seiner Soldaten, nicht aber dasjenige von Personen, die ihren Pflichtwehrdienst ableisteten (TNA 5.12.2024). Dieser Versuch, die Moral zu erhöhen, blieb erfolglos (Guardian 8.12.2024).

Die Opposition forderte die Soldaten indes zur Desertion auf (TNA 5.12.2024). Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte beobachteten, dass Hunderte Soldaten ihre Militäruniformen ausgezogen haben, nachdem sie entlassenwurden (SOHR 8.12.2024). Offiziere und Mitarbeiter des Regimes ließen ihre Militär- und Sicherheitsfahrzeuge in der Nähe des Republikanischen Palastes, des Büros des Premierministers und des Volkspalastes unverschlossen stehen, aus Angst von Rebellen am Steuer erwischt zu werden (AJ 8.12.2024b).

Opposition: Obwohl Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) den plötzlichen Vormarsch auf Aleppo gestartet hat und treibende Kraft der Offensive war haben auch andere Rebellengruppierungen sich gegen die Regierung gewandt und sich am Aufstand beteiligt (BBC 8.12.2024c).

Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS): Die HTS wurde 2011 als Ableger der al-Qaida unter dem Namen Jabhat an-Nusra gegründet (BBC 8.12.2024c). Im Jahr 2017 brach die Gruppierung ihre Verbindung mit der Al-Qaida (CSIS 2018) und formierte sich unter dem Namen Hay’at Tahrir ash-Sham neu, gemeinsam mit anderen Gruppierungen (BBC 8.12.2024c). Sie wird von der UN, den USA, der Europäischen Union (AJ 4.12.2024) und der Türkei als Terrororganisation eingestuft (BBC 8.12.2024c). Der Anführer der HTS, der bisher unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Joulani bekannt war, hat begonnen wieder seinen bürgerlichen Namen, Ahmad ash-Shara’a zu verwenden (Nashra 8.12.2024). Er positioniert sich als Anführer im Post-Assad Syrien (BBC 8.12.2024c). Die HTS hat in den letzten Jahren versucht, sich als nationalistische Kraft (BBC 8.12.2024b) und pragmatische Alternative zu al-Assad zu positionieren (BBC 8.12.2024c).

Der Gruppierung werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen (BBC 8.12.2024c). Einem Terrorismusexperten zufolge gibt es bereits erste Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld, die ein Kalifat aufbauen wollen (WiWo 9.12.2024).

National Liberation Front (NFL): Eine Reihe kleinerer Kampfgruppen, aus denen sich die NFL zusammensetzt, nahmen an der Operation „Abschreckung der Aggression“ teil, darunter die Jaish al-Nasr, das Sham Corps und die Freie Idlib-Armee. Die 2018 in Idlib gegründete NFL umfasst mehrere nordsyrische Fraktionen, von denen einige auch unter das Dach der Freien Syrischen Armee fallen (AJ 2.12.2024b).

Ahrar al-Sham Movement: Die Ahrar al-Sham-Bewegung ist hauptsächlich in Aleppo und Idlib aktiv und wurde 2011 gegründet. Sie definiert sich selbst als „umfassende reformistische islamische Bewegung, die in die Islamische Front eingebunden und integriert ist“ (AJ 2.12.2024b).

Jaish al-Izza: Jaish al-Izza: Übersetzt: „Die Armee des Stolzes“ ist Teil der Freien Syrischen Armee und konzentriert sich auf den Norden des Gouvernements Hama und einige Teile von Lattakia. Im Jahr 2019 erhielt die Gruppierung Unterstützung aus dem Westen, darunter auch Hochleistungswaffen (AJ 2.12.2024b).

Nur Eddin Zinki-Bewegung (Zinki): Diese Gruppierung entstand 2014 in Aleppo, versuchte 2017, sich mit der HTS zusammenzuschließen, was jedoch nicht funktionierte. Die beiden Gruppierungen kämpften 2018 gegeneinander, und „Zinki“ wurde Anfang 2019 von ihren Machtpositionen in der Provinz Aleppo vertrieben. Ein Jahr später verhandelte „Zinki“ mit der HTS, und ihre Kämpfer kehrten an die Front zurück, und seitdem ist die Gruppe unter den oppositionellen Kämpfern präsent (AJ 2.12.2024b).

Milizen in Südsyrien: Gruppierungen aus südlichen Städten und Ortschaften, die sich in den letzten Jahren zurückhielten, aber nie ganz aufgaben und einst unter dem Banner der Freien Syrien Armeekämpften, beteiligten sich am Aufstand (BBC 8.12.2024c). In Suweida nahmen Milizen der syrischen Minderheit der Drusen Militärstützpunkte ein (Standard 7.12.2024).

Syrian Democratic Forces (SDF): Die SDF ist eine gemischte Truppe aus arabischen und kurdischen Milizen sowie Stammesgruppen. Die kurdische Volksschutzeinheit YPG ist die stärkste Miliz des Bündnisses und bildet die militärische Führung der SDF (WiWo 9.12.2024). Sie werden von den USA unterstützt (AJ 8.12.2024). Im kurdisch kontrollierten Norden liegen die größten Ölreserven des Landes (WiWo 9.12.2024).

Syrian National Army (SNA): Diese werden von der Türkei unterstützt (BBC 8.12.2024c) und operieren im Norden Syriens im Grenzgebiet zur Türkei (AJ 8.12.2024). Der SNA werden mögliche Kriegsverbrechen, wie Geiselnahmen, Folter und Vergewaltigung vorgeworfen. Plünderungen und die Aneignung von Privatgrundstücken, insbesondere in den kurdischen Gebieten, sind ebenfalls dokumentiert (WiWo 9.12.2024).

3. Aktuelle Lageentwicklung

Sicherheitslage

Israel hat Gebäude der Syrischen Sicherheitsbehörden und ein Forschungszentrum in Damaskus aus der Luft angegriffen, sowie militärische Einrichtungen in Südsyrien, und den Militärflughafen in Mezzeh. Israelische Streitkräfte marschierten außerdem in al-Quneitra ein (Almodon 8.12.2024) und besetzten weitere Gebiete abseits der Golan-Höhen, sowie den Berg Hermon (NYT 8.12.2024). Die israelische Militärpräsenz sei laut israelischem Außenminister nur temporär, um die Sicherheit Israels in der Umbruchphase sicherzustellen (AJ 8.12.2024d). Am 9.12.2024 wurden weitere Luftangriffe auf syrische Ziele durchgeführt (SOHR 9.12.2024c). Einer Menschenrechtsorganisation zufolge fliegt Israel seine schwersten Angriffe in Syrien. Sie fokussieren auf Forschungszentren, Waffenlager, Marine-Schiffe, Flughäfen und Luftabwehr (NTV 9.12.2024). Quellen aus Sicherheitskreisen berichten indes, dass Israelisches Militär bis 25km an Damaskus in Südsyrien einmarschiert wäre (AJ 10.12.2024).

Das US-Central Command gab an, dass die US-Streitkräfte Luftangriffe gegen den Islamischen Staat in Zentralsyrien geflogen sind (REU 9.12.2024). Präsident Biden kündigte an, weitere Angriffe gegen den Islamischen Staat vorzunehmen, der das Machtvakuum ausnützen könnte, um seine Fähigkeiten wiederherzustellen (BBC 7.12.2024).

Russland versucht, obwohl es bis zum Schluss al-Assad unterstützte, mit der neuen Führung Syriens in Dialog zu treten. Anstatt wie bisher als Terroristen bezeichnen russische Medien die Opposition mittlerweile als „bewaffnete Opposition“ (BBC 8.12.2024d).

Sozio-Ökonomische Lage

Die Opposition versprach, den Minderheiten keinen Schaden zuzufügen und sie nicht zu diskriminieren, egal ob es sich um Christen, Drusen, Schiiten oder Alawiten handle. Gerade letztere besetzten unter der Führung Al-Assad’s oft hohe Positionen im Militär und den Geheimdiensten (TNA 5.12.2024).

Für alle Wehrpflichtigen, die in der Syrischen Arabischen Armee gedient haben, wurde von den führenden Oppositionskräften eine Generalamnestie erlassen. Ihnenwerde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie wurden untersagt (Presse 9.12.2024). Ausgenommen von der Amnestie sind jene Soldaten, die sich freiwillig für den Dienst in der Armee gemeldet haben (Spiegel 9.12.2024).

Die syrischen Banken sollen ihre Arbeit am 10.12.2024 wiederaufnehmen, die Bediensteten wurden aufgefordert, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren (Arabiya 9.12.2024).

Die HTS, die weiterhin auf der Terrorliste der UN steht, ist seit 2016 von Sanktionen des UN-Sicherheitsrates betroffen. Diplomaten zufolge war die Streichung der HTS von der Sanktionenliste kein Thema bei der jüngsten Ratssitzung (REU 10.12.2024).

Bevor der Wiederaufbau zerstörter Städte, Infrastruktur und Öl- und Landwirtschaftssektoren beginnen kann, muss mehr Klarheit über die neue Regierung Syriens geschaffen werden (DW 10.12.2024).

[…]

Zusätzlich wird noch auszugsweise das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Version 11 vom 27.03.2024, wiedergegeben:

Sicherheitslage

Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).

...

Kontaminierung mit Minen und nicht-detonierten Sprengmitteln

Neben der Bedrohung durch aktive Kampfhandlungen besteht in weiten Teilen des Landes eine dauerhafte und anhaltende Bedrohung durch Kampfmittel. So zählt die CoI in ihrem jüngsten Bericht 12.350 Vorfälle mit Blindgängern oder Landminen im Zeitraum 2019 bis April 2022. Die Gesamtzahl der durch Landminen (bekannten) getöteten Opfer im Jahr 2023 beträgt 101, darunter 25 Kinder und acht Frauen. Laut dem Humanitarian Needs Overiew der VN für 2022 ist jede dritte Gemeinde in Syrien kontaminiert, besonders betroffen sind demnach die Gebiete in und um die Städte Aleppo, Idlib, Raqqa, Deir ez-Zor, Quneitra, Dara‘a und die ländliche Umgebung von Damaskus. Erhebliche Teile dieser Städte sind auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar. Bei einem Drittel der besonders betroffenen Gebiete handelt es sich um landwirtschaftliche Flächen. Dies hat auch gravierende Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion, die nicht nur die Nahrungs-, sondern auch die Lebensgrundlage für die in den ländlichen Teilen Syriens lebenden Menschen darstellt. Im Juli 2018 wurde ein Memorandum of Understanding zwischen der zuständigen United Nations Mine Action Service (UNMAS) und Syrien unterzeichnet. Dennoch behindert das Regime durch Restriktionen, Nicht-Erteilung notwendiger Visa und Vorgaben weiterhin die Arbeit von UNMAS sowie zahlreicher, auf Minenaufklärung und - Räumung spezialisierter internationaler NGOs in unter seiner Kontrolle befindlichen Gebieten (AA 2.2.2024)

Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet

Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zor fast vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands und Irans größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-Zor führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den SDF eingenommen (EASO 5.2020; vgl. DZ 24.3.2019) [Anm.: zum Lager al-Hol siehe Unterkapitel Kinder sowie zu den Sicherheitsaspekten siehe auch Unterkapitel Nordost-Syrien im Kapitel Sicherheitslage].

Das Gouvernement Deir ez-Zor ist grob in zwei Kontrollbereiche unterteilt. Der westliche Teil des Gouvernements - d.h. vor allem die Gebiete westlich des Euphrat - wird von der syrischen Regierung und ihren iranischen und russischen Verbündeten kontrolliert. Dieses Gebiet umfasst die wichtigsten Städte (Deir Ez-Zor, Mayadin und Al-Bukamal) und die logistische Route, die die von der Regierung kontrollierten Gebiete mit der syrisch-irakischen Grenze verbindet. Der östliche Teil des Gouvernements - die meisten Gebiete östlich des Euphrat - wird von den kurdisch dominierten SDF und ihren Verbündeten in der US-geführten Koalition kontrolliert (EUAA 9.2022; vgl. JfS 12.1.2021). Da die SDF ihre Einflusssphären in der Region von der östlichen Seite her bis zum Euphrat ausdehnten, ist das al-Omar-Feld nun als die größte US-Militärbasis in Syrien bekannt. Das Feld im Osten von Deir ez-Zor ist das größte Ölfeld in Syrien (Enab 23.9.2022; vgl. EUAA 9.2022). Der Euphrat markierte bisher die Grenze zwischen dem russischen und dem US-Einflussgebiet im Bürgerkriegsland Syrien. Westlich des Flusses besitzt Russland die Lufthoheit und unterstützt mit seinen Kampfjets die eigenen Truppen in Syrien und die Armee von Machthaber Bashar al-Assad. Östlich des Stroms herrschten bisher die USA und ihre kurdischen Partner. Doch diese Abmachung bröckelt, weil Russland den militärischen Druck auf die USA in Syrien erhöht, um die Amerikaner aus dem Land zu drängen. Washington schickte aus diesem Grund Mitte 2023 zusätzliche Kampfflugzeuge (Die Presse 22.6.2023).

Im August 2023 brachen gewaltsame Konflikte zwischen den kurdisch geführten SDF und arabischen Stämmen in Deir ez-Zor aus (AJ 30.8.2023). Auslöser war die Verhaftung eines arabischen Stammesführers durch die SDF und sind Ausdruck von jahrelangem Unmut gegenüber dem System der SDF (MEI 1.9.2023). Nicht alle Stämme beteiligten sich an den Kampfhandlungen, einige stellten sich auf die Seite der SDF (MEI 30.8.2023). Berichte über willkürliche Gewalt der SDF und steigende zivile Opferzahlen führten zur erhöhten Mobilisierung von Stammeskämpfern (MEI 1.9.2023). Zeitweise war es den Aufständischen gelungen, die Kontrolle über Ortschaften entlang des Euphrats zu erlangen (AA 2.2.2024). Mitte September 2023 wurden die Todesopfer mit 96 Toten und 106 Verletzten sowie ca. 6.500 vertriebenen Familien beziffert (OCHA 14.9.2023). Ende September erreichten die gewaltsamen Zusammenstöße erneut einen Höhepunkt durch mehrere Angriffe durch die arabischen Stämme (Etana 9.2023). Den SDF gelang es, alle Räume zurückzuerobern, die von den arabischen Stämmen erobert worden waren. Letztere führten im Oktober weiterhin Angriffe auf Stellungen der SDF aus (Etana 10.2023). Diese Angriffe dauerten auch im November 2023 weiter an (Etana 11.2023). Mit Dezember 2023 flauten die Auseinandersetzungen zunehmend ab, die Stämme führten aber weiterhin kleinere Angriffe durch (Etana 12.2023). Im Jänner 2024 führten die Stammeskämpfer weiterhin Angriffe gegen die SDF durch, es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, Ausgangssperren und Verhaftungswellen (SO 4.1.2024).

Die Kampfhandlungen in Deir ez-Zor veranlassten auch Stämme, die der von der Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA) nahe stehen, in Manbij in der Provinz Aleppo gegen die SDF zu kämpfen und es gelang ihnen mehrere militärische Stellungen unter ihre Kontrolle zu bringen. Durch russische Luftangriffe und Artilleriebeschuss durch die syrische Armee und die SDF zwangen diese Stammeskämpfer allerdings wieder zum Rückzug (CC 13.12.2023).

Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und regierungsfeindlich)

Anders als die Regierung und die Syrian Democratic Forces (SDF), erlegen bewaffnete oppositionelle Gruppen wie die SNA (Syrian National Army) und HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) Zivilisten in von ihnen kontrollierten Gebieten keine Wehrdienstpflicht auf (NMFA 5.2022; vgl. DIS 12.2022). Quellen des niederländischen Außenministeriums berichten, dass es keine Zwangsrekrutierungen durch die SNA und die HTS gibt (NMFA 8.2023). In den von den beiden Gruppierungen kontrollierten Gebieten in Nordsyrien herrscht kein Mangel an Männern, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen. Wirtschaftliche Anreize sind der Hauptgrund, den Einheiten der SNA oder HTS beizutreten. Die islamische Ideologie der HTS ist ein weiterer Anreiz für junge Männer, sich dieser Gruppe anzuschließen. Im Jahr 2022 erwähnt der Danish Immigration Service (DIS) Berichte über Zwangsrekrutierungen der beiden Gruppierungen unter bestimmten Umständen im Verlauf des Konfliktes. Während weder die SNA noch HTS institutionalisierte Rekrutierungsverfahren anwenden, weist die Rekrutierungspraxis der HTS einen höheren Organisationsgrad auf als die SNA (DIS 12.2022). Im Mai 2021 kündigte HTS an, künftig in ldlib Freiwilligenmeldungen anzuerkennen, um scheinbar Vorarbeit für den Aufbau einer „regulären Armee“ zu leisten. Der Grund dieses Schrittes dürfte aber eher darin gelegen sein, dass man in weiterer Zukunft mit einer regelrechten „HTS-Wehrpflicht“ in ldlib liebäugelte, damit dem „Staatsvolk“ von ldlib eine „staatliche“ Legitimation der Gruppierung präsentiert werden könnte (BMLV 12.10.2022). Die HTS rekrutiert auch gezielt Kinder, bildet sie religiös und militärisch aus und sendet sie an die Front (SNHR 20.11.2023).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Kinder

Das Kinderschutzgesetz, Gesetz Nr. 21 von 2021, wurde im August 2022 veröffentlicht und ist das erste seiner Art in Syrien. Es soll die Kinder schützen, versorgen und die wissenschaftliche, kulturelle, psychologische und soziale Rehabilitation aller Kinder sicherstellen. Demnach hat der syrische Staat die Pflicht, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Rechte von Kindern zu gewährleisten (OSS 18.1.2023).

Unverändert kommt es in Syrien regelmäßig zu schwersten Verletzungen der Rechte von Kindern (AA 2.2.2024). Trotz Bemühungen der Vereinten Nationen (VN) werden noch immer Kinder für den Dienst an der Waffe rekrutiert. Für das Jahr 2022 wurden durch die VN insgesamt 1.669 Fälle dokumentiert (1.593 Jungen und 103 Mädchen). Rekrutierungen von Kindern werden, nach dem Bericht der VN, vor allem durch die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) und die assoziierten YPG/YPJ (Kurdish People’s Protection Units, Women’s Protection Units), durch die Milizen der Syrian National Army (SNA) und durch Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) vorgenommen, vereinzelt auch durch das Regime und ihm nahestehende Milizen. Die meisten Kinder seien von den verschiedenen Konfliktparteien auch im Kampf eingesetzt worden. Dazu konnten die VN für das Jahr 2022 insgesamt 711 Fälle dokumentieren, in denen Kinder getötet (307) oder verstümmelt (404) wurden. Hauptverantwortliche seien das Regime (178 Fälle), SDF (73) und SNA (47). In 364 Fällen konnte die Verantwortlichkeit nicht zugeordnet werden. Viele Kinder werden dabei durch explosive Ladungen oder Munitionsreste getötet bzw. verletzt (375). Weitere Hauptursachen sind Artillerieangriffe (217), Luftangriffe (63) und Schusswaffen (52) (AA 2.2.2024). Im Jahr 2021 wurden 301 Kinder durch syrische Regierungskräfte in Oppositionsgebieten getötet. Zwischen dem Jahr 2011 und März 2022 wurden 22,941 Kinder durch Regierungskräfte getötet (OSS 18.1.2023).

Zu weiteren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder zählten insbesondere die Rekrutierung und der Einsatz von Kindersoldaten, Inhaftierung und Folter, Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt gegen Kinder, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser sowie die Verweigerung humanitärer Hilfsleistungen (AA 29.3.2023). 6.358 Kinder befinden sich weiterhin in Gefangenschaft oder sind in Regierungsgefängnissen ’verschwunden’ worden. Im Jahr 2021 wurden 48 neue Inhaftierungen von Kindern durch Regierungskräfte verzeichnet (OSS 18.1.2023). Für das Jahr 2022 dokumentierte SNHR willkürlicher oder unrechtmäßiger Verhaftungen von 148 Kindern (AA 29.3.2023).

Die Anzahl der Kinder unter den Binnenvertriebenen wächst weiterhin - mit Stand Februar 2022 2,4 Millionen Kinder, von denen ungefähr eine Million in Ansiedlungen und Lagern lebte (USDOS 20.3.2023) (Anm.: Siehe dazu auch der Abschnitt Binnenvertriebene (IDPs) und Flüchtlinge im Kapitel Bewegungsfreiheit!)

Staatsbürgerschaft und Geburtsregistrierung

Kinder leiten die Staatsbürgerschaft ausschließlich von ihrem Vater ab (USDOS 20.3.2023).

In weiten Teilen des Landes, in denen die Standesämter nicht funktionieren, registrieren Behörden Geburten oft nicht (USDOS 20.3.2023), obwohl das neue Kinderrechtsgesetz jedem Kind das Recht auf eine Staatsangehörigkeit garantiert (NMFA 5.2022). Das Regime registriert auch keine Geburten kurdischer Einwohner, die nicht die syrische Staatsbürgerschaft besitzen (Anm.: zu den staatenlosen Kurden ’ajanib’ und ’maktumeen’ siehe auch Kapitel Kurden). Die Nichtregistrierung führt zur Vorenthaltung von Dienstleistungen, wie z. B. Ausstellung von Zeugnissen für sekundäre Schulbildung, Zugang zu Universitäten, Zugang zu formeller Beschäftigung sowie zu Dokumenten und Schutz (USDOS 20.3.2023).

Bildung und Schulen

Laut dem Kinderschutzgesetz haben Kinder ein Recht auf Bildung (OSS 18.1.2023). Für alle Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren besteht Schulpflicht. Der Anteil an Einschulungen, Unterrichtsteilnahme und Schulabschlüssen war zwischen Buben und Mädchen vergleichbar (USDOS 20.3.2023).

Mindestens 2,4 Millionen von 6,1 Millionen Kindern in Schulalter gingen 2022 in Syrien nicht zur Schule und eine von drei Schulen war beschädigt, zerstört oder wurde zweckentfremdet genutzt - auch für militärische Zwecke (HRW 12.1.2023). Kombattanten aller Seiten greifen regelmäßig Schulen an oder requirierten die Schulgebäude (FH 9.3.2023, zu besonderen Sicherheitsherausforderungen für Mädchen vgl. UNFPA 28.3.2023). SNHR’ verzeichnete im Jahr 2022 mindestens zwei Angriffe auf Bildungseinrichtungen (Schulen, Kindergärten) in Idlib durch Regierungskräfte. Im Jahr 2021 waren es 13 Angriffe gewesen (SNHR 17.1.2023).

Wiederholte Angriffe auf Schulen, ökonomische Faktoren wie Kinderarbeit, die Rekrutierung von Buben für militärische Aufgaben und die Inhaftierung von Kindern behindern weiterhin die Möglichkeiten von Kindern, eine Ausbildung zu erhalten. Außerdem benötigen viele Schulen massive Reparaturarbeiten, einschließlich der Räumung von nicht-detonierten Explosivstoffen des Krieges. Überdies brauchen die Schulen Hilfe bei der Beschaffung einer Basisausstattung mit Lernmaterialien (USDOS 20.3.2023), darunter auch die wiedereröffneten Schulen in zuvor vom sogenannten Islamischen Staat (IS) gehaltenen Gebieten, die von den Syrian Democratic Forces erobert wurden (USDOS 30.3.2021).

Laut UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) kommt in Idlib, dem Gebiet anhaltender bewaffneter Zusammenstöße, ein funktionierender Klassenraum auf 178 Schulkinder. Viele Schulen bedürfen dort großer Reparaturen, manchmal auch der Entfernung nicht-detonierter Explosivstoffe. Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) zwingt ihre Interpretation der Scharia den Schulen auf, und diskriminiert Mädchen im HTS-Gebiet. Im September 2022 wurde den Aussagen von SchuldirektorInnen zufolge verheirateten Studentinnen der Besuch von öffentlichen Schulen und Universitäten untersagt. HTS auferlegt zudem Lehrerinnen und Schülerinnen Kleidervorschriften, wo es den Mädchen erlaubt, weiterhin zur Schule zu gehen. Große Zahlen von Mädchen werden durch HTS am Schulbesuch gehindert (USDOS 20.3.2023).

Neben dem Bombardieren von Bildungseinrichtungen in Gebieten außerhalb seiner Kontrolle und dem Gebrauch einer Anzahl an Bildungseinrichtungen für militärische Zwecke wird auch der Lehrplan für Regimezwecke eingesetzt, sodass die Lehrinhalte die Assad-Herrschaft unterstützen. So sind die Schulkinder automatisch in zwei politischen Organisationen eingeschrieben und müssen in öffentlichen Schulen jeden Tag die Parteislogans rezitieren, und werden in den Aussagen des Regimes unterrichtet (SNHR 17.1.2023). Auch militante islamistische Gruppen und die PYD (Kurdish Democratic Union Party) haben Bildungssysteme in ihren jeweiligen Gebieten eingerichtet, die eine durchdringende politische Indoktrinierung beinhalten (FH 9.3.2023). Im letzteren Fall werden von den Syrian Democratic Forces Strafen gegen MitarbeiterInnen der Schulverwaltung verhängt, wenn diese nicht ihren (PYD-)Lehrplan verwenden (USDOS 20.3.2023).

Die Lage von Kindern mit Behinderungen

Für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen in Syrien ist es besonders schwierig, Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen zu erhalten und ihre Rechte durchzusetzen (HRW 11.1.2024).

Kinder-, Früh- und Zwangsehe

Das gesetzliche Heiratsalter beträgt dem neuen Gesetz zufolge allgemein 18 Jahre (OSS 18.1.2023). Buben im Alter von 15 Jahren oder Mädchen im Alter von 13 Jahren können heiraten, wenn ein Richter beide Parteien für willig und ’körperlich reif’ erklärt, und die Väter oder Großväter beider Parteien zustimmen. Früh- und Zwangsehen sind immer häufiger anzutreffen, insbesondere in Gebieten unter Kontrolle bewaffneter Gruppen. Die Heiraten werden aus Angst vor Haft und Wehrdienst oft nicht offiziell registriert. Die Verschlechterung der Wirtschaftslage sowie der Tod oder das Verschwinden des männlichen Haushaltsvorstands durch das Regime oder andere bewaffnete Gruppen wirken sich negativ auf die Kinder durch steigende Kinderarbeit und Kinderheiraten aus. Berichten zufolge arrangierten viele Familien die Verheiratung von Mädchen in jüngerem Alter, als dies vor Ausbruch des Konflikts üblich war, in dem Glauben, dass dies die Mädchen schützen und die finanzielle Belastung der Familie verringern würde. Es gibt Fälle von Früh- und Zwangsverheiratung von Mädchen mit Mitgliedern des Regimes, der regimenahen Kräfte und der bewaffneten Opposition (USDOS 20.3.2023).

Anm.: Weitere Informationen über Kinderheirat siehe Unterkapitel „Personenstandsrecht, Ehe, Scheidung, Familienrecht, Vormundschaft und Obsorge (regimekontrollierte Gebiete)“.

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Nordost-Syrien - Kinder und Jugendliche unter Herrschaft des sogenannten Islamischen Staats und der aktuelle Umgang mit ihnen

Im Nordosten kritisiert die CoI (United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic) in ihrem Bericht insbesondere die Inhaftierung ohne gerichtlichen Prozess von über 1.000, mitunter als Jugendliche verhafteten, männlichen mutmaßlichen IS-Angehörigen in Haftanstalten, teilweise in Isolationshaft sowie die De-facto-Inhaftierung von rund 58.000 Personen (AA 29.3.2023). Die CoI kritisiert laut Auswärtigem Amt explizit die Inhaftierung von 51.600 Menschen, darunter hauptsächlich Frauen und Kindern unter prekären Bedingungen in den Lagern Al-Hol und Roj sowie insbesondere von bis zu 1.000 zum Teil minderjährigen männlichen Personen, die gemeinsam mit IS-Kämpfern in Haftanstalten untergebracht sind.

Auch wenn in den letzten Jahren einige Menschen die Camps verlassen konnten, wird der Großteil von ihnen dort seit 2019 ohne rechtsstaatliches Verfahren und unter schwierigsten humanitären Bedingungen festgehalten (AA 2.2.2024). Die Zustände sind laut Einschätzung von Human Rights Watch ’lebensbedrohlich, demütigend und oft unmenschlich’. Unter den Festgehaltenen befinden sich ausländische StaatsbürgerInnen aus fast 60 Staaten, die meisten Festgehaltenen sind Kinder. Zumindest 39 Staaten haben Repatriierungen von etwa 9.000 Personen durchgeführt, die meisten davon in den Nachbarstaat Irak (HRW 11.1.2024). Wie Mitglieder der UNCOI betonen, haben auch die Kinder in den Lagern ein Recht auf Bildung und Spiel sowie adäquate Gesundheitsversorgung. Mütter, die sich der IS-Indoktrinierung widersetzen, werden z. B. verprügelt, Burschen, welche in Gefängnisse zu IS-Kämpfern transferiert werden, sind dort dem Risiko der weiteren IS-Indoktrinierung ausgesetzt. Zudem halten sich weiter Opfer von IS-Vergewaltigungen mit den daraus hervorgegangenen Kindern im Lager auf (OHCHR 22.9.2021) [Anm.: für weitere Aspekte der sich laut UN-Einschätzung verschlechternden Lage siehe UNCOI 13.3.2023]. Am 25.8.2022 wurden große Zahlen an Burschen aus den Lagern al-Hol und Roj durch die Asayisch mit Hilfe der SDF verlegt - einige von den Burschen an unbekannte Orte. Im Zuge der Aktion fanden die SDF laut eigenen Angaben auch jesidische Frauen und Mädchen, welche von IS-loyalen Familien gefangen gehalten wurden, von denen einige Jesidinnen angekettet und gefoltert hatten (UNCOI 13.3.2023).

Auch wer (von den syrischen StaatsbürgerInnen) das Lager verlassen darf, muss verschiedene Bedingungen erfüllen, z. B. die Patenschaft durch einen syrischen Stamm, genug Geld für die Kosten (inklusive Bestechungsgelder) sowie verschiedene Dokumente vorweisen (MSF 11.2022). Seit Mitte 2019 wurden fast 5.000 syrische Kinder im Rahmen sogenannter „Stammespatenschaften“ aus den Lagern in Gemeinden im Nordosten entlassen (OCHRC 22.9.2021).

Die SDF hielten weiterhin mehr als 10.000 als IS-Kämpfer verdächtigte Personen und weitere Männer und Burschen mit angeblichen Verbindungen zum IS fest. Vielen fehlt eine gesetzliche Einspruchsmöglichkeit gegen ihre Haft, besonders Nicht-Syrern. Der Kontakt zu Außenwelt ist begrenzt, oft nur in Form sporadischer Briefe. Humanitären Helfern ist der Zugang zu den Hunderten Burschen verwehrt trotz Hinweisen, dass sie dringend medizinische und andere Hilfe benötigen. Eine große Zahl an Burschen ist Berichten zufolge seit Jänner 2022 im al-Sina’a Gefängnis an Tuberkulose verstorben. Andere Burschen werden in sogenannten Rehabilitationszentren festgehalten, wobei zu den mehr als 800 Burschen kein voller Zugang für humanitäre Hilfe besteht (UNCOI 13.3.2023).

Anm.: Zur Rekrutierung von Minderjährigen siehe Unterkapitel „Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedene Organisationen“.

Aus früheren Jahren sind Zwangsverheiratungen durch den IS bekannt - in vielen Fällen junge Mädchen (USDOS 20.3.2023): Ab 2014 begann der IS, Frauen und Mädchen im Alter von zwölf bis 16 Jahren in den von ihm kontrollierten Gebieten zwangszuverheiraten. Auch entführte der IS jesidische Mädchen im Irak und brachte sie zur Vergewaltigung und Zwangsverheiratung nach Syrien (USDOS 20.3.2021). Die Free Yezidi Foundation berichtete, dass jesidische Frauen und Kinder aufgrund des schweren Traumas, das sie durch die Behandlung unter dem IS erlitten haben, und aus Angst bei IS-nahen Familien in Internierungslagern bleiben (USDOS 20.3.2023).

Der Oberste Geistliche Rat der Jesiden hat angekündigt, dass jedes Kind eines muslimischen oder „unbekannten“ Vaters als muslimisch registriert werden muss, wodurch jesidischen Kindern, die unter dem IS geboren wurden, ein Platz in der jesidischen Gemeinschaft verwehrt wird, und ein weiteres Hindernis für die Rückkehr jesidischer Frauen in ihre Heimatgemeinden entsteht (USDOS 30.3.2021).

Kindesmisshandlung und -missbrauch

Das Gesetz verbietet Kindesmisshandlung nicht ausdrücklich. Es sieht vor, dass Eltern ihre Kinder in einer Form disziplinieren können, die nach allgemeinem Brauch zulässig ist (USDOS 20.3.2023). Regierungstruppen setzen die Vergewaltigung von Kindern als „Kriegswaffe“ ein und missbrauchen Kinder von Oppositionellen in Gefängnissen, an Kontrollpunkten und bei Hausdurchsuchungen systematisch und komplett ungestraft. Einem befragten Unteroffizier zufolge machten sie bei der Inhaftierung keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Minderjährigen, selbst in Fällen, in denen Folter angewendet wurde. Kinder werden absichtlich mit Erwachsenen zusammen eingesperrt, weshalb es auch zu Vergewaltigungen durch andere Gefangene kommt (ZI 2.7.2017). Regimemitarbeiter folterten Berichten zufolge Kinder auch wegen ihrer familiären Verbindungen - real oder angenommen - mit MenschenrechtsaktivistInnen und mit anderen AktivistInnen (USDOS 20.3.2023).

NGOs berichteten ausführlich über Regime- und regimefreundliche Kräfte sowie HTS und IS, die Kinder sexuell missbrauchen, foltern, festhalten, töten und anderweitig misshandeln. Die HTS hat Kinder in den von ihr kontrollierten Gebieten extrem hart bestraft und auch hingerichtet.

Das gesetzliche Alter für die sexuelle Mündigkeit liegt bei 15 Jahren, wobei es keine Ausnahmeregelung für Minderjährige gibt. Vorehelicher Sex ist illegal, aber Beobachter berichteten, dass die Behörden das Gesetz nicht durchsetzen. Die Vergewaltigung eines Kindes unter 15 Jahren wird mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren und Zwangsarbeit bestraft. Es gab keine Berichte über die strafrechtliche Verfolgung in Vergewaltigungsfällen von Kindern durch das Regime (USDOS 20.3.2023).

Zwischen März 2011 und März 2023 dokumentierte SNHR den Tod von mindestens 15.272 Personen durch Folter, darunter 197 Kinder, durch die Konfliktparteien in Syrien, wobei das syrische Regime für 98,47 % dieser Todesfälle verantwortlich ist (SNHR 3.2023).

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Kinderarbeit und Nahrungsmittelversorgung

Das Gesetz sieht den Schutz von Kindern vor Ausbeutung am Arbeitsplatz vor und verbietet die schlimmsten Formen der Kinderarbeit. Es gab nur wenige öffentlich zugängliche Informationen über die Durchsetzung des Kinderarbeitsgesetzes. Das Regime unternahm keine nennenswerten Anstrengungen zur Durchsetzung von Gesetzen, die Kinderarbeit verhindern oder beseitigen.

Das Mindestalter für die meisten nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeiten beträgt 15 Jahre oder den Abschluss der Grundschule, je nachdem, was zuerst eintritt. Das Mindestalter für die Beschäftigung in Industrien mit schwerer Arbeit beträgt 17 Jahre. Für die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist die Erlaubnis der Eltern erforderlich. Kinder, die jünger als 18 Jahre sind, dürfen nicht mehr als sechs Stunden pro Tag arbeiten und keine Überstunden leisten oder in Nachtschichten, an Wochenenden oder offiziellen Feiertagen arbeiten. Das Gesetz sieht vor, dass die Behörden bei Verstößen „angemessene Strafen“ verhängen sollen. Es gab jedoch keine Informationen, aus denen hervorging, welche Strafen angemessen waren. Die Beschränkungen für Kinderarbeit gelten nicht für Personen, die in Familienbetrieben arbeiten und kein Gehalt erhalten (USDOS 12.4.2022).

Kinderarbeit gibt es in Syrien sowohl in informellen Sektoren, einschließlich Betteln, Hausarbeit und Landwirtschaft, als auch in Positionen, die mit dem Konflikt zu tun haben, z. B. als Aufpasser, Spione und Informanten. Bei konfliktbezogener Arbeit sind Kinder erheblichen Gefahren durch Vergeltung und Gewalt ausgesetzt. Organisierte Bettelringe setzen die innerhalb des Landes vertriebenen Kinder weiterhin der Zwangsarbeit aus (USDOS 12.4.2022). Viele bewaffnete Gruppen rekrutieren Kinder als Soldaten. Binnenvertriebene und Flüchtlinge sind besonders vulnerabel bezüglich sexueller und Arbeitsausbeutung sowie Menschenhandel (FH 9.3.2023).

Die Zahl der chronisch unterernährten Kinder (unter fünf Jahren) stieg von 553.000 im Jahr 2022 auf 609.979 im Jahr 2023. Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) sind 75.726 Kinder (zwischen sechs und 59 Monaten) akut unterernährt. Nicht zuletzt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dürften sich diese Zahlen über das Jahr 2022 erhöht haben, auch aufgrund der Abhängigkeit insbesondere der Regimegebiete von Importen aus Russland. Rund 70 Prozent der Bevölkerung macht von negativen Bewältigungsmechanismen Gebrauch (z. B. Verschuldung, Kinderarbeit, Kinderehe, Auswanderung, Verringerung der Anzahl täglicher Mahlzeiten). Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern sich. Etwa 90 Prozent aller Haushalte geben über die Hälfte ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse (Wasser, Strom) aus, in 48 Prozent der Haushalte tragen Kinder zum Einkommen bei (AA 29.3.2023). Kinder als Straßenverkäufer oder auf Müllhalden wurden mit der anhaltenden Verschlechterung der Lebensbedingungen aller syrischen Familien ein regelmäßiger Anblick, weil Hunderttausende von Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Auch kam es zu einer Zunahme an obdachlosen Kindern, die allen Formen der Ausbeutung ausgesetzt sind (SNHR 20.11.2021).

Anm.: Näheres zum Zugang zu Unterkünften siehe Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“.

Nicht-explodierte Kampfmittelrückstände, Landminen etc. als besondere Gefahr für Kinder

Das United Nations Mine Action Service (UNMAS) bezeichnet das Ausmaß, die Schwere und die Komplexität der Bedrohung durch Sprengstoffe in Syrien nach wie vor als ein großes Schutzproblem, das die humanitäre Krise und die Gefährdung der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten verschärft (UNMAS 9.2022). Insgesamt wurden seit 2011 3.353 ZivilistInnen, darunter 889 Kinder, durch Anti-Personen-Landminen getötet (SNHR 4.4.2023). 1.435 SyrerInnen, darunter 518 Kinder, starben bisher durch Streumunition und ihre Überreste, die von den syrischen Streitkräften und Russland eingesetzt wurden (SNHR 30.1.2023).

Die Überreste der Waffen, die das syrische Regime und seine Verbündeten bei der massiven und wahllosen Bombardierung der nicht von ihnen kontrollierten Gebiete eingesetzt haben, und die es in jeder Form, Art und Größe gibt, gehören zu den größten Gefahren, die das Leben der Zivilbevölkerung und insbesondere der Kinder bedrohen - auch in Hinkunft. An erster Stelle stehen die Überreste von Streumunition, die in großem Umfang und wahllos eingesetzt wurde; die Submunition oder „Bomblets“ dieser Waffen sind über große Gebiete verteilt, nachdem sie durch die erste Explosion nach dem Einschlag des Hauptsprengkörpers weiträumig verstreut wurden, wobei zwischen 10 Prozent und 40 Prozent dieser „Bomblets“ nicht explodiert sind und daher eine tödliche Gefahr darstellen. Diese Submunition, die in großer Zahl auf landwirtschaftlichen Flächen, in den Ruinen von Städten und Dörfern und sogar in Flüchtlingslagern verstreut ist, ist in der Regel gut versteckt und kann jederzeit explodieren, weil sie durch jede noch so kleine Bewegung ausgelöst wird. Landminen, die von allen Konfliktparteien gelegt wurden, stellen in dieser Kategorie nach Streumunition die zweitgrößte tödliche Bedrohung dar. Die Überreste dieser Waffen haben zahlreiche zivile Opfer gefordert, vor allem unter Kindern, die am stärksten gefährdet sind, weil sie die Überreste nicht identifizieren oder ihre Gefahr nicht erkennen können. Diejenigen Kinder, welche durch die Explosionen dieser Überreste verletzt wurden, haben oft Gliedmaßen verloren oder sind anderweitig dauerhaft behindert und müssen für den Rest ihres Lebens mit diesen Beeinträchtigungen leben (SNHR 20.11.2021).

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Syrische Rückkehrende aus Europa

Eine sichere Rückkehr Geflüchteter kann laut deutschem Auswärtigen Amt für keine Region Syriens und für keine Personengruppe gewährleistet, vorhergesagt oder gar überprüft werden. Auch UNHCR und andere Menschenrechtsorganisationen haben keinen freien und ungehinderten Zugang zu Rückkehrenden in Syrien, sodass eine Nachverfolgung und Überwachung des Rückkehrprozesses sowie des Schicksals der Rückkehrenden nicht möglich ist. UNHCR kann unverändert weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen, noch einen Schutz ihrer Rechte gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln, nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren (AA 2.2.2024).

Die verfügbaren Informationen über SyrerInnen, die aus Europa nach Syrien zurückkehren, sind begrenzt (Rechtsexperte 14.9.2022, DIS 5.2022). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus Europa gibt es auch aufgrund deren geringer Zahl keine Angaben (ÖB Damaskus 12.2022): Im Jahr 2020 kehrten 137 syrische Flüchtlinge freiwillig und mit Unterstützung der dänischen Behörden aus Dänemark nach Syrien zurück. Im selben Jahr suchten zehn SyrerInnen bei den niederländischen Behörden um Hilfe für eine Rückkehr nach Syrien an. In Dänemark leben rund 35.000 Syrer und Syrerinnen, in den Niederlanden ca. 77.000 (EASO 6.2021). Nach Angaben des deutschen Innenministeriums kehrten von 2017 bis Juni 2020 über 1.000 SyrerInnen mit finanzieller Unterstützung Deutschlands aus Deutschland nach Syrien zurück (Daily Sabah 15.6.2020). Die meisten syrischen Flüchtlinge in der EU erwägen nicht, in (naher) Zukunft nach Syrien zurückzukehren, wie Umfragen aus verschiedenen europäischen Staaten illustrieren. Diejenigen, die nicht nach Syrien zurückkehren wollten, wiesen auf verschiedene Hindernisse für eine Rückkehr hin, darunter das Fehlen grundlegender Dienstleistungen (wie Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Sicherheit) und die derzeitige syrische Regierung, die an der Macht geblieben ist (Rechtsexperte 14.9.2022).

Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die Europäische Union selbst sowie der UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), bleiben bei ihrer Einschätzung, dass Syrien nicht sicher für eine Rückkehr von Flüchtlingen ist. Im Juli 2022 entschied das Netherlands Council of State, dass syrische Asylsuchende nicht automatisch nach Dänemark transferiert werden dürften angesichts der dortigen Entscheidung, Teile Syriens für 'sicher' zu erklären (HRW 12.1.2023). Auch die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) kommt zum Schluss, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr in Würde nicht gegeben sind, auch angesichts von Fällen von Rückkehrverweigerungen, willkürlichen Verhaftungen und der Verhinderung der Rückkehr zu ihren Heimen in Regierungsgebieten (UNCOI 7.2.2023). Das deutsche Auswärtige Amt weist darauf hin, dass UNHCR, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und die International Organization for Migration (IOM) unverändert die Auffassung vertreten, dass die Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten nach Syrien in Sicherheit und Würde angesichts der unverändert bestehenden, signifikanten Sicherheitsrisiken in ganz Syrien nicht erfüllt sind. UNHCR bekräftigte, dass sich seine Position und Politik nicht geändert hätten. Im Einklang mit dieser Einschätzung führt laut deutschem Auswärtigem Amt weiterhin kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union Rückführungen nach Syrien durch (AA 2.2.2024). Auch der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sieht nicht die menschenrechtlichen Voraussetzungen für Abschiebungen nach Syrien gegeben (Die Presse 5.6.2023).

2. Beweiswürdigung:

Die Staatsbürgerschaft des BF wurde aufgrund seiner gleichlautenden Angaben im in der Erstbefragung, vor dem BFA und dem BVwG festgestellt (AS 1, 38; Verhandlungsprotokoll vom 10.03.2025 = VP S. 4). Die Feststellungen zu seiner Einreise und der Asylantragstellung in Österreich ergeben sich aus dem Erstbefragungsprotokoll (AS 3).

Aus dem im Akt aufliegenden Bescheid geht hervor, dass der BF den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt bekommen hat (AS 47 ff).

Mangels Vorlage identitätsbezeugender Dokumente im Original kommt dem BF Verfahrensidentität zu. (VP S. 6; AS 38; VP S. 6).

Aus dem Verfahrensakt ist weiters zu entnehmen, dass dem Onkel des BF, aufgrund des Beschlusses eines Bezirksgerichtes die Obsorge für den BF zukommt. Mit Erkenntnis des BVwG vom 14.11.2024 ( XXXX ) wurde die Beschwerde des Obsorgeberechtigten auf Zuerkennung des Asylstatus rechtskräftig abgewiesen.

Vor dem BVwG führte der BF an, mit seinem Obsorgeberechtigten und seinem Cousin in einem gemeinsamen Haushalt zu leben, staatliche Sozialleistungen zu beziehen und momentan den Pflichtschulabschluss zu machen (VP S. 4).

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich des Weiteren in der mündlichen Verhandlung persönlich davon überzeugen, dass der BF keiner asylrechtlich relevanten Verfolgungsgefahr in seinem Heimatstaat ausgesetzt ist.

Bei der Erstbefragung gab der BF zu den Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass er Syrien wegen dem Krieg und der Flugzeugangriffe verlassen habe. Im Falle einer Rückkehr hätten er Angst vor dem Krieg und dem Tod (AS 11).

Bei der Befragung vor dem BFA am 11.11.2022 führte der BF aus, er sei in Syrien nie inhaftiert gewesen; er sei in der Türkei während der Reise nach Österreich inhaftiert worden. Er habe Syrien wegen des Regimes und der iranischen Milizen verlassen, die sie rekrutieren hätten wollen. Diese seien zu den Häusern gegangen und hätten Kinder rekrutiert. Er persönlich sei nicht aufgesucht worden, sein Vater habe jedoch davon gehört und gemeint, dass er ausreisen solle. Seine vier Onkel väterlicherseits seien desertiert, ein Onkel mütterlicherseits sei vom Regime mitgenommen worden und seither verschollen. Dies seien all seine Fluchtgründe (AS 39). Vor seiner Ausreise sei er von regierungsfeindlichen Milizen nicht zum Kampf aufgefordert worden (AS 40).

Der gesetzliche Vertreter gab an, die gesamte Familie werde gesucht, weil sie desertiert seien, sie hätten außerhalb des Regime-Gebietes gelebt. Der minderjährige BF habe realistische und wahrheitsgemäße Angaben erstattet. Es treffe zu, dass in seinem Gebiet bereits Kinder rekrutiert worden seien, die einer Gehirnwäsche unterzogen werden würden (AS 40).

Das BFA hat im Wesentlichen festgestellt, dass die BF keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vorgebracht oder glaubhaft gemacht haben. Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der aus Deir ez-Zor stammende BF vor seiner Ausreise jeweils keiner persönlichen Verfolgung durch das syrische Regime oder durch regierungsfeindliche Gruppen ausgesetzt gewesen sei. Der BF sei in Syrien niemals in Haft gewesen, sondern lediglich in der Türkei von der Polizei angehalten worden. Die Ausführungen des BF hinsichtlich iranischer Milizen beziehe sich auf die allgemeine Sicherheitslage in ihrer Herkunftsregion, zeige jedoch keine persönliche Verfolgung auf. Ebensowenig würden die Ausführungen betreffend Desertationen von Onkeln eine persönliche Bedrohung aufzeigen.

In der Beschwerde wurden im Wesentlichen die vom BF vorgebrachten Fluchtgründe wiederholt moniert. Der BF sei aus Angst, verschleppt, entführt und zwangsrekrutiert zu werden, im Jahr 2021 Richtung Österreich geflohen. Zur Situation und möglichen Zwangsrekrutierung von Kindern in Syrien wurde auf Anfragebeantwortungen von ACCORD zu Syrien: Zwangsrekrutierung Minderjähriger [a-11806] vom 31.01.2022 sowie zur Lage von Kindern allgemein, die Rolle von Kindern im Bürgerkrieg, die Situation von Mädchen, Kinderarbeit, Bildung, Kinder ohne familiären Anschluss, unbegleitet rückkehrende Kinder, Waisenhäuser [a11561] vom 27.04.2021 verwiesen. Die belangte Behörde habe es unterlassen, aktuelle Länderberichte zur Lage von Kindern in Syrien, insbesondere in der Herkunftsregion Deir Ez-Zor, einzuholen. Bei Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Gefährdungslage in Syrien sowie Berücksichtigung der Empfehlungen von EASO und UNHCR hätte die belangte Behörde feststellen müssen, dass dem BF asylrelevante Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Kinder in Syrien drohe. Er wäre als Kind dem realen Risiko verschiedener Ausbeutungshandlungen (Rekrutierung, Zwangsarbeit und Menschenhandel) ausgesetzt. Auch die Herkunft aus einem ehemals oppositionell besetzten Gebiet sowie die Ausreise und Asylantragstellung in Österreich könnten dazu führen, dass dem BF im Fall einer Rückkehr nach Syrien eine oppositionelle Gesinnung unterstellt würde. Zudem sei dem Umstand, dass der minderjährige BF mit Wehrdienstverweigerern verwandt sei, die ins Ausland geflüchtet seien, besondere Bedeutung beizumessen. Da mehrere Verwandte ihrer Militärpflicht nicht nachgekommen seien und Syrien unerlaubterweise verlassen hätten und der BF selbst einen Asylantrag im Ausland gestellt hätte, sei mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das syrische Regime die gesamte Familie den Oppositionellen zuordnen werde.

In der mündlichen Verhandlung wurde erstmals vorgebracht, dass es vor zwei Tagen Probleme zwischen den Stämmen gegeben habe. Seine Familie sei deswegen an die türkische Grenze übersiedelt. Sein Vater sei ins Dorf zurückgegangen, um nach dem Haus zu sehen und habe gesehen, dass das Haus komplett zerstört sei. Man würde in den Moscheen nach Djihad rufen und wolle auch die Kinder rekrutieren und ihnen Waffen geben. Der BF wiederholte, dass seine Familie die innenstaatliche Flucht ergriffen habe und an die türkische Grenze übersiedelt sei. Er wisse jedoch nicht, wie der Ort heißt (VP S. 5). Der mitverhandelte Cousin und der Obsorgeberechtigte gaben an, es gäbe in Deir ez-Zor Probleme zwischen den arabischen Stämmen und den Kurden. Laut der Stammesregel müsse jeder mit seinem Stamm zusammen kämpfen und wer das nicht tue, werde dafür inhaftiert und bestraft. Wenn man sie zwingen würde mit ihnen mitzukämpfen und am Djihad teilzunehmen müssten sie das tun. Der jetzige Staat habe in den Moscheen den Djihad ausgerufen. Sie, alle, würden zum Stamm XXXX gehören. Die Stammeshäuptlinge seien momentan XXXX (VP S. 5). Vor zwei Tagen hätten diese die allgemeine Alarmbereitschaft in seiner Region in XXXX ausgerufen. Seine Familie sei vor zwei Tagen in Deir ez-Zor gewesen und nach dem Ausruf zur Alarmbereitschaft seien sie wo andershin übersiedelt, aber er wisse jedoch nicht an welchem Ort (VP S. 6). Der BF machte jedoch überhaupt keine substantiierten Angaben, dass er nunmehr zwangsrekrutiert werde. Er berief sich nur vage auf eine Stammespflicht. Der Obsorgeberechtigte des BF führte dazu noch aus, dass sie alle vorher vom Assad-Regime gesucht worden seien. Momentan hätten die Stämme im Heimatgebiet das Sagen. Jeder hielte sich jetzt für einen Präsidenten und wolle die Leute zwingen mit mitzukämpfen und wer das nicht tue, werde entweder ausgegrenzt oder getötet. Befragt, ob der BF auf Grund seiner Minderjährigkeit besondere Befürchtungen bei einer Rückkehr nach Syrien habe, gab er an, er sei nach Österreich gekommen, um sich eine gute Zukunft aufzubauen. In Syrien gäbe es keine Zukunft. Wenn er nach Syrien zurückkehren würde, würden sie ihn zwingen zu kämpfen (VP S. 7).

Der Länderinformation ist diesbezüglich zu entnehmen, dass seit August 2023 gewaltsame Konflikte zwischen den kurdisch geführten Syrian Democratic Forces (SDF) und arabischen Stämmen in Deir Ez-Zor bestünden. Berichte über willkürliche Gewalt der SDF und steigende zivile Opferzahlen führten zu einer erhöhten Mobilisierung von Stammeskämpfern. Auch im November 2023 wird von weiter anhaltenden Kämpfen zwischen den SDF und den arabischen Stämmen berichtet. Mit Dezember 2023 flauten die Auseinandersetzungen laut den angegebenen Quellen ab, im Jänner 2024 kam es jedoch wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, Ausgangssperren und Verhaftungswellen. Hingegen ist der Länderinformation nicht zu entnehmen, dass es vonseiten der arabischen Stämme zu zwangsweisen Rekrutierungen in der Bevölkerung gekommen wäre.

Es gibt daher weder Indizien noch Hinweise, dass der BF konkret mit der neuen syrischen Regierung bzw. mit seinem Stamm Probleme habe. Die vagen allgemeinen Angaben zeigen die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens und sind daher lediglich als bewusste Steigerung des Fluchtvorbringens zu werten. Im Gegenteil, der BF stammt aus einer Großfamilie und Verwandte haben auch die Reise nach Europa finanziert. Es ist daher davon auszugehen, dass das Kindeswohl bei einer Rückkehr gewahrt ist, da er Rückhalt in der Stammesgesellschaft vorfinden wird und folglich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsrekrutierung auszuschließen ist. Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Syrien basieren aufgrund der gravierenden politischen Änderungen insbesondere auf Informationen der BFA-Staatendokumentation, des UNHCR und ACCORD über die aktuelle Lage in Syrien. Insbesondere wird darauf hingewiesen, dass die alte syrische Armee aufgelöst wurde und die Verfassung, die die Wehrpflicht beinhaltet außer Kraft gesetzt wurde und somit derzeit de facto keine Wehrpflicht besteht.

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

Aus Medienberichten geht zudem hervor, dass die neue Regierung die Flüchtlinge dezidiert zur Rückkehr eingeladen hat.

Das BVwG verkennt nicht, dass die derzeitige Lage noch unübersichtlich und volatil ist. Doch im konkreten Fall ist jedenfalls festzustellen, dass sich keine Hinweise ergeben haben, dass beim BF asylrelevante Gründe vorliegen.

Es ist dem BF daher insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Syrien sowie des Fehlens von aktuellen Fluchtgründen kann daher nicht erkannt werden, dass dem BF im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre der Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen.

Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, ist auf die persönliche Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen. Die "Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627).

"Glaubhaftmachung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH vom 09.05.1996, 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH vom 30.09.2004, 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 28.05.2009, 2007/19/1248; 23.01.1997, 95/20/0303) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Furcht vor der Ableistung des Militärdienstes bzw. der bei seiner Verweigerung drohenden Bestrafung im Allgemeinen keine asylrechtlich relevante Verfolgung dar, sondern könnte nur bei Vorliegen eines Konventionsgrundes Asyl rechtfertigen. Wie der Verwaltungsgerichtshof zur möglichen Asylrelevanz von Wehrdienstverweigerung näher ausgeführt hat, kann auch der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen - wie etwa der Anwendung von Folter - jede Verhältnismäßigkeit fehlt. Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zu völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine „bloße“ Gefängnisstrafe asylrelevante Verfolgung sein. Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. zu alldem zuletzt VwGH 31.10.2023, Ro 2023/19/0002, mwN).

Fehlt dem Vorbringen zur drohenden Einziehung zum Wehrdienst der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund im oben beschriebenen Sinn, so ist damit auch dem - auf der Prämisse des Vorliegens eines Verfolgungsgrundes des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK aufbauenden - Revisionsvorbringen zur Erreichbarkeit der Herkunftsregion des Revisionswerbers der Boden entzogen (vgl. dazu nochmals VwGH Ro 2023/19/0002).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des BF, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, unbegründet ist.

Wie bereits beweiswürdigend dargelegt, haben sich im gesamten Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG keine stichhaltigen Anhaltspunkte ergeben, die auf eine asylrelevante Verfolgungsgefahr des BF in Syrien hinweisen. Durch den nach wie vor gegebenen familiären Schutz im Herkunftsstaat besteht nicht die maßgebliche Wahrscheinlichkeit einer zwangsweisen Rekrutierung durch bewaffnete Milizen oder einer anderen bewaffneten Gruppierung.

Im Hinblick auf die Länderberichte lässt sich im Übrigen keine systematische Verfolgung von Kindern als soziale Gruppe erkennen, die über die allgemeinen Bedrohungen des syrischen Bürgerkriegs hinausgehen.

Im vorliegenden Fall sind somit die dargestellten Voraussetzungen, nämlich eine "begründete Furcht vor Verfolgung" im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK, nicht gegeben. Auch die Durchsicht der aktuellen Länderberichte erlaubt es nicht anzunehmen, dass sonstige mögliche Gründe für die Befürchtung einer entsprechenden Verfolgungsgefahr vorliegen. Sohin kann nicht erkannt werden, dass dem BF im Herkunftsstaat eine asylrelevante Verfolgung droht.

Das Vorbringen des BF – insbesondere die allgemein schlechte Lage in Syrien aufgrund des Krieges und das damit verbundene Risiko willkürlicher Gewalt – betrifft nicht speziell den BF, sondern die gesamte syrische Bevölkerung in gleicher Weise, und ist daher nicht asylrelevant. Dieser Gefahrenlage wurde mit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten Rechnung getragen.

Daher war die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.