JudikaturBVwG

W124 2291133-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
14. März 2025

Spruch

W124 2291133-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Felseisen als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Somalia, vertreten durch XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am nächsten Tag erfolgte seine Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er angab, somalischer Staatsangehöriger zu sein, ledig zu sein, in XXXX geboren worden zu sein, der Volksgruppe der „Somali“ anzugehören und sich zum Islam zu bekennen. Als Geburtsdatum gab er den XXXX an. Er habe in XXXX , Somalia, seine Wohnsitzadresse gehabt. Seine Muttersprache sei Somalisch, welche er in Wort und Schrift beherrsche. Er habe fünf Jahre die Schule besucht, keine Berufsausbildung erhalten und zuletzt als Landwirt gearbeitet. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter, seine sechs Schwestern und seine acht Brüder würden in Somalia leben. Im Jahr XXXX habe er den Entschluss zur Ausreise aus seinem Herkunftsstaat gefasst. Er habe seinen Wohnort legal mit dem Flugzeug in die Türkei verlassen und habe sich dort ein Jahr aufgehalten. Anschließend habe er sich ca. fünf Tage in Griechenland aufgehalten, sei durch Albanien und Kosovo durchgereist, habe sich ca. vier Tage in Serbien aufgehalten und sei durch Kroatien durchgereist.

Zu seinen Fluchtgründen gab er an, er habe Somalia verlassen, weil er von der Terrorgruppe Al Shabaab getreten und schwer verletzt worden sei. Sein Vater sei von diesen Leuten angeschossen worden, als er verhindern habe wollen, dass sie die Schwester des BF mitnehmen. Seine Schwester sei schließlich mitgenommen worden und sie wüssten nicht, ob sie noch lebe. Bei einer Rückkehr habe er Angst, dass er von Al Shabaab gefunden und getötet werde.

2. Da der BF als minderjährige Person auftrat und Zweifel an der behaupteten Minderjährigkeit bestanden, wurde ein Handwurzelröntgen am XXXX durchgeführt und festgestellt, dass in Bezug auf die Hand links, FFA 76, des BF zur Bestimmung des Knochenalters das Ergebnis „Schmeling 4, GP 31“ vorliegt.

3. In weiterer Folge wurde ein multifaktorielles Altersgutachten eingeholt, welches zum Ergebnis gelangte, dass das Mindestalter des BF zum Untersuchungszeitpunkt 18,5 Jahre betrage und das spätestmögliche fiktive Geburtsdatum der XXXX sei. Eine Minderjährigkeit des BF zum Asylantragsdatum könne nicht möglich sein.

4. Mit Verfahrensordnung vom XXXX stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) fest, dass der BF spätestens am XXXX geboren worden sei.

5. In weiterer Folge wurde der BF am XXXX vor dem Bundesamt einvernommen. In dieser gab er zusammengefasst an, dass er gesund sei und keine Medikamente benötige. Er gab zu seinen Personendaten ergänzend an, dass er der Volksgruppe der Sheikhal angehöre und sich zum sunnitischen Islam bekenne. Zu seinem Geburtsdatum gab er an, dass ihm dieses seine Mutter genannt habe und er es genauso bei der Behörde angegeben habe. Er legte eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses vor. Die Angaben zu seinen Geschwistern im Protokoll seiner Erstbefragung seien nicht richtig. Er habe drei Schwestern und fünf Brüder. Eine Schwester sei von Al Shabaab mitgenommen worden. Zwei Brüder würden sich in Südafrika aufhalten, seine Mutter und seine weiteren fünf Geschwister würden sich weiterhin in Somalia aufhalten. Sein Vater sei im XXXX aufgrund eines Schussattentates der Al Shabaab verstorben. Den letzten Kontakt zu seinen Familienangehörigen habe er gehabt, als er aus Somalia ausgereist sei. In seinem Heimatort habe er bis XXXX gelebt. Anschließend sei er aufgrund seiner offenen Darmverletzung in XXXX und Mogadischu in medizinischer Behandlung gewesen. Im XXXX sei er aus Somalia mit Unterstützung einer Hilfsorganisation in die Türkei gereist, wo er medizinisch behandelt worden und vollständig geheilt worden sei.

Zu seinem Fluchtgrund führte der BF im Wesentlichen aus, dass er im XXXX von Angehörigen der Al Shabaab bezüglich einer möglichen Mitarbeit angesprochen worden sei. Auf Nachfrage gab er an, dass er und andere Jugendliche bereits im Jahr XXXX auf der Straße angehalten und in ein Ausbildungslager von Al Shabaab gebracht worden seien, wo ihnen in einem Vortrag gesagt worden sei, dass sie nicht wie westlich orientierte Personen ausschauen dürften. Dann hätten sie das Lager wieder verlassen. Als er im XXXX hingegen abgelehnt habe, mitzuarbeiten, seien Angehörige der Al Shabaab am XXXX in sein Haus gekommen, um die Zustimmung seines Vaters einzuholen, weil sie sowohl ihn als auch seine Schwester mitnehmen hätten wollen. Als der BF und sein Vater versucht hätten, seine Schwester zu schützen, sei sein Vater mit vier Gewehrschüssen hingerichtet worden. Der BF sei geschlagen worden. Ein Mitglied der Al Shabaab habe mit einem Bajonett auf den BF eingestochen, woraufhin er das Bewusstsein verloren habe und im Krankenhaus in XXXX aufgewacht sei. Ihn hätten sie liegen gelassen, seine Schwester hätten sie mitgenommen.

6. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom XXXX wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkte II. und III.).

Zu Spruchpunkt I. wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es dem BF nicht gelungen sei, den vorgebrachten Fluchtgrund, eine Zwangsrekrutierung durch Al Shabaab, glaubhaft darzulegen. Zudem würde Zwangsrekrutierungen, die nicht an andere Kriterien als Alter und Geschlecht anknüpfen, ohne Hinzutreten weiterer konkreter Umstände keine Asylrelevanz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zukommen. Der BF habe angegeben, dass sich alle Jugendlichen hätten anschließen sollen. Zudem seien seine Angaben nicht mit den Länderberichten zu Zwangsrekrutierungen in Einklang zu bringen. Diesen zufolge würde direkter Zwang bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet werden. Üblicherweise richte Al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden, nicht jedoch an Einzelpersonen. Zwar würde Al Shabaab Berichten zufolge weiterhin systematisch Kinder von Minderheitengruppen entführen und rekrutieren. Der BF gehöre jedoch keiner Minderheit, sondern dem religiösen Clan der Sheikhal an, weshalb davon ausgegangen werden müsse, dass ein entsprechender Schutz aufgrund seiner Clanzugehörigkeit bestehen müsste.

7. Mit fristgerechter Beschwerde vom XXXX wurde Spruchpunkt I. dieses Bescheides vom BF im Wege seiner Vertretung angefochten. In einer Kurzdarstellung des Sachverhaltes wurde u.a. ausgeführt, dass Al Shabaab den Vater des BF persönlich am Wohnsitz der Familie kontaktiert und diesen aufgefordert habe, den BF und die Schwester des BF der Al Shabaab zu übergeben. Der BF hätte die Terrormiliz durch eine Rekrutierung persönlich unterstützen sollen. Seine Schwester hätte einen Kämpfer der Al Shabaab heiraten sollen. Bei einer Rückkehr drohe dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Al Shabaab, weil er sich geweigert hätte, mit ihnen zu kooperieren, und im Ausland einen Asylantrag gestellt habe. Begründend wurde u. a. ausgeführt, dass das Bundesamt kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und den BF zu seinen Fluchtgründen, die er in der Erstbefragung angegeben habe, nicht ausreichend befragt habe, obwohl er mehrere Anhaltspunkte für eine Gefährdung genannt habe. So hätte die Familie des BF anfangs Steuergeld an die Al Shabaab gezahlt habe, um vor der Terrormiliz sicher zu sein. Der BF sei zunächst zur Mitarbeit aufgefordert worden. Er habe auch an einer Veranstaltung der Al Shabaab teilnehmen müssen, wo er aufgefordert worden sei, seinen Haarschnitt an ihre Vorstellungen anzupassen. Er sei keiner der Aufforderungen nachgekommen und habe damit seine oppositionelle politische Gesinnung zum Ausdruck gebracht. Schließlich sei sein Vater aufgefordert worden, den BF der Al Shabaab als Rekruten zur Verfügung zu stellen. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und teilweise unrichtig. Sie würden sich nur in beschränktem Ausmaß mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF befassen und seien als Begründung unzureichend. Der BF habe im Laufe des Verfahrens mehrfach Gründe angegeben, weshalb er für eine Rekrutierung durch die Al Shabaab in Frage komme. Er sei in einem Alter, das eine Rekrutierung befürchten lasse. Al Shabaab sei bereits mit seiner Familie in Kontakt gestanden, habe von dieser lange Zakatgeld bezogen und habe den BF zur Mitarbeit aufgefordert. Zudem sei der BF „ein junger Mann mit einem wirtschaftlich soliden Hintergrund“. Der BF sei aufgrund des großen Netzwerkes der Al Shabaab davon ausgegangen, dass diese von seiner Flucht gewusst habe. Die Al Shabaab habe seinen ehemaligen Wohnort aufgesucht, als er sich noch in Mogadischu befunden habe. Von seinem Clan könne sich der BF keinen Schutz vor Verfolgung erwarten. Angehörige von Minderheitenclans würden in der somalischen Gesellschaft zudem einer anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Diskriminierung ausgesetzt sein.

8. Die Beschwerdevorlage langte am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Am XXXX fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt. Diese erfolgte unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Somalisch sowie in Anwesenheit der Vertretung des BF. Das Bundesamt ist entschuldigt nicht erschienen. In dieser führte der BF im Wesentlichen aus, dass er bei einer Rückkehr nach Somalia Angst vor den Clanangehörigen der Hawadle habe, die sie überfallen hätten. Das sei aber nicht das größte Problem gewesen. Er habe einen Befehl der Al Shabaab verweigert. Sie hätten ihn zuhause aufgesucht und ihm gesagt, er solle sich der Gruppe anschließen. Als er abgelehnt habe, hätten sie ihm gesagt, er hätte es verweigert, der Religion zu dienen, und hätten ihm gedroht. Eines Abends seien sechs Männer der Al Shabaab zum Haus des BF gekommen und hätten gesagt, dass sie die Schwester des BF haben wollen. Der Vater des BF hätte ihnen gesagt, dass sie sie nicht gewaltsam mitnehmen dürften. Die Männer hätten anschließend den Vater des BF erschossen, den BF geschlagen und verletzt und seine Schwester gewaltsam mitgenommen. Der BF sei vom Nachbarn mit einem Eselkarren ins Krankenhaus gebracht worden. Noch am selben Tag sei er mit einem Flugzeug nach Mogadischu gebracht worden, weil sie ihm im Krankenhaus in XXXX gesagt hätten, sie könnten ihm nicht helfen. In Mogadischu sei er in zwei verschiedenen Spitälern gewesen und sei schließlich mit dem Flugzeug aus Somalia ausgereist.

10. Am XXXX übermittelte der BF im Wege seiner Rechtsvertretung dem BVwG eine Stellungnahme im Rahmen des erteilten Parteiengehörs. In dieser gab er zusammengefasst an, dass aus dem aktuellen Länderinformationsblatt hervorgehe, dass die Präsenz von Kämpfern der Al Shabaab im Jahr 2024 in Hiiraan gewachsen sei. Die vom BF geschilderte Vorgehensweise der Rekrutierungsversuche durch Al Shabaab stehe im Einklang mit den Länderberichten. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass die Quellen im Länderinformationsblatt zur Feststellung, dass Al Shabaab nur in den von ihr kontrollierten Gebieten zwangsrekrutiere, nicht allesamt nachverfolgbar seien und widersprüchliche Angaben enthalten würden.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF

1.1.1. Der BF ist somalischer Staatsangehöriger, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und gehört dem Clan der Sheikhal, Subclan XXXX , Subsubclan XXXX , an. Seine Muttersprache ist Somalisch. Er ist ledig und kinderlos.

Der BF ist im Wesentlichen gesund, er nimmt keine Medikamente. Er leidet an keinen schwerwiegenden psychischen oder physischen Erkrankungen.

Der BF wurde am XXXX geboren. Er stammt aus der Stadt XXXX , Region XXXX , wo er geboren und aufgewachsen ist. Der BF lebte an seinem Herkunftsort mit seinen Eltern, seinen drei Schwestern und seinen fünf Brüdern. Der Vater des BF wurde nicht von Al Shabaab getötet. Seine Schwester wurde nicht von Al Shabaab mitgenommen.

Der BF besuchte in Somalia fünf Jahre die Schule, hat keine Berufsausbildung und arbeitete vor seiner Ausreise in der Landwirtschaft seines Vaters.

Am XXXX stellte der BF einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.

1.1.2. Zum Fluchtvorbringen des BF

Das Fluchtvorbringen des BF, wonach er sich geweigert hätte, einer Aufforderung der Al Shabaab zur Mitarbeit zu folgen, und Al Shabaab daraufhin seinen Vater getötet, seine Schwester mitgenommen, und den BF geschlagen und verletzt hätte, ist nicht glaubhaft. Auch ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der BF im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch Al Shabaab ausgesetzt wäre oder von dieser ermordet werde.

Es ist nicht glaubhaft, dass der BF von Angehörigen des Clans der Hawadle überfallen worden ist.

Für den BF besteht überdies keine reale Gefahr, im Herkunftsstaat aufgrund der Zugehörigkeit zum Clan der Sheikhal verfolgt zu werden.

Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der BF im Herkunftsstaat aus politischen Gründen, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität oder wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von staatlicher Seite oder von privaten Dritten einer Bedrohung ausgesetzt ist.

1.2. Feststellungen zur allgemeinen Situation in Somalia

Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zu Somalia (Version 7, Stand 16.01.2025):

„[…]

Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Letzte Änderung 2025-01-09 08:04

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2023). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, wird die Lage über die Kontrolle geringer Teilgebiete von Puntland von al Shabaab beeinflusst (und in noch geringeren Teilen vom sogenannten Islamischen Staat in Somalia), während es hauptsächlich an Clandifferenzen liegt, wenn Puntland tatsächlich keinen Zugriff auf gewisse Gebiete hat. In Süd-/Zentralsomalia ist die Situation noch viel komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (BMLV 7.8.2024).

Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind Hargeysa, Berbera, Burco, Garoowe und – in gewissem Maße – Dhusamareb sichere Städte. Alle anderen Städte variieren demnach von einem Grad zum anderen. Auch Kismayo selbst ist sicher, aber hin und wieder gibt es Anschläge. Bossaso ist im Allgemeinen sicher, es kommt dort aber zu gezielten Attentaten. Dies gilt auch für Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer weiteren Quelle sind auch Baidoa, Jowhar und Belet Weyne diesbezüglich innerhalb des Stadtgebietes wie Kismayo zu bewerten (BMLV 7.8.2024). Laut einer anderen Quelle sind alle Hauptstädte der Bundesstaaten relativ sicher (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Eine Quelle gibt die Lage mit Stand 28.6.2024 folgendermaßen wieder:

Das Bild zeigt eine Landkarte von Somalia, in welcher verzeichnet ist, welche Teile von welchem Akteur beeinflusst oder kontrolliert werden PGN 28.6.2024

Critical Threats bietet einen Überblick über die spezifisch auf al Shabaab bezogene Situation für Somalia und Kenia (Karte vom April 2024):

Landkarte zeigt Gebiete der al Shabaab in Somalia CT/Karr/AEI 23.9.2024

ACLED bietet einen Überblick über die Vorfälle in Somalia innerhalb vier unterschiedlicher Monate des Jahres 2024:

ACLED Vorfälle auf Landkarten notiert für vier Monate

(ACLED 29.11.2024; ACLED 28.10.2024; ACLED 30.9.2024; ACLED 31.7.2024)

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2025-01-16 14:10

Die Sicherheitslage bleibt volatil (UNGA 23.8.2024). Weiterhin fordert der Konflikt Opfer, es kommt zu willkürlichen Tötungen, Vertreibungen und anderen Kriegsverbrechen durch alle Konfliktbeteiligten. Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB Nairobi 10.2024), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in vielen Teilen Süd-/Zentralsomalias berichtet (AA 23.8.2024). Al Shabaab bleibt weiterhin die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit in Somalia (UNSC 28.10.2024; vgl. HIPS 7.5.2024). Die Gruppe führt komplexe Angriffe gegen Regierungskräfte und ATMIS, aber auch gegen Zivilisten und Wirtschaftstreibende durch (UNSC 28.10.2024). Weite Teile des Hinterlandes verbleiben unter Kontrolle der dschihadistischen al Shabaab. Weitere Teile werden von Clanmilizen oder Bundesstaaten kontrolliert, die nicht mit der Bundesregierung kooperieren (BS 2024). Laut UN verteilen sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle in Berichten der Jahre 2024 und 2023 wie folgt:

Sicherheitsrelevante Vorfälle in unterschiedlichen Berichten der VN

(UNSC 27.9.2024; UNSC 3.6.2024; UNSC 2.2.2024; UNSC 13.10.2023; UNSC 15.6.2023)

Im Zusammenhang mit der laufenden Offensive am meisten betroffen sind Middle Shabelle, Mudug, Galgaduud und Hiiraan (BMLV 7.8.2024) sowie Lower Shabelle und Lower Juba (FSNAU/IPC 23.9.2024a). Seit Dezember 2023 verstärkt al Shabaab ihre Aktivitäten in Lower Shabelle, Bay (UNSC 2.2.2024) und Bakool. In diesen drei Regionen sind jene Positionen bzw. Orte hart umkämpft, von denen aus größere Räume kontrolliert werden können. Das beste Beispiel dafür ist der seit Monaten andauernde Kampf um Goof Gaduud Burey in der Nähe von Baidoa (BMLV 7.8.2024).

In den vergangenen Jahren wurden Offensiven gegen al Shabaab durchgeführt, die sich zunächst aus militärischer Sicht als erfolgreich erwiesen haben. Anfängliche territoriale Erfolge bringen aber oft eine weitaus schwierigere Herausforderung mit sich: die Stabilisierung eroberter Gebiete. Das Versäumnis, befreite Gebiete wirksam zu stabilisieren, hat wiederholt zum Rückzug von Regierungskräften geführt (Sahan/SWT 4.8.2023). Die Sicherheitskräfte sind fragmentiert, es mangelt ihnen an Kapazitäten, weiteres Gebiet zu erobern. Die Offensive der Jahre 2022 und 2023 konnte nur unter Zuhilfenahme lokaler Milizen durchgeführt werden - und trotzdem wurden die meisten der damals eingenommenen Gebiete wieder verloren (Sahan/SWT 5.1.2024). Gleichzeitig hat das Versäumnis, gespaltene Gemeinschaften zu versöhnen, dazu geführt, dass auch in Absenz von al Shabaab neue Konflikte entstehen konnten. So wurde al Shabaab etwa im Rahmen der Operation Badbaado in Lower Shabelle in den Jahren 2019–2020 aus mehreren Städten vertrieben. Drei Jahre danach kämpft die Bundesregierung aber immer noch darum, die befreiten Gebiete zu stabilisieren. Hilfsleistungen und staatliche Dienstleistungen bleiben unzureichend und oberflächlich (Sahan/SWT 4.8.2023).

Die Bundesregierung hat es nach wie vor nicht geschafft, die Reichweite staatlicher Institutionen in Bezug auf die Bereitstellung von Dienstleistungen für Bürger und den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums über Mogadischu hinaus auszuweiten (BMLV 7.8.2024). Generell ist die Regierung nicht in der Lage für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf ATMIS, aber auch auf Unterstützung anderer Staaten angewiesen (BMLV 7.8.2024; vgl. BS 2024). Andererseits leben und arbeiten in Somalia laut einer Quelle mehr als 60.000 Gastarbeiter aus Kenia und Uganda (TEA/Barigaba 28.4.2024).

Armee und Schutztruppe (ATMIS) als relevanter Faktor: ATMIS wurde im Juni 2023 um 2.000 Mann reduziert, im Dezember 2023 um 3.000 Mann und im Juni 2024 um weitere 2.000. Die Ausbildung neuer Soldaten für die Bundesarmee machte 2023 gute Fortschritte, es mussten aber auch hohe Verluste hingenommen werden. Das größte Problem ist neben der Truppenstärke die fehlende Ausrüstung (schwere Waffen, Luftkomponente etc.). Eine Nachfolgemission für ATMIS steht im Raum (BMLV 7.8.2024). [siehe auch Ausländische Kräfte]

ATMIS ist maßgeblich an der Kontrolle des Territoriums beteiligt. V. a. in städtischen Gebieten fungiert ATMIS als Haltetruppe und ist für die Sicherheit der somalischen Führung und der Wirtschaftsquellen des Landes, einschließlich Häfen und Flughäfen, maßgeblich verantwortlich. Dahingegen konzentrieren sich die somalischen Sicherheitskräfte auf das Vordringen in weniger besiedelte Gebiete (ACAPS 17.8.2023). Die Bundesarmee ist aber überdehnt (Sahan/STDOK/SEM 4.2023; vgl. UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist das Szenario, wonach al Shabaab bei einem Abzug von ATMIS das Land übernimmt, nicht mehr plausibel (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Auch eine weitere Quelle gibt an, dass die Bundeskräfte nach einem Abzug von ATMIS nicht kollabieren werden, und al Shabaab nicht nach Mogadischu zurückkehren wird (Think/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle erklärt, dass es für al Shabaab nun sehr schwer geworden ist, die Bundesregierung zu überrennen (AQ21 11.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass nur bei völligem Wegfall jeglicher externen Unterstützung der Fall eintreten könnte, dass die Bundesregierung zusammenbricht (BMLV 1.12.2023). Mit Unterstützung einer Nachfolgemission von ATMIS sowie externen Partnern (etwa der Türkei, UN und EU) wird demnach das Halten von Mogadischu möglich sein (BMLV 7.8.2024). Schlussendlich gibt eine Quelle an, dass größere Städte - z. B. Mogadischu, Kismayo, Baidoa - aufgrund der dort gegebenen Massierung an Mannschaften und Gerät nicht von al Shabaab eingenommen werden können; dahingegen geht diese Quelle davon aus, dass die Gruppe nach einem Abzug von ATMIS wieder weite Teile des ländlichen Raumes zurückgewinnen wird können (Sahan/SWT 6.3.2024). Eine andere Quelle geht davon aus, dass Baidoa oder Kismayo nur gehalten werden können, wenn Äthiopien bzw. Kenia ihre dort stationierten Kontingente aufrechterhalten (BMLV 7.8.2024).

Macawiisley-Offensive: Unter Einbeziehung lokaler Clanmilizen gelang es der Regierung in einer großen Offensive seit August 2022 erstmals, al Shabaab aus weiten Teilen HirShabelles und Galmudugs zurückzudrängen (AA 23.8.2024). An der Spitze des Kampfes standen die Macawiisley-Milizen (Economist 3.11.2022; vgl. Sahan/SWT 4.8.2023, ICG 21.3.2023). Diese lokalen Milizen werden von den Vereinten Nationen "Community Defence Forces" genannt (UNSC 15.6.2023). Im Rahmen der Offensive konnten die größten territorialen Gewinne seit Mitte der 2010er-Jahre erzielt werden. Bundesarmee und lokale Milizen haben al Shabaab aus signifikanten Teilen Zentralsomalias vertrieben (ICG 21.3.2023; vgl. Economist 3.11.2022; Sahan/SWT 13.9.2023), und zwar in den Regionen Middle Shabelle, Hiiraan, Galgaduud und Mudug. Die Gruppe verlor die Kontrolle über mehrere strategische Städte wie die Hafenstadt Xaradheere (Mudug), Ceel Dheere, Adan Yabaal (BBC 15.6.2023; vgl. ICG 21.3.2023), Galcad und Runirgod (Galgaduud und Middle Shabelle). Diese Städte wurden fast 15 Jahre lang von al Shabaab kontrolliert und leisteten einen erheblichen Beitrag zu ihren Finanzen (BBC 15.6.2023). Zudem hält al Shabaab derzeit keine Räume oder Orte mehr an der Küste in Galmudug oder HirShabelle, allerdings wird diese auch nicht lückenlos von der Regierung kontrolliert (BMLV 7.8.2024).

Allerdings hat die Offensive ab Mitte 2024 Rückschläge erlitten, einige Orte und Gebiete gingen wieder an al Shabaab verloren (UNSC 28.10.2024; vgl. AA 23.8.2024). Auch in der Vergangenheit ist es der somalischen Regierung nicht gelungen, grundlegende staatliche Kernaufgaben in den befreiten Gebieten wahrzunehmen, sodass al Shabaab sich nach Rückzug immer wieder neu aufstellen und Gebiete zurückerobern konnte. Dieses Phänomen ist nun erneut zu beobachten und kostet die Regierung Unterstützung bei den Clanmilizen (AA 23.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Die Rückschläge sind u. a. auf einen Mangel an Truppen zurückzuführen (ÖB Nairobi 10.2024). Generell stehen keine bzw. zu wenige leistungsfähige und verlässliche Truppen zur Verfügung, um eroberte Orte zu halten, wenn die Angriffstruppen weiterziehen (BMLV 7.8.2024). Zudem kam es zu logistischen Problemen, einem Mangel an Ressourcen und einem Aufbrechen von Clankonflikten (HIPS 7.5.2024).

Die Beziehungen der Bundesregierung zu manchen im Kampf gegen al Shabaab erfolgreichen Clans (v. a. die Hawadle) haben sich aufgrund politischer Verwerfungen abgekühlt (ACLED 15.9.2023). Gleichzeitig zwingt die Unfähigkeit der Regierung, die Kontrolle über gewonnene Gebiete aufrechtzuerhalten und eine starke Präsenz aufzubauen, lokale Clans zu Friedensabkommen mit al Shabaab, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten (HI 4.2023; vgl. ACLED 15.9.2023; BMLV 7.8.2024). Während al Shabaab nun versucht, den einen Teil der Hawiye gegen die Bundesregierung zu mobilisieren (v. a. Habr Gedir / Mohamud Hirab, Murusade und Abgal / Wacaysle), versucht die Bundesregierung, den anderen Teil (z.B. Habr Gedir) gegen al Shabaab in Stellung zu bringen (ACLED 15.9.2023; vgl. BMLV 7.8.2024). Al Shabaab hat versucht sich anzupassen – etwa im Umgang mit der Lokalbevölkerung. Die Gruppe setzt nun mehr auf Anreize als auf Zwang und Erpressung. Bereits Ende Dezember 2022 wurde mit Teilen der Saleban ein neues Abkommen geschlossen (ICG 21.3.2023). Gleichzeitig schürt al Shabaab unter den Clans Angst, dass fremde Clanmilizen über sie herzufallen drohen. Diese Propaganda dient auch als Rekrutierungsmittel, z. B. bei den Murusade in Zentralsomalia (BMLV 7.8.2024).

Spannungen in neu eroberten Gebieten haben zudem teils zu Kampfhandlungen zwischen Clans geführt (AQ21 11.2023). Der Konkurrenzkampf zwischen den Clans um die Kontrolle über befreite Gebiete in Teilen von HirShabelle löste wochenlange angespannte Auseinandersetzungen und in einigen Fällen tödliche Zusammenstöße aus (Sahan/SWT 9.8.2023).

Aktueller Trend: Laut zweier Quellen ist al Shabaab nun stärker als zuvor (BMLV 4.7.2024; vgl. Sahan/SWT 3.7.2023). Es kam zu zusätzlichen Rekrutierungen, wobei al Shabaab gleichzeitig größere Verluste vermeiden konnte – anders als die Bundesarmee. Selbst während der intensiven Phase der Gefechte erlitt die Gruppe geringere Verluste als ihr Gegner (BMLV 1.12.2023). Ab Jänner 2023 hat die Bundesarmee zwar 12.000 neue Soldaten in Dienst bestellt. Davon ist aber nur noch die Hälfte einsatzbereit. Von Jänner 2023 bis April 2024 musste die Armee 4.600 Gefallene verzeichnen. Die Armee ist ausgeblutet, die Spezialeinheit Gorgor - die im Zuge der Offensive breit eingesetzt worden ist - ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Alleine beim Angriff der al Shabaab auf das Lager Osweyne hat sich eine ganze Brigade aufgelöst. Von 2.400 Mann sind dort 800 gefallen, viele weitere wurden verwundet oder sind desertiert. Auch die Darawish von Galmudug sind stark dezimiert worden. Insgesamt wird attestiert, dass die Bundesarmee nicht mehr handlungsfähig ist. Seit Ende 2023 sind auch keine Bemühungen bekannt, Lücken durch neue Rekrutierungen zu füllen. Lediglich für Gorgor werden neue Soldaten ausgebildet. Gleichzeitig ist die "Volksmobilisierung" über die Macawiisley zum Erliegen gekommen, während der Abzug von ATMIS weiter fortschreitet. Tatsächlich gibt es aber keine Truppen, die ATMIS ersetzen könnten. Somalia ist nach Angaben einer Quelle Lichtjahre davon entfernt, Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen zu können (BMLV 4.7.2024).

Im März und April 2024 scheiterte ein letzter Versuch der Bundesregierung, eine neue Offensive voranzutreiben. Letztendlich gibt es keine Kräfte mehr, welche nun eine neue Offensive führen könnten. Das Momentum liegt bei al Shabaab, die Bundesregierung befindet sich in der Defensive (BMLV 7.8.2024). Die Gruppe hat viele der von der Bundesregierung seit August 2022 erzielten Erfolge wieder zunichtegemacht (VOA/Babb 18.6.2024). Während der Gebietsgewinn in HirShabelle nachhaltiger ist, wurde das in Galmudug gewonnene Gelände nahezu gänzlich wieder verloren (BMLV 4.7.2024). Al Shabaab konnte mehr als die Hälfte des verlorenen Gebietes wieder besetzen (BMLV 7.8.2024).

Zentralsomalia aus Sicht von Critical Threats im Herbst 2024:

Das Bild zeigt Kontrollzonen in Zentralsomalia Anfang Oktober 2024 CT/Karr/AEI 24.10.2024

Al Shabaab [siehe auch Al Shabaab] hat trotz der nominell hohen Verluste, die der Gruppe durch Luftangriffe und Gefechte zugefügt worden sind, keinen Mangel an Kämpfern. Zumindest ist es nicht gelungen, Angriffe von al Shabaab auf Militärstützpunkte einzudämmen. Sie ist auch immer noch in der Lage, Angriffe in Mogadischu, gegen Stützpunkte der ATMIS und über die Grenzen der ATMIS-Mitgliedsstaaten Äthiopien und Kenia hinweg zu verüben (Soufan 3.7.2023; vgl. BMLV 7.8.2024). Das sogenannte "Hafenabkommen" zwischen Äthiopien und Somaliland hat al Shabaab viele neue Rekruten gebracht (VOA/Babb 18.6.2024).

Die Gruppe hat zwar signifikant an Gebiet und Kämpfern eingebüßt, ist aber weit von einer Niederlage entfernt (BMLV 7.8.2024; vgl. BS 2024). Al Shabaab greift weiterhin regierungsnahe Kräfte und Ziele sowie Zivilisten im ganzen Land an. Die Gruppe übt Druck auf Zivilisten aus, ihre extremistische Ideologie zu unterstützen (USDOS 15.5.2023). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen sowie Sicherheitskräfte und deren unmittelbare Umgebung. Auch der Flughafenbereich ist betroffen (AA 3.6.2024). In Zentralsomalia hält sich al Shabaab weiterhin im freien Gelände zwischen den Ortschaften auf und greift bei jeder Gelegenheit die Orte selbst bzw. die Bewegungen zwischen den Ortschaften an (BMLV 7.8.2024).

Al Shabaab verwendet gewalttätige, extremistische Taktiken. Die Gruppe bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden, Stabilität und Sicherheit. Sie ist in hohem Maß anpassungsfähig und mobil und kann ihren Einfluss auch in Gebieten außerhalb der eigenen Kontrolle geltend machen. Die Gruppe bedient sich neben politischen und kriminellen Mitteln (wie Einschüchterung, Erpressung etc.) zur Kontrolle der Bevölkerung im militärischen Bereich zur Erreichung der Ziele der gesamten Bandbreite der asymmetrischen Kriegsführung. Mit unterschiedlichen Methoden gelingt es al Shabaab, die Bevölkerung zu kontrollieren, Einfluss auf die Politik zu nehmen und in Süd-/Zentralsomalia für ein Klima der Angst zu sorgen: Kontrolle großer Gebiete; sogenannte Hit-and-Run-Angriffe gegen Städte und militärische Positionen; Ausnutzung von Clanstreitigkeiten mit einer Taktik des "teile und herrsche"; Unterbrechung von Hauptversorgungsrouten und Blockade von Städten; und in wichtigen Städten (z. B. Mogadischu, Baidoa, Galkacyo, Jowhar) gezielte Attentate, Anschläge mit improvisierten Sprengsätzen und Mörserangriffe. Zusätzlich ist die Gruppe auch weiterhin in der Lage, größere - sogenannte "komplexe" - Angriffe durchzuführen. Dabei verfolgt al Shabaab insgesamt eine klassische Guerilla-Doktrin: Die Einkreisung von Städten aus dem ländlichen Raum heraus (BMLV 7.8.2024).

Während eines Großteils der Trump-Jahre konnten Kämpfer der al Shabaab aufgrund der Intensität der Luftangriffe nicht in Konvois reisen (Sahan/SWT 2.8.2023). Heute ist besorgniserregend, wie leicht sich die Gruppe in weiten Teilen Somalias bewegen kann. Al Shabaab ist nun wieder in der Lage, Hunderte Kräfte zu konzentrieren, um Stützpunkte der Bundesarmee oder ihrer Verbündeten zu vernichten (BMLV 7.8.2024).

Kampfhandlungen: In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es regelmäßig zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. ATMIS und al Shabaab (AA 23.8.2024; vgl. AA 3.6.2024). Die aktuelle Offensive konzentriert sich im Wesentlichen auf die Bundesstaaten Galmudug und HirShabelle (AA 23.8.2024; vgl. ACAPS 17.8.2023). Auch entlang der Hauptversorgungsrouten unternimmt al Shabaab weiterhin Angriffe, und die Gruppe hat einige davon einnehmen können (USDOS 20.3.2023). Wie zuvor auf den Vorfallskarten von ACLED im Kapitel Sicherheitslage ersichtlich, konzentrierten sich Kampfhandlungen im Wesentlichen auf den SWS, mit vereinzelten Vorfällen in HirShabelle, Galmudug und Jubaland (ACLED 29.11.2024; vgl. ACLED 28.10.2024; ACLED 30.9.2024; ACLED 31.7.2024). In den Monaten Oktober und November 2024 trugen sich 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle als Gewalttaten zwischen al Shabaab und ATMIS bzw. somalischen Sicherheitskräften in der Region Lower Shabelle zu (ACLED 29.11.2024; vgl. ACLED 28.10.2024). Laut einer anderen Quelle ereignet sich der Großteil der Angriffe im Umfeld von Mogadischu, namentlich in Lower und Middle Shabelle (UNSC 28.10.2024). Im Folgenden zeigt eine Landkarte die Schwerpunkte von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen al Shabaab und somalischen Sicherheitskräften im Zeitraum 1.10.-22.11.2024:

Kampfhandlungen zwischen al Shabaab und Sicherheitskräften in Süd-/Zentralsomalia ACLED 29.11.2024

Vereinzelt kommt es seitens al Shabaab auch zu Angriffen mit Artillerie. So wurden etwa am 13.6.2024 Mörsergranaten auf den Flughafen in Baidoa abgeschossen, am 1.7.2024 auf ein Krankenhaus in Baidoa, am 20.8.2024 wurden Raketen auf das UN-Areal in Mogadischu abgefeuert, am 1.9.2024 auf jenes von ATMIS, am 5.9.2024 auf den Flughafen in Mogadischu (UNSC 27.9.2024; vgl. UNSC 28.10.2024).

Gebietskontrolle: Innerhalb der letzten zehn Jahre ist es der Regierung und den Truppen von AMISOM/ATMIS gelungen, die Kontrolle über viele Teile des Landes zurückzuerlangen (THLSC 20.3.2023). Al Shabaab wurde erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB Nairobi 10.2024). Während ATMIS und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (USDOS 15.5.2023; vgl. BS 2024; ÖB Nairobi 10.2024). Gleichzeitig hat al Shabaab die Fähigkeit behalten, in Mogadischu zuzuschlagen (USDOS 15.5.2023). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias befinden sich also teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle von al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 23.8.2024). In Baidoa und Jowhar hat sie stärkeren Einfluss. Ihre Verbündeten kontrollieren viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten (BMLV 7.8.2024).

Einerseits hält al Shabaab gegen einige Städte unter Regierungskontrolle Blockaden aufrecht (HRW 11.1.2024; vgl. BMLV 7.8.2024). Andererseits reicht der Aktionsradius lokaler Verwaltungen oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "Urban Island Scenario" besteht also weiterhin. Das heißt, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und ATMIS sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Gebessert hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle, wo auch Bewegungen zwischen den Orten möglich sind. Als "Inseln" zu bezeichnen sind hingegen z. B. Xudur, Waajid, Diinsoor, Wanla Weyne und Baraawe (BMLV 7.8.2024). Dabei operiert al Shabaab v. a. aus dem ländlichen Raum heraus, übt aber auch auf Städte und Gebiete, die nicht direkt von der Gruppe kontrolliert werden, erheblichen Einfluss aus (BS 2024). In Gebieten, in welchen al Shabaab keine direkte Kontrolle ausübt - sei es wegen der Präsenz von somalischen oder internationalen Sicherheitskräften, sei es wegen der Präsenz von Clanmilizen - versucht die Gruppe die lokale Bevölkerung und die Ältesten durch Störoperationen entlang der Hauptversorgungsrouten zu bestrafen bzw. deren Unterstützung zu erzwingen (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023).

Wie auf der Karte von PGN im Kapitel Sicherheitslage ersichtlich, befinden sich große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab. Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind:

1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; de facto die gesamte Region Middle Juba;

2. Jamaame und Badhaade in Lower Juba;

3. Gebiete um Ceel Cadde und Qws Qurun in der Region Gedo;

4. Gebiete nördlich und entlang des Shabelle in Lower Shabelle, darunter Sablaale und Kurtunwaarey;

5. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;

6. Gebiete rechts und links der Grenzen von Bay mit Bakool bzw. Bakool und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

7. die südliche Hälfte von Galgaduud mit der Stadt Ceel Buur (PGN 28.6.2024);

Generell kann aber kein Gebiet in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden. Insbesondere durch die Infiltration mittels verdeckter Akteure kann die Gruppe nahezu überall aktiv werden. Ein Vordringen größerer Kampfverbände von al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch ATMIS und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und ATMIS – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden. Immer wieder gelingt es al Shabaab, kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte einzunehmen, um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (BMLV 7.8.2024). Al Shabaab hat sich – in begrenztem Ausmaß – fähig gezeigt, Territorien, die bereits durch die Bundesarmee und ATMIS befreit wurden, wieder zurückzuerobern. In der Vergangenheit war das Scheitern, eroberte Territorien erfolgreich zu halten, mit dem Mangel an Polizeipräsenz in den eroberten Gebieten und der allgemein schlechten Moral in der Bundesarmee verbunden, die auf sehr geringe und oftmals verzögerte Besoldung zurückzuführen war (ÖB Nairobi 10.2024).

Andere Akteure: Kämpfe zwischen Clans und Subclans - v. a. um Wasser- und Landressourcen - sind weit verbreitet, insbesondere in den Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle bzw. in Regionen, in denen die Regierung oder staatliche Behörden schwach oder nicht vorhanden sind (ÖB Nairobi 10.2024). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 3.6.2024; vgl. BS 2024), zwischen Clanmilizen und Sicherheitskräften (BS 2024) sowie zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen (AA 23.8.2024). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es auch zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten (USDOS 20.3.2023).

Die Offensive in Zentralsomalia - und auch die Verwendungen von Clanmilizen ("Community Defence Forces") gegen al Shabaab - hat Clanrivalitäten teils verstärkt (BS 2024; vgl. UNGA 23.8.2024; HIPS 7.5.2024). Die Abhängigkeit der staatlichen Sicherheitskräfte von Clanmilizen birgt erhebliche Risiken. Es gibt tiefe Spaltungen zwischen Clans, und Bündnisse mit bestimmten Clans können andere Clans entfremden. Manche haben sich entsprechend mit al Shabaab verbündet (BS 2024). Al Shabaab wiederum zündelt und fördert Clankonflikte. Insgesamt ist nach der Offensive in Zentralsomalia ein Klima der Straflosigkeit entstanden: Clans, die Rechnungen begleichen wollen, müssen keinen Widerstand von staatlicher Seite erwarten – weder von der Bundesarmee noch von den Darawish, die entweder gebunden oder aber nicht existent sind. Neben der Ablenkung durch den Kampf gegen al Shabaab lähmen auch die Wiederwahlambitionen diverser Präsidenten der Bundesstaaten und die Schwäche der Regionalkräfte die Kapazitäten und Handlungsmöglichkeiten der Verwaltungen hinsichtlich von Clankonflikten. Alles in allem gibt es nun mehr und stärkere Clanauseinandersetzungen, z. B. in Qoryooley zwischen den Digil-Clans Jidde und Garre; im Raum Dhusamareb zwischen den Hawiye-Clans Habr Gedir und Duduble; in Mudug zwischen den Hawiye / Sa’ad und Darod / Leelkase; oder in Middle Shabelle zwischen den Hawiye-Clans Abgal und Hawadle (BMLV 4.7.2024). Derartige Clankonflikte führen immer wieder auch zur Vertreibung von Zivilisten (UNSC 27.9.2024). Die Vereinten Nationen berichten in diesem Zusammenhang von Vorfällen in Diinsoor und Qoryooley (SWS), Jowhar (HirShabelle), Luuq (Jubaland) und Cabudwaaq (Galmudug) (UNSC 28.10.2024).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 23.8.2024). Gewaltakte durch bewaffnete Gruppen und Banden und Armutskriminalität sind im gesamten Land weit verbreitet. Bewaffnete Überfälle, Autoraub ("Carjacking"), sexueller Missbrauch und auch Morde kommen häufig vor (AA 3.6.2024). Laut einer Schätzung aus dem Jahr 2017 befinden sich mehr als 1,1 Millionen Handfeuerwaffen in Privatbesitz. Nur ein Bruchteil davon ist registriert (Sahan/SWT 4.12.2023).

Sogenannter Islamischer Staat in Somalia (ISS): Im Jahr 2021 bekannte sich der ISS zu 36 Angriffen, im Jahr 2022 zu 32, bis November 2023 nur zu 9 - davon 3 in Puntland und 6 in Mogadischu (TSD 12.11.2023) [zum ISS siehe insbesondere Sicherheitslage / Puntland].

Durch Konflikte Vertriebene: 2024 wird von UNHCR angegeben, dass bis August des Jahres 343.000 Menschen aus unterschiedlichen Gründen zu Vertriebenen im eigenen Land geworden sind (UNHCR 2024); 2023 waren es insgesamt über 1,5 Millionen Menschen (UNHCR 2023). Bis August 2024 wurden 159.000 Personen durch Konflikte vertrieben. Die meisten neuen IDPs aufgrund von Konflikten gab es - abseits von Somaliland - 2024 bis inklusive August in den Regionen Gedo (50.000), Lower Juba (22.000), Bay (18.000), Mudug (16.000), Middle Juba (15.000) und Lower Shabelle (15.000). Dahingegen wurden in Benadir/Mogadischu (300), Bari (500) und Galgaduud (2.000) deutlich weniger Menschen neu vertrieben, in Nugaal gar keine (UNHCR 2024).

Zivile Opfer: Nach Angaben von Amnesty International war al Shabaab im Jahr 2023 für 312 von 945 getöteten oder verletzten Zivilisten verantwortlich (AI 24.4.2024). Der UN-Sicherheitsrat gibt die Verantwortung von al Shabaab für zivile Opfer im Zeitraum Jänner-Mai 2024 mit 54 % an. An zweiter Stelle folgen staatliche Sicherheitskräfte, danach Clanmilizen und Unbekannte (UNSC 3.6.2024). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (BMLV 7.8.2024).

Zwar richten sich Angriffe von al Shabaab üblicherweise gegen Personengruppen, die von der Gruppe als Feinde erachtet werden, doch kommen dabei auch Zivilisten zu Schaden, welche sich am oder in der Nähe des Ziels aufhalten (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Al Shabaab greift Zivilisten, die nicht in eine der weiter oben genannten Kategorien fallen, nicht spezifisch an (BMLV 7.8.2024). Auch mit Sprengstoffanschlägen greift die Gruppe meist nicht mutwillig Zivilisten an und verwendet diese Taktik - im Vergleich zu anderen Terrorgruppen - gezielter. Dennoch wählt sie in regelmäßigen Abständen Ziele aus, bei denen die Gruppe weiß, dass viele Zivilisten Kollateralschäden erleiden werden - etwa bei Angriffen auf Hotels, Kaffee- oder Teehäuser, Restaurants oder belebte Straßenkreuzungen (FDD/Roggio 11.10.2023).

Für Zivilisten besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023; vgl. BMLV 7.8.2024; FIS 7.8.2020b, S. 24ff) und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (BMLV 7.8.2024; vgl. LIFOS 3.7.2019, S. 25; FIS 7.8.2020b, S. 24). So hat Mogadischu über die Jahre Dutzende Arbeiter der Straßenreinigung verloren, die durch versteckte Sprengsätze getötet wurden, welche entlang von Straßen im dahinter liegendem Müll platziert waren (AJ 21.7.2022). Nach anderen Angaben ist es zwar Zufall, wer konkret einem Anschlag zum Opfer fällt; aber al Shabaab greift wahllos und doch gezielt auch Zivilisten an. Die Intention ist, der Bevölkerung vor Augen zu führen, dass die Regierung sie nicht beschützen kann (ACCORD 31.5.2021, S. 10ff). So stattet al Shabaab etwa beim Zurückgehen im Rahmen einer Regierungsoffensive mitunter verlassene Gebäude mit Sprengfallen aus, die später auch zurückkehrende Zivilisten treffen können (Sahan/SWT 26.2.2024; vgl. Sahan/SWT 29.9.2023). Ein Ziel von al Shabaab ist es, Angst zu verbreiten (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Zivilisten werden in eine Art endemisch-alltägliche Unsicherheit in allen Lebensbereichen versetzt, und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, von einem Anschlag getroffen zu werden, relativ gering ist (ACCORD 31.5.2021, S. 27). Unklar ist, ob auch der Anschlag auf ein Restaurant am Lido Beach in Mogadischu am 2.8.2024 für diese Kategorie gewertet werden kann. Bei diesem komplexen Anschlag wurden mindestens 37 Personen getötet und 250 verletzt - nahezu allesamt Zivilisten (UNSC 27.9.2024; vgl. UNSC 28.10.2024).

Eine [Anm.: ältere, aber weiterhin zutreffende] Grafik des Hiraal Institute bestätigt, dass der wesentliche Fokus von al Shabaab auf den Sicherheitskräften liegt [Anm.: Erklärung zur Grafik: SNA - Bundesarmee; SPF - Polizei; FMS - Bundesregierung; PSF - puntländische Sicherheitskräfte; blau - ca. 5.2021-4.2022; orange - ca. 5.2022-4.2023]:

Die Grafik zeigt den Angriffsfokus der al Shabaab auf unterschiedliche Ziele zwischen Mai 2021 und April 2023 HI 5.2023

Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer jedenfalls unklar und heterogen. Der Experte Matt Bryden veranschaulichte dies im Jahr 2021 mit den Angaben mehrerer Organisationen. So gab es laut UNMAS (Mine Action Service) 2020 wesentlich weniger zivile Tote (454) als im Jahr davor (1.140). Dahingegen berichtet US-AFRICOM von 776 Vorfällen mit insgesamt 2.395 Opfern im Jahr 2020 und 676 Vorfällen mit 1.799 Opfern 2019. US-AFRICOM zählt zivile und militärische Opfer zusammen. Dementsprechend wären 2020 wesentlich mehr Sicherheitskräfte untern den Opfern gewesen als Zivilisten – ein Widerspruch zu den Angaben der UN, wonach Zivilisten die Hauptlast der Sprengstoffanschläge tragen würden. Dies wird auch von ATMIS bestätigt: Demnach richteten sich 2019 28 % der Anschläge direkt gegen Zivilisten, 2020 waren es 20 % (Sahan/Bryden 6.4.2021).

Von den Vereinten Nationen werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) über die letzten Jahre wie folgt angegeben:

Diese Tabelle zeigt die zivilen Opferzahlen, wie sie in Berichten der UN von 2021 bis 2024 angegeben worden sind

(UNSC 27.9.2024; UNSC 3.6.2024; UNSC 2.2.2024; UNSC 13.10.2023; UNSC 15.6.2023; UNSC 16.2.2023; UNSC 1.9.2022a; UNSC 13.5.2022; UNSC 8.2.2022; UNSC 11.11.2021; UNSC 10.8.2021; UNSC 19.5.2021; UNSC 17.2.2021)

Die letzte halbwegs glaubwürdige Volkszählung wurde im Jahr 1975 durchgeführt - auch diese mit signifikanten Einschränkungen (Sahan/SWT 10.5.2023). Neueste Schätzungen gehen von 18,7 Millionen (FSNAU/IPC 23.9.2024b), andere von rund 17 Millionen Einwohnern aus (WFP 26.9.2024; vgl. IPC 13.12.2022). Bei Herannahme von 17 Millionen Einwohnern lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:10.780 [Anm.: Berechnung auf Basis der in vorgenannten Quellen angegebenen Zahlen] (UNSC 27.9.2024).

Luftangriffe: Immer wieder kommt es zu Luftschlägen, v. a. durch die USA. Unter der Trump-Regierung wurden innerhalb von vier Jahren fast 220 Luftangriffe durchgeführt (Sahan/SWT 2.8.2023). Dahingegen waren es 2021 nur 11 (HRW 13.1.2022), 2022 waren es 15 (BMLV 9.2.2023) und 2023 mindestens 13 - v. a. in Zentralsomalia (HRW 11.1.2024). Außerdem führen folgende Länder Luftschläge in Somalia durch: Kenia, z. B. am 22.6.2022 im Grenzgebiet von Gedo zu Kenia (GN 22.6.2022); Äthiopien (VOA 8.8.2022), z. B. am 30.7.2022 in der Region Bakool (SG 31.7.2022); die Türkei führt Drohnenangriffe gegen al Shabaab durch (HRW 11.1.2024; vgl. VOA/Maruf 30.11.2022). Drohnen werden von somalischen und verbündeten Kräften vermehrt eingesetzt (UNGA 23.8.2024). Generell hat die Zahl an Luftangriffen aber erheblich abgenommen, die durchgeführten konzentrieren sich i.d.R. auf höherrangige Angehörige der al Shabaab oder dienen der unmittelbaren Unterstützung der Regierungskräfte im Gefecht, v. a. wenn diese Gefahr laufen, von al Shabaab überwältigt zu werden (BMLV 7.8.2024).

HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle)

Letzte Änderung 2025-01-10 07:06

Die Macht der Regierung von HirShabelle reicht in alle Gebiete östlich des Flusses Shabelle und jedenfalls in die Regionalhauptstädte Jowhar und - in gewissem Maße - Belet Weyne. Die Macawiisley haben beeindruckende Erfolge gegen al Shabaab erzielt und die Gruppe weitgehend aus den östlichen Teilen von Hiiraan und Middle Shabelle verdrängt (BMLV 7.8.2024). Die Regierung hat auch weiterhin die Kontrolle über die Gebiete östlich des Shabelle (UNSC 28.10.2024). Dies sind im wesentlich die einzigen nachhaltigen Erfolge der Regierungsoffensive in Zentralsomalia (BMLV 4.7.2024).

Die Verbindung von Jowhar nach Belet Weyne ist grundsätzlich offen. Die Ortschaften entlang der Straße befinden sich jedenfalls nicht unter Kontrolle von al Shabaab. Die Lage entlang dieser Route hat sich nach Rückschlägen für die Regierungstruppen im September 2023 wieder verschlechtert, ist allerdings nicht mit der schlechten Lage von vor der Offensive 2022 vergleichbar. Generell hat sich die Lage in Ost-Hiiraan und in Middle Shabelle verbessert. Hier sind in weiten Gebieten auch Bewegungen zwischen den Orten möglich (BMLV 7.8.2024). Allerdings sickert al Shabaab teilweise über den Shabelle nach Osten ein (Raum Jowhar - Mahaday) (BMLV 4.7.2024) und greift dann Orte an der Route oder den Verkehr selbst an (BMLV 7.8.2024). Zudem werden ATMIS-Stützpunkte entlang der Hauptversorgungsroute nach und nach an die Bundesarmee übergeben oder aufgelöst. Es sind aber gerade auch diese Stützpunkte, welche die Route sicher gemacht haben (BMLV 4.7.2024).

An der Grenze von Hiiraan zu Middle Shabelle kam es im Jänner 2024 im Streit um Land zu Auseinandersetzungen zwischen Clans. Sechs Menschen wurden dabei getötet. Lokalbehörden unternahmen Vermittlungsversuche (MUST 22.1.2024). Auch im April 2024 kamen dort (Bereich Moqokori und Adan Yabaal) bei Kämpfen zwischen Abgaal und Hawadle sechs Menschen ums Leben (SMN 18.4.2024). Generell tut sich die Regierung von HirShabelle schwer dabei, die zunehmenden Clankonflikte unter Kontrolle zu bringen (UNSC 28.10.2024).

Ende November 2024 wurden bei erneuten Kämpfen entlang der instabilen Grenze zwischen Hiiraan und Middle Shabelle sechs Menschen getötet und zehn weitere verletzt. Die Kämpfe um Ressourcen zwischen Abgaal und Hawadle ereigneten sich im Gebiet von Ceel Dheere. Trotz Versöhnungsbemühungen - darunter ein Treffen von Clanältesten und politischen Führern beider Clans in Mogadischu - ist die Situation weiter eskaliert. Bereits zuvor war es in den Gebieten von Ceel Baraf und Jalalaqsi zu Kampfhandlungen gekommen (HO 30.11.2024). Anfang Dezember konnte ein fragiler Waffenstillstand ausgehandelt werden, der von der Bundesarmee durchgesetzt werden soll (HO 3.12.2024b).

Hiiraan: Belet Weyne, Buulo Barde und Jalalaqsi befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 28.6.2024). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Auch der Bereich entlang der somalisch-äthiopischen Grenze ist als sicher anzusehen (BMLV 7.8.2024). Gemäß Regierungsangaben haben die Hawadle in Hiiraan alle Teile ihres Clangebiets von al Shabaab zurückerobert (Economist 3.11.2022). Im Westen der Region konnten die - maßgeblich aus Hawiye / Hawadle bestehenden - Macawiisley hingegen nicht operieren, da dies das Territorium der Hawiye / Galja'el ist (AQ21 11.2023). Nur noch das südwestliche Hiiraan befindet sich unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 28.6.2024). Die Präsenz von Kämpfern der al Shabaab im westlichen Hiiraan ist 2024 allerdings gewachsen (BMLV 7.8.2024).

In Belet Weyne ist die Sicherheitslage unverändert vergleichsweise stabil, es kommt nur sporadisch zu Gewalt oder Attacken der al Shabaab. In der Stadt befinden sich das Regionalkommando der Bundesarmee sowie Stützpunkte dschibutischer ATMIS-Truppen und der äthiopischen Armee. Zusätzlich gibt es einzelne Polizisten und Teile einer Formed Police Unit von ATMIS. Zudem gibt es eine relativ starke Bezirksverwaltung und lokal rekrutierte Polizeikräfte. Clankonflikte werden nicht in der Stadt, sondern mehrheitlich außerhalb ausgetragen. Die in Belet Weyne vorhandene Präsenz der al Shabaab scheint kaum relevant (BMLV 7.8.2024).

Im März 2024 wurden bei Auseinandersetzungen zwischen Kräften von HirShabelle und Milizen der Region Hiiraan in und im Umfeld der Stadt sechs Menschen - darunter Zivilisten - getötet (HO 14.3.2024; vgl. UNSC 3.6.2024). Der Gewaltausbruch wird als Fortsetzung der Absetzung des Gouverneurs von Hiiraan, Ali Jeyte Osman, im Juni 2023 durch den Präsidenten des Bundesstaates gewertet (HO 14.3.2024). Älteste der Hawadle haben einen Waffenstillstand vermittelt, eine Clankonferenz wurde einberufen (UNSC 3.6.2024). Allerdings ist es auch im Oktober 2024 zu Auseinandersetzungen zwischen Hawadle-Milizen und Kräften von HirShabelle gekommen (Sahan/SWT 30.10.2024).

Middle Shabelle: Jowhar, Balcad, Adan Yabaal und Cadale befinden sich unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS (PGN 28.6.2024; vgl. BMLV 7.8.2024). Die beiden erstgenannten Städte können hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden (BMLV 1.12.2023). Auch in Adan Yabaal befinden sich starke Kräfte der Bundesarmee, der Bereich ist keiner unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt (Sahan/SWT 1.9.2024). Ansonsten findet sich die Armee nur in kritischen Gebieten - also entlang der Hauptversorgungsrouten (Sahan/STDOK/SEM 4.2023). Al Shabaab wurde im Dezember 2022 aus der Bezirkshauptstadt Adan Yabaal vertrieben. Die Stadt war seit 2016 eine wichtige Bastion der Gruppe (VOA 6.12.2022). In Middle Shabelle befindet sich lediglich noch ein schmaler Streifen im Nordwesten, westlich des Shabelle an der Grenze zu Hiiraan, unter Kontrolle von al Shabaab (PGN 28.6.2024; vgl. BMLV 7.8.2024).

Gemäß Angaben vom September 2024 übt al Shabaab aber zunehmend militärischen Druck auf das Gebiet um Balcad aus (Sahan/SWT 1.9.2024). Im August 2024 hatte al Shabaab die Stadt Balcad kurzfristig gestürmt (GO 13.8.2024). Schon im April des Jahres war die Gruppe mit stärkeren Kräften in die Stadt vorgedrungen und haben sich kurz darauf wieder zurückgezogen (SMN 6.4.2024). Laut Vereinten Nationen kommt es in Balcad zur Einschüchterung und zu Unsicherheit durch al Shabaab und andere bewaffnete Kräfte (UNSC 28.10.2024).

Jowhar gilt als relativ ruhig. Dort befinden sich das Brigadekommando der burundischen ATMIS-Kräfte und ein Bataillon dieser Truppen (BMLV 7.8.2024).

Im Bezirk Cadale waren im November 2022 Clanauseinandersetzungen ausgebrochen, nachdem sich al Shabaab aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Auslöser war ein Landkonflikt, es gab Dutzende Tote (HO 29.11.2022; vgl. FTL 18.11.2022). Die somalische Regierung hat Sicherheitskräfte entsandt (RD 1.12.2022), Friedensverhandlungen wurden in Gang gesetzt (FTL 18.11.2022). Im Oktober 2023 sind Clankonflikte im Bezirk aber wieder aufgeflammt (MUST 24.10.2023).

Vorfälle: In den beiden Regionen Hiiraan (420.060) und Middle Shabelle (961.554) leben nach Angaben einer Quelle 1,381.614 Einwohner (IPC 13.12.2022). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2022 insgesamt 36 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "Violence against Civilians"). Bei 28 dieser 36 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2023 waren es 29 derartige Vorfälle (davon 20 mit je einem Toten) (ACLED 2023). In der Zusammenschau von Bevölkerungszahl und Violence against Civilians ergeben sich für 2023 folgende Zahlen (Vorfälle je 100.000 Einwohner): Hiiraan 5,00; Middle Shabelle 0,83;

In der Folge eine Übersicht für die Jahre 2013-2023 zur Gesamtzahl an Vorfällen mit Todesopfern sowie zur Subkategorie "Violence against Civilians", in welcher auch "normale" Morde inkludiert sind. Die Zahlen werden in zwei Subkategorien aufgeschlüsselt: Ein Todesopfer; mehrere Todesopfer. Es bleibt zu berücksichtigen, dass es je nach Kontrolllage und Informationsbasis zu over- bzw. under-reporting kommen kann; die Zahl der Todesopfer wird aufgrund der Schwankungsbreite bei ACLED nicht berücksichtigt:

Dieses Bild zeigt Grafiken zur Entwicklung der gewaltsamen Vorfälle in den Regionen Hiiraan und Middle Shabelle in den Jahren 2013 bis 2023. ACLED 12.1.2024

Rechtsschutz, Justizwesen

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2025-01-16 14:10

Die Rechtsordnung in Somalia richtet sich nach einer Mischung des von 1962 stammenden nationalen Strafgesetzbuches sowie traditionellem (Xeer) und islamischem Gewohnheitsrecht (Scharia) (AA 3.6.2024; vgl. BS 2024; MBZ 6.2023) sowie der Übergangsverfassung aus dem Jahr 2012 (Omer2/ALRC 17.3.2023). Die unterschiedlichen Rechtsformen sind nicht gut integriert (MBZ 6.2023). Mit dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia bildet die Grundlage jeder Rechtssprechung, und der Staat muss sich religiösen Normen beugen (BS 2024). Sie bildet damit die Hauptdeterminante jeglichen Rechts (Omer2/ALRC 17.3.2023). Aufgrund des Versagens und der Ineffektivität der formellen staatlichen Justiz sind traditionelles Recht, islamische Rechtsprechung und Gerichte von al Shabaab häufige Quellen für Streitbeilegungen (HIPS 3.2021, S. 13; vgl. BS 2024; SPC 9.2.2022).

Gewaltenteilung: Die Grundsätze der Gewaltenteilung sind in der Verfassung von 2012 niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere (AA 23.8.2024; vgl. USDOS 22.4.2024), und es gibt keine strenge Trennung der Gewalten, weder auf Bundes- noch auf Bundesstaatsebene (BS 2024).

Rechtsstaatlichkeit: Ebenso gibt es keine landesweite Rechtsstaatlichkeit (BS 2024). Eine landesweite Implementierung und einheitliche Anwendung der von der somalischen Bundesregierung vorgegebenen Bestimmungen ist nicht gesichert (AA 3.6.2024). Selbst in Gebieten, die offiziell von der Regierung kontrolliert werden, ist das Justizsystem ebenso dysfunktional wie die Regierung selbst. Entscheidungen staatlicher Gerichte sind weitgehend nicht durchsetzbar (Rollins/HIR 27.3.2023). Die bloße Existenz des parallelen Rechtssystems von al Shabaab, das noch dazu von einer Gruppe angeboten wird, die ausdrücklich auf den Sturz der bestehenden Regierung hofft, zeigt, dass der somalische Staat nicht in der Lage ist, den Rechtsstaat durchzusetzen (Rollins/HIR 27.3.2023). Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen (BS 2024). In der Bevölkerung herrscht die Auffassung, wonach Bundes- und Regionalregierungen bislang daran scheitern, Recht zu sprechen (AJ 14.9.2022b).

Oft halten sich Behörden nicht an gerichtliche Anordnungen (USDOS 22.4.2024; vgl. FH 2024b), Staatsvertreter und Bürger nicht zwangsläufig an Gerichtsurteile (BS 2024). Das Ignorieren von Urteilen bringt keine Konsequenzen mit sich (Sahan/SWT 21.11.2022). Durchgesetzt wird formelles Recht eher noch im urbanen als im ländlichen Kontext (ACCORD 31.5.2021, S. 36). Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (FH 2024b). Gegen Urteile ordentlicher Gerichte wird mitunter im traditionellen oder islamischen Rechtsrahmen Berufung eingelegt. Fälle von IDPs werden von Gerichten oft ignoriert und diese dazu gedrängt, Probleme über Älteste zu lösen (TANA/ACRC 9.3.2023). Der fehlende Zugang zu einem fairen und gerechten Justizsystem ist eines der dringendsten Probleme, mit denen Somalia auf dem Weg zu Stabilität und Wiederaufbau konfrontiert ist (MBZ 6.2023).

Staatlicher Schutz: Von einer flächendeckenden effektiven Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden (AA 23.8.2024). Der Hauptgrund, weswegen Menschen Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen, ist es, dass die Regierung Einzelpersonen und Betrieben nicht ausreichend Sicherheit bieten kann (UNSC 10.10.2022). Staatlicher Schutz muss in Süd-/Zentralsomalia aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz als schwach bis nicht gegeben gesehen werden (ÖB Nairobi 10.2024). Befinden sich IDPs oder Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. TANA/ACRC 9.3.2023). Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz. Staatliche Sicherheitskräfte sind i.d.R. zu schwach, um hier effektiv eingreifen zu können. Daher wird die „Regelung“ grundsätzlich den Clans selbst überlassen (ÖB Nairobi 10.2024).

Eine Quelle fasst die Situation hinsichtlich staatlichen Schutzes folgendermaßen zusammen: Für Staatsbürger ist es weiterhin schwierig, Zugang zu Justiz und staatlichem Schutz zu erhalten. Den für die Sicherheit der Bürger verantwortlichen Institutionen mangelt es i.d.R. an der Fähigkeit oder Bereitschaft, wirksamen Schutz zu bieten. Sie verfügen nur über sehr geringe Kapazitäten, um die Sicherheit der Bürger gewährleisten zu können. Zudem hat die allgegenwärtige Korruption das Vertrauen der Bürger in das Handeln dieser Institutionen geschwächt. Da die Behörden meist Clan-orientiert organisiert sind, können Angehörige größerer Clans bzw. von Clans, die auf lokaler Ebene dominieren, eher staatlichen Schutz erhalten als kleinere bzw. Minderheitenclans. Aufgrund all dieser Tatsachen bevorzugen viele Bürger die Beilegung von Streitigkeiten über informelle Strukturen (i.d.R. Xeer und/oder Scharia) innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft (MBZ 6.2023).

Formelle Justiz - Struktur, Zuständigkeit, Verfügbarkeit: De facto gibt es kein funktionierendes formelles Justizsystem (MBZ 6.2023). Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems sind mangelhaft (AA 23.8.2024). In den vergangenen zehn Jahren wurden in Mogadischu Gerichte auf Bezirksebene und einige Gerichte in anderen Städten eingerichtet. Es gibt jedenfalls zwei Bezirksgerichte in HirShabelle, sechs im SWS, acht in Jubaland und eines in Galmudug. Viele dieser Gerichte verfügen jedoch nur über begrenzte Kapazitäten. Die Gerichte sind für die Straf- und Zivilrecht zuständig. Darüber hinaus gibt es in Mogadischu ein Berufungsgericht und den Obersten Gerichtshof. Puntland und Somaliland haben jeweils ihr eigenes formelles und hierarchisches Gerichtssystem (BS 2024). Insgesamt gibt es aber nur wenige staatliche Gerichte, Menschen müssen oft weite Reisen in Kauf nehmen (Sahan/SWT 21.11.2022). Generell sind Gerichte nur in größeren Städten verfügbar (BS 2024; vgl. USDOS 22.4.2024). Die internationale Unterstützung fokussiert maßgeblich auf das Strafrecht, während Zivilrecht und Verfassungsreform vernachlässigt werden. De facto ist eine Zivilgerichtsbarkeit nur in größeren Städten verfügbar (Omer2/ALRC 17.3.2023).

Beispiel Kismayo (Stand 2021): In dieser Stadt gibt es zwei Bezirksgerichte, ein Obergericht und ein Berufungsgericht. Zudem existieren ein Ältestenkomitee, wohin Streitigkeiten getragen werden können (Xeer) und private Schariagerichte. Die drei Justizsysteme koordinieren sich unter dem Schirm der formellen Gerichte, endgültige Entscheidungen werden von diesen getroffen. Abseits davon wurde ein spezielles Land-Komitee geschaffen, das sich mit komplexen und sensiblen Streitigkeiten um Land befasst. Dieses Komitee verfügt über eine eigene Polizeieinheit, um Beschlüsse durchzusetzen (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021).

Formelle Justiz - Kapazitäten, Verfahrensrechte: Den Gerichten mangelt es an Kapazitäten, Personal, Ausbildung und Infrastruktur (BS 2024). Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt (FH 2024b; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023). Gleichzeitig kosten Verfahren bis zu 5.000 US-Dollar und diese können sich über Jahre hinziehen (Sahan/SWT 21.11.2022; vgl. AJ 14.9.2022b). Ein Grund für die hohen Kosten stellen ausständige Gehälter für Richter dar (BS 2024). Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt (AA 23.8.2024). Die meisten gesetzlich vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nur selten eingehalten (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024).

Oft werden Richter und Staatsanwälte nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt (SIDRA 11.2019). Viele Richter staatlicher Gerichte sind ausschließlich im Bereich der Scharia ausgebildet worden, z. B. im Sudan (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Richtern und Staatsanwälten mangelt es außerdem an Kenntnissen zu Menschenrechten (UNHRCOM 6.5.2024).

UNODC leistet Weiterbildung für Staatsanwälte und Richter in Mogadischu (FTL 24.7.2022), und auch UNSOM trägt zur Ausbildung von Richtern und Justizpersonal bei (UNSC 2.2.2024). In Mogadischu konnten hinsichtlich der Qualität der Richter Verbesserungen beobachtet werden (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021). Seit 2016 ist es zu einer signifikanten Ausweitung von unentgeltlicher Rechtshilfe gekommen, allerdings ist das Ausmaß immer noch unzureichend (OHCHR 2.12.2022). UNDP unterstützt in Puntland seit 2007 das Puntland Legal Aid Centre (PLAC). Dieses hilft vulnerablen, armen und benachteiligten Menschen in IDP-Lagern und entlegenen Gegenden. Das PLAC hat Büros in Garoowe, Bossaso und Galkacyo (UNSOM 12.11.2022).

Formelle Justiz - Unabhängigkeit: In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt (AA 23.8.2024). Die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit der Justiz wird nicht immer respektiert (USDOS 22.4.2024; vgl. BS 2024). Das Clansystem unterminiert die Strafjustiz. Clanführer üben Macht und Einfluss aus (Sahan/SWT 21.11.2022), und Urteile werden mitunter durch Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst (USDOS 22.4.2024; vgl. FH 2024b). Einige lokale Gerichte sind bei ihrer Rechtsdurchsetzung vom örtlich dominanten Clan abhängig (USDOS 22.4.2024).

Formelle Justiz - Korruption: Zudem spielen in der somalischen Justiz Bestechlichkeit und Korruption eine Rolle (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. Sahan/SWT 21.11.2022; BS 2024; FH 2024b). Diese behindert den Zugang zu fairen Verfahren (USDOS 22.4.2024). Richter und Staatsanwälte verlangen mitunter Bestechungsgelder (SIDRA 11.2019). In einigen Fällen wurden Häftlinge entlassen, nachdem sich Sicherheitskräfte, Angehörige der Justizwache, Politiker oder Clanälteste für sie eingesetzt hatten (USDOS 22.4.2024; vgl. SIDRA 11.2019). Laut einem Experten können Entscheidungen bei staatlichen Gerichten erkauft werden (AQSOM 4 6.2024). In anderen Worten ist [Zitat] 'die somalische Justiz ein Marktplatz, an welchem Gefallen, Einfluss und Geld ausgetauscht werden' (Sahan/SWT 9.4.2021). Dementsprechend ergeben sich tendenziell Benachteiligungen für wirtschaftlich schwächere Gruppen und Minderheiten (ÖB Nairobi 10.2024).

Militärgerichte: Grundsätzlich sind Militärgerichte für Fälle von islamistischem Terrorismus und Milizgewalt zuständig (BS 2024). Allerdings verhandeln und urteilen sie weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen (AA 23.8.2024; vgl. BS 2024; FH 2024b), bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (USDOS 22.4.2024). Nach anderen Angaben widerspricht der Einsatz von Militärgerichten oftmals der Übergangsverfassung (Sahan/SWT 16.9.2022). Verfahren vor Militärgerichten entsprechen teilweise nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren (AA 23.8.2024; vgl. HRW 11.1.2024; BS 2024; FH 2024b). Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung zugestanden (USDOS 22.4.2024; vgl. Sahan/SWT 21.6.2023). Manchmal können zum Tode Verurteilte in Berufung gehen (USDOS 22.4.2024). Laut einem Bericht über ein von einem Militärgericht gegen einen Soldaten ausgesprochenes Todesurteil wurde diesem ein Monat Berufungsfrist eingeräumt (HO 4.12.2022).

Traditionelles Recht - Xeer und Scharia: Das informelle Justizsystem (Scharia und Xeer) spielt eine entscheidende Rolle bei der Gewährleistung von Gerechtigkeit. 80-90 % der Somali bevorzugen dieses System, denn es gilt als leichter zugänglich, schneller, transparenter und billiger (MBZ 6.2023; vgl. Omer2/ALRC 17.3.2023; SPC 9.2.2022). Sucht jemand Gerechtigkeit, wendet er sich zuallererst an die Ältesten (AQSOM 4 6.2024). Durch Älteste und al Shabaab werden selbst in Mogadischu mehr Fälle abgewickelt als durch formelle Gerichte (Majid/Abdirahman/LSE 26.3.2021).

Xeer fußt zu großen Teilen auf der Scharia sowie auf kulturellen Traditionen und religiösen und sozialen Normen (Omer2/ALRC 17.3.2023). Es wird angenommen, dass Xeer schon vor islamischen oder kolonialen Ordnungen existiert hat. In der provisorischen Verfassung wird Xeer als traditioneller Konfliktlösungsmechanismus anerkannt. Mit einer eigenen Policy zu traditioneller Konfliktlösung soll die Anwendung von Xeer reguliert und auf "nicht-schwere" Verbrechen begrenzt werden. Tatsächlich wird Xeer bei Strafverbrechen auf unterschiedliche Art und Weise angewendet (USDOS 30.6.2024). Jedenfalls können etwa Mordfälle von Ältesten im Xeer abgehandelt werden, oft enden die Verhandlungen mit einer finanziellen Kompensation (Diya/Mag) (Sahan/SWT 16.9.2022). Geschädigte Clans oder Einzelpersonen sind auf die im Xeer zwischen den Clans getroffenen Vereinbarungen angewiesen, um eine Entschädigung zu erhalten. Dort finden sich Regelungen nach Art und Ausmaß der Straftat sowie hinsichtlich der Person des Täters und des Opfers. Verhandlungen können entweder bilateral oder multilateral zwischen Clans geführt werden. Älteste sind in diesem System die maßgeblichen Akteure (TANA/ACRC 9.3.2023). Im Xeer werden Vorbringen von Fall zu Fall verhandelt und von Ältesten implementiert (BS 2024). Clanälteste sehen sich örtliche Präzedenzfälle an, bevor sie die relevanten Passagen der Scharia heranziehen (USDOS 30.6.2024). Xeer als ungeschriebenes Gewohnheitsrecht kann in seiner Praxis je nach geografischer Lage und Kultur verschiedener Clangruppen stark variieren. Zudem enthält Xeer Überreste von Praktiken, die entweder verboten sind oder nicht anderweitig in der Scharia widergespiegelt werden (z. B. FGM) (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. MBZ 6.2023).

Xeer dient im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten (USDOS 22.4.2024) und ist auch für den sozialen Frieden bzw. den gesellschaftlichen Zusammenhalt von Bedeutung (SPC 9.2.2022). Xeer ist einerseits in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Andererseits dient Xeer auch in den Städten oft der Konfliktlösung – z. B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern (SEM 31.5.2017, S. 34). Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität (STDOK 8.2017, S. 100). Es kommt also auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren (LIFOS 9.4.2019).

Und obwohl das traditionelle Rechtssystem oft weiteres Blutvergießen verhindert, führt es gleichzeitig zu Straflosigkeit und unterminiert die Strafjustiz (Sahan/SWT 16.9.2022). In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück (LIFOS 9.4.2019), in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer (LIFOS 1.7.2019). Es ist möglich, sich selbst bei schweren Verbrechen (Mord, Vergewaltigung) und nach einer Verurteilung durch ein staatliches Gericht im Rahmen des traditionellen Rechts freizukaufen bzw. die Strafe durch Kompensation zu tilgen (FTL 8.9.2022). Zudem kann im Xeer mitunter gegen Urteile ordentlicher Gerichte Berufung eingelegt werden (TANA/ACRC 9.3.2023). Frauen haben im Xeer kaum eine Stimme, können in diesem System nicht selbst aktiv werden und sind auf ein männliches Netzwerk angewiesen (LIFOS 1.7.2019; vgl. MBZ 6.2023).

Clanschutz im Xeer: Clans und die Androhung von Rache bieten den somalischen Bürgern ein unterschiedliches Maß an Schutz (BS 2024). Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z. B. wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen (SEM 31.5.2017).

Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan (FIS 7.8.2020b). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, dass etwa bei der Abwicklung von Unfällen zumeist Clans involviert sind, während sich die Polizei heraushält. Demnach sind jene Personen, die tatsächlich im Gefängnis sitzen, v. a. diejenigen, die von ihrem Clan zurückgelassen wurden oder vor Ort Außenseiter sind (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (SEM 31.5.2017).

In diesem System wird die Gerechtigkeit von den Clanältesten verwaltet, denn Xeer konzentriert sich vorwiegend auf die Interessen des Clans oder Subclans und die gegenseitigen Beziehungen zwischen Clan und Subclans und nicht auf die Interessen des Opfers einer Straftat (MBZ 6.2023). Gleichzeitig bedeutet der Ausdruck „Clanschutz“ in diesem Zusammenhang traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei (SEM 31.5.2017). Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle (SEM 31.5.2017; vgl. ÖB Nairobi 10.2024), denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden (SEM 31.5.2017). Die patrilineare Abstammungsgemeinschaft - der Clan - schaltet sich also in Konfliktfällen ein, etwa bei Landkonflikten, Unfällen mit Personenschaden, bei Tötungsdelikten und Vergewaltigungen (ACCORD 31.5.2021). Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (Wissenschaftl. Mitarbeiter GIGA 3.7.2018).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler (Landinfo 15.5.2018). Das traditionelle Justizsystem hat für Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt, Kinder, Minderheitenclans, Behinderte und IDPs oft negative Auswirkungen (SPC 9.2.2022). Außerdem kann z. B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren (SEM 31.5.2017). Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden (USDOS 22.4.2024). Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv (UNHRC 6.9.2017). Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z. B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (SEM 31.5.2017).

In einer Dokumentation der Deutschen Welle berichten Clan-Älteste, dass sie bzw. Sultans im ganzen Clan Geld sammeln. Bei einem Mordfall müssen z. B. 50.000 US-Dollar gesammelt werden. Die Ältesten telefonieren dann mit Clan-Mitgliedern und diese geben jeweils 5-200 US-Dollar. Die Zahlung ist dabei nicht optional, sondern verpflichtend. Bei einer Verweigerung erfolgt eine Bestrafung. Selbst zum Tode verurteilte Mörder können so gerettet werden. Diese bleiben lediglich so lange in Haft, bis der Clan des Opfers das Geld erhält (DW 3.2021). Diese Art des "Fundraising" nennt sich Qaraan (Majid/Abdirahman/Hassan 2017).

Scharia: Grundsätzlich dient die Scharia bei Entscheidungen in Familienangelegenheiten (Omer2/ALRC 17.3.2023). Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen (BS 2024). Frauen können im Rahmen der Scharia effektiver Recht bekommen als im sehr patriarchalen und oft auch intransparenten traditionellen Recht (ACCORD 31.5.2021, S.32).

Recht bei al Shabaab: In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab verfügt die Gruppe über das Gewaltmonopol – auch hinsichtlich der Durchsetzung von Gerichtsurteilen, denen mit Drohungen und Gewalt Nachdruck verliehen wird (Sahan/SWT 21.11.2022). Außerdem wird dort das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der streng wahhabitischen Ideologie der Gruppe nicht anerkannt (AA 23.8.2024). Al Shabaab folgt einer eigenen, strengen (salafistischen) Auslegung der Scharia (BS 2024; vgl. USDOS 22.4.2024). Xeer kommt fallweise zum Einsatz (USDOS 30.6.2024; vgl. MBZ 6.2023), wo es nicht der eigenen Interpretation der Scharia widerspricht (BS 2024). Eine Quelle berichtet von einer Kombination von Xeer und Scharia (Rollins/HIR 27.3.2023). Jedenfalls gibt es dort kein formelles Justizsystem (USDOS 22.4.2024).

In von der Gruppe kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebstahl oder Hinrichtungen für Ehebruch (AA 23.8.2024; vgl. BS 2024; MBZ 6.2023; AJ 14.9.2022b). Die Polizei (Hisba) der al Shabaab verhaftet Personen mitunter für "Vergehen" wie Rauchen, Musikhören, das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs (USDOS 22.4.2024; vgl. TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022) bzw. das Nichtbefolgen gegebener Kleidervorschriften (BS 2024), den Verkauf von Khat, wegen eines unordentlichen Haar- oder Bartschnittes (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022; vgl. CFR 6.12.2022a), unerlaubter Inhalte auf dem Mobiltelefon, Fußballschauens oder -spielens (USDOS 22.4.2024). In manchen Regionen wurden Frauen zu Prügelstrafen verurteilt, weil sie ohne männlichen Verwandten das Haus verlassen haben (BS 2024). Die Vorschriften werden nicht einheitlich durchgesetzt (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022), das Strafmaß ist mitunter kreativ. So verlangt al Shabaab beispielsweise von Personen, die mit Zigaretten erwischt werden, als Strafe eine AK-47 mit 120 Schuss Munition. Schon oftmals konnten Älteste die lokale al Shabaab davon überzeugen, diese Bestimmung nicht umzusetzen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Al Shabaab hat ein Netzwerk von Gerichten im ganzen Land aufgebaut (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. BS 2024). Neben zahlreichen permanenten Gerichten kommen auch mobile Gerichte in von der Regierung kontrollierten Gebieten zum Einsatz (Sahan/SWT 21.11.2022; vgl. AJ 14.9.2022b). Über die Jahre haben diese Gerichte einiges an Popularität und Akzeptanz in der Bevölkerung gewonnen – selbst in einigen von der Regierung kontrollierten Gebieten und bei einigen Angehörigen der Diaspora (Sahan/SWT 21.11.2022; vgl. BS 2024). Al Shabaab verfügt über vier Arten von Gerichten: allgemeine Gerichte, die sich um jegliche Konflikte abseits von Landstreitigkeiten kümmern; Sondergerichte für Landstreitigkeiten; Berufungsgerichte; und Gerichte der „Sicherheitskräfte“. Das Berufungsgericht befasst sich nur mit Landstreitigkeiten, da diese Interpretationsspielraum zulassen. Daher darf gegen solche Urteile Berufung eingelegt werden. Alle anderen Angelegenheiten werden nach schriftlichen Regeln behandelt, die auf dem Koran und der Sunna basieren. Unabhängig davon befassen sich die Gerichte der „Sicherheitskräfte“ einerseits mit Verbrechen, die von Mitgliedern der al Shabaab begangen wurden, und andererseits mit mutmaßlichen Spionen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Obwohl al Shabaab Prozesskosten bzw. Gerichtsgebühren einhebt (HIPS 4.2021), bevorzugen viele Menschen ihre Gerichte – auch Personen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 23.8.2024; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023; Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023) und selbst Soldaten und Polizisten (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. SG 16.8.2022). Die Gerichte von al Shabaab werden im Vergleich zur staatlichen Gerichtsbarkeit als leichter zugänglich, transparenter, fairer, schneller und billiger, weniger oder nicht korrupt und insgesamt effizienter beschrieben (MBZ 6.2023; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023; BS 2024; AA 23.8.2024; ÖB Nairobi 10.2024). Die Prozesse bei al Shabaab sind rasch beendet (AJ 14.9.2022b), werden mitunter innerhalb weniger Tage abgewickelt (Sahan/SWT 21.11.2022) - es kommt dort zumindest zu einer Entscheidung (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Laut einem Experten schlägt sich ein Gericht der Gruppe mitunter auf die Seite jener Partei, von der sie sich langfristig eine Gegenleistung erwarten kann (AQSOM 4 6.2024). Allerdings bieten die Schariagerichte von al Shabaab manchmal die einzige Möglichkeit, überhaupt Gerechtigkeit zu erfahren (SRF 27.12.2021). Für manche Gruppen - v. a. Frauen und Minderheiten - die von der formellen und der traditionellen Justiz marginalisiert werden, bietet al Shabaab einen wirksameren Rechtsschutz (MBZ 6.2023). Für manche Frauen sind diese Gerichte z. B. die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen (UNSC 1.11.2019). Auch Opfer sexueller Gewalt bevorzugen laut einer Quelle die Gerichte von al Shabaab (MBZ 6.2023).

Die "Schattengerichte" der al Shabaab behandeln eine Vielzahl von Streitigkeiten, etwa hinsichtlich natürlicher Ressourcen, bei wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten oder bei Vorwürfen der Clandiskriminierung. Sie befassen sich zudem mit Fragen der Erpressung, Korruption und rechtswidrigen Verhaftungen, was bedeutet, dass die Gruppe Regierungs- und Strafverfolgungsbeamte sowie Zivilisten "strafrechtlich" verfolgt (Rollins/HIR 27.3.2023). Auch Land- und Vertragsstreitigkeiten - etwa zwischen Wirtschaftstreibenden - werden häufig von al Shabaab verhandelt, mitunter aber auch Zivil- und Strafrechtssachen (Sahan/SWT 21.11.2022; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023; VOA 17.8.2022; SG 16.8.2022). Urteile können laut einer Quelle auch via Telefon verkündet werden (MBZ 6.2023). Gegen Urteile von Gerichten der al Shabaab kann Berufung eingelegt werden (AJ 14.9.2022b). Manchmal heben Gerichte der Gruppe Urteile formeller Gerichte auf (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. AJ 14.9.2022b).

Für die Menschen scheint al Shabaab am ehesten dazu in der Lage zu sein, Gesetze (AQSOM 4 6.2024) und Gerichtsurteile energisch und streng durchzusetzen (MBZ 6.2023; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023). Dies geschieht durch Gewalt bzw. die Androhung von Gewalt (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023; AA 23.8.2024) - auch in von der Regierung kontrollierten Gebieten (AA 23.8.2024). Wenn sich jemand nicht daran hält, riskiert er Raub, Verletzung oder seinen eigenen oder den Tod von Angehörigen (Rollins/HIR 27.3.2023).

Die Bundesregierung möchte diesen Gerichten ein Ende setzen, um den Einfluss von al Shabaab zu reduzieren (Sahan/SWT 21.11.2022). Sicherheitskräfte haben damit begonnen, Menschen und Älteste, die sich an Gerichte der al Shabaab wenden bzw. mit der Gruppe kooperieren, zu verhaften (SD 26.9.2022). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 werden die Gerichte im Umfeld von Mogadischu auch tatsächlich weniger frequentiert (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Andererseits warnt al Shabaab Menschen davor, Regierungsgerichte anzurufen, und bedroht Zivilisten, wenn sie dies tun. Laut einer Schätzung landen 80 % der Fälle von Landstreitigkeiten vor Gerichten der al Shabaab (Rollins/HIR 27.3.2023).

Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (SEM 31.5.2017), es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (Landinfo 21.5.2019a). Die Gerichte von al Shabaab arbeiten manchmal direkt mit Clans und Ältesten zusammen (Rollins/HIR 27.3.2023). Laut Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 sind z. B. in den Gebieten der al Shabaab - also unter ihrer „Jurisdiktion“ - grundsätzlich die Clans zuständig, wenn dort ein Mord verübt wird. Wenn aber das Opfer ein Mitglied der al Shabaab ist, dann unterliegt der Fall einem Gericht der Gruppe (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Angehörige von Minderheiten sehen Gerichte von al Shabaab als neutraler und nutzen diese daher (Rollins/HIR 27.3.2023; vgl. Sahan/SWT 21.11.2022). Laut Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 unterstützt al Shabaab oftmals schwächere gegenüber stärkeren Clans (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Älteste haben die Macht, bei al Shabaab in allen Angelegenheiten zu intervenieren, bei denen es sich nicht um Spionage oder Körperverletzungsdelikte handelt (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Zum Verhältnis von al Shabaab zu Clans siehe auch Al Shabaab

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v. a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen. Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 23.8.2024).

Wehrdienst und Rekrutierungen

Al Shabaab - (Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten

Letzte Änderung 2025-01-16 14:09

Kindersoldaten: Al Shabaab entführt auch weiterhin Kinder, um diese zu rekrutieren (UNSC 2.2.2024; vgl. HRW 11.1.2024; BS 2024). Hauptsächlich betroffen sind hiervon die Regionen Hiiraan, Bay, Lower Shabelle, Bakool und Middle Juba (UNSC 2.2.2024). Al Shabaab führt u. a. Razzien gegen Schulen, Madrassen und Moscheen durch (USDOS 22.4.2024). Die Gruppe entführt systematisch Kinder von Minderheitengruppen (BS 2024). Nach anderen Angaben bleibt die freiwillige oder Zwangsrekrutierung von Kindern aber unüblich und hauptsächlich auf jene Gebiete beschränkt, wo al Shabaab am stärksten ist (Sahan/SWT 6.5.2022). Familien, die sich weigern, müssen mit Bußgeldern rechnen; manchmal werden sie auch mit Strafverfolgung oder Schlimmerem bedroht. Manche Familien schicken ihre Buben weg, damit sie einer Rekrutierung entgehen (Sahan/SWT 6.5.2022). Manchmal werden Clanälteste bedroht und erpresst, damit Kinder an die Gruppe abgegeben werden (USDOS 22.4.2024). Mitunter wird hierbei auch Gewalt angewendet (BS 2024). Knapp die Hälfte der Kinder wird mittels Gewalt und Entführung rekrutiert, die andere durch Überzeugung der Eltern, Ältesten oder der Kinder selbst (AA 23.8.2024). Eingesetzt werden Kinder etwa als Munitions- und Versorgungsträger, zur Spionage, als Wachen; aber auch zur Anbringung von Sprengsätzen, in Kampfhandlungen und als Selbstmordattentäter (USDOS 22.4.2024). Laut einer Quelle kann es zwar sein, dass al Shabaab auch Kinder von 8-12 Jahren aushebt; tatsächlich ist demnach der Einsatz von Kindern im Kampf aber unwahrscheinlich. Es gibt keine Bilder derart junger Kämpfer der al Shabaab unter den Gefallenen. Die Jüngsten sind mindestens 16 Jahre alt, entsprechend somalischer Tradition gelten sie damit als Männer. Die überwiegende Mehrheit der Kämpfer der Gruppe sind jedenfalls Männer über 18 Jahren (BMLV 7.8.2024).

Schulen und Lager: Viele der den Clans abgerungenen Kinder kommen zunächst in Schulen, wo sie indoktriniert und rekrutiert werden (USDOS 22.4.2024; vgl. UNSC 6.10.2021). Die Gruppe betreibt eigene Schulen mit eigenem Curriculum (VOA/Maruf 16.11.2022) und hat ein Bildungssystem geschaffen, das darauf ausgerichtet ist, Rekruten hervorzubringen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Die Gruppe verbot andere islamische Schulen und hat eigene gegründet, die als „Islamische Institute“ firmieren. Diese orientieren sich an Clangrenzen, werden von Clans finanziert und stehen unter strenger Aufsicht der örtlichen Behörden der al Shabaab. Von den Clans wird erwartet, dass sie entweder Geld oder Schüler zur Verfügung stellen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). In diesen Schulen werden die Schüler weltanschaulich indoktriniert, propagiert werden die Illegitimität der Bundesregierung und die Verpflichtung zum Dschihad (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). In einem Fall wird berichtet, dass Schüler dort nach zwei Jahren ein Abschlusszeugnis erhalten haben (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Nach der Absolvierung einer solchen Schule werden die Absolventen normalerweise in Trainingslager der al Shabaab verbracht (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023; vgl. VOA/Maruf 16.11.2022). Die besten Schüler werden einer höheren Bildung zugeführt (VOA/Maruf 16.11.2022). Nach Angaben eines Augenzeugen konnten Absolventen in seinem Fall über ihren weiteren Weg innerhalb der Organisation selbst entscheiden, etwa ob sie religiöse Studien betreiben oder in eine Teilorganisation eintreten wollten (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). In einigen Gegenden betreibt al Shabaab auch „reguläre“ Schulen. Doch auch diese agieren nach der Ideologie der Gruppe (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Aus Lagern oder anderen Einrichtungen der al Shabaab können Kinder nur mit Schwierigkeit entkommen. Sie sind dort brutalem physischen und psychischen Stress ausgesetzt, die der Folter nahekommen; sie sollen gebrochen werden (Sahan/SWT 6.5.2022). Kinder werden dort einer grausamen körperlichen Ausbildung unterzogen. Sie erhalten keine adäquate Verpflegung, dafür aber eine Ausbildung an der Waffe, physische Strafen und religiöse Indoktrination. Kinder werden gezwungen, andere Kinder zu bestrafen oder zu exekutieren (USDOS 22.4.2024). Mädchen werden auf eine Ehe vorbereitet, manchmal aber auch auf Selbstmordmissionen. Armeeinheiten - wie Danaab - haben immer wieder Operationen unternommen, um Kinder aus solchen Ausbildungslagern zu befreien (Sahan/SWT 6.5.2022).

Rekrutierung über Clans: Üblicherweise rekrutiert al Shabaab über die Clans (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Clans auf dem Territorium von al Shabaab müssen in Form junger Männer Tribut an die Gruppe abführen. Die Gruppe kommt in Dörfer, wendet sich an Älteste und fordert eine bestimmte Mannzahl (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; MBZ 6.2023). Wenn al Shabaab ein Gebiet besetzt, dann verlangt es von lokalen Clanältesten die Zurverfügungstellung von bis zu mehreren Dutzend – oder sogar hundert – jungen Menschen oder Waffen (Marchal 2018, S. 105). Der Clan wird die geforderte Zahl stellen. Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 verfügt die Gruppe in den Clans über „Agenten“, welche die Auswahl der Rekruten vornehmen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Nach anderen Angaben wendet sich al Shabaab in den Gebieten unter ihrer Kontrolle an Familien, um diese zur Herausgabe von Buben aufzufordern (Sahan/SWT 6.5.2022).

Jedenfalls treten oft Älteste als Rekrutierer auf (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. AQ21 11.2023). Nach anderen Angaben sind alle Wehrfähigen bzw. militärisch Ausgebildeten innerhalb eines Bereichs auf dem von al Shabaab kontrollierten Gebiet für die Gruppe als territoriale „Dorfmiliz“ verfügbar und werden als solche auch eingesetzt, z. B. bei militärischen Operationen im Umfeld oder zur Aufklärung. Wehrfähig sind demnach auch Jugendliche mit 16 Jahren, die gemäß somalischer Tradition als erwachsen gelten (BMLV 7.8.2024).

Wo al Shabaab rekrutiert: Hauptrekrutierungsbereich von al Shabaab ist Süd-/Zentralsomalia (ÖB Nairobi 10.2024). Rekrutiert wird vorwiegend in Gebieten unter Kontrolle der Gruppe, im südlichen Kernland, in Bay und Bakool (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; BMLV 7.8.2024). Dort fällt al Shabaab dies einfacher, die Menschen haben kaum Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Etwa 40 % der Fußsoldaten von al Shabaab stammen aus diesen beiden Regionen (Marchal 2018, S. 107). Auch bei den Hawiye / Galja'el und Hawiye / Duduble hat die Gruppe bei der Rekrutierung große Erfolge (AQ21 11.2023). Viele Kämpfer stammen auch von den Rahanweyn. Generell finden sich bei al Shabaab Angehörige aller Clans (MBZ 6.2023). Auch viele Menschen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten melden sich freiwillig zu al Shabaab (BMLV 7.8.2024).

Eine informierte Quelle der FFM Somalia 2023 gibt an, noch nie von Zwangsrekrutierungen an Straßensperren gehört zu haben (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Dahingegen wird in IDP-Lagern - etwa im Umfeld von Kismayo - sehr wohl (freiwillig) rekrutiert (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023).

Wen al Shabaab rekrutiert: Die Mirifle (Rahanweyn) konstituieren eine relevante Quelle an Fußsoldaten (EASO 1.9.2021, S. 18). Bei den meisten Fußsoldaten, die aus Middle Shabelle stammen, handelt es sich um Angehörige von Gruppen mit niedrigem Status, z. B. Bantu, bzw. marginalisierten Gruppen (Ingiriis 2020; vgl. Sahan/SWT 30.9.2022). Viele der Rekruten haben das Bildungssystem von al Shabaab durchlaufen (BMLV 7.8.2024). Die Gruppe nutzt in den von ihr kontrollierten Gebieten zudem gegebene lokale Spannungen aus. Minderheiten wird suggeriert, dass ein Beitritt zur Gruppe sie in eine stärkere Position bringen würde. Daher treten Angehörige von Minderheiten oft freiwillig bei und müssen nicht dazu gezwungen werden (MBZ 6.2023).

Manche Mitglieder von al Shabaab rekrutieren auch in ihrem eigenen Clan (Ingiriis 2020). Von al Shabaab rekrutiert zu werden bedeutet nicht unbedingt einen Einsatz als Kämpfer. Die Gruppe braucht natürlich z. B. auch Mechaniker, Logistiker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Richter, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer (EASO 1.9.2021, S. 18).

Warum al Shabaab beigetreten wird: Eine Rekrutierung kann viele unterschiedliche Aspekte umfassen: Geld, Clan, Ideologie, Interessen – und natürlich auch Drohungen und Gewalt (EASO 1.9.2021, S. 21; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Al Shabaab versucht, junge Männer durch Überzeugungsarbeit, ideologische und religiöse Beeinflussung und finanzielle Versprechen anzulocken. Jene, die arbeitslos, arm und ohne Aussicht sind, können - trotz fehlenden religiösen Verständnisses - auch schon durch kleine Summen motiviert werden. Für manche Kandidaten spielen auch Rachegefühle gegen Gegner von al Shabaab eine Rolle (FIS 7.8.2020a, S. 17; vgl. Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 33), bei anderen ist es Abenteuerlust (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 33). Laut einer Quelle sind 52 % der Mitglieder von al Shabaab der Gruppe aus ökonomischen Gründen beigetreten, 1 % aus Abenteuerlust (ÖB Nairobi 10.2024). Nach anderen Angaben sind etwa zwei Drittel der Angehörigen von al Shabaab der Gruppe entweder aus finanziellen Gründen beigetreten, oder aber aufgrund von Kränkungen in Zusammenhang mit Clan-Diskriminierung oder in Zusammenhang mit Misshandlungen und Korruption seitens lokaler Behörden (Felbab 2020, S. 120f; vgl. Rollins/HIR 27.3.2023). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 52 % der höheren Ränge der Gruppe aus religiösen Gründen beigetreten waren, bei den Fußsoldaten waren dies nur 15 % (Botha/SIGLA 2019). Ökonomische Anreize locken insbesondere Jugendliche, die oft über kein (regelmäßiges) Einkommen verfügen (SIDRA 6.2019b, S. 4). So lange die Gruppe über Geld verfügt, verfügt sie auch über ein großes Rekrutierungspotenzial. Zudem hat sie aufgrund von xenophoben - insbesondere anti-äthiopischen - Ressentiments Zulauf an Freiwilligen (BMLV 7.8.2024).

Nur manche Menschen folgen al Shabaab aus ideologischen Gründen, die meisten tun es aus pragmatischen Gründen. Vielen geht es um Schutz - und in vielen Bezirken des Landes bleibt al Shabaab diesbezüglich die sichtbarste und praktikabelste Option (Sahan/SWT 25.8.2023). Fehlender Rechtsschutz auf Regierungsseite (FIS 7.8.2020b, S. 21) und sonstige Missstände treiben ganze Gemeinden in die Arme von al Shabaab. Sie suchen ein taktisches Bündnis – haben dabei aber keine dschihadistische Vision, sondern wollen ihre Rivalen ausstechen. Al Shabaab nimmt derartige Spannungen gerne auf und verwendet sie für eigene Zwecke (Sahan/SWT 30.9.2022; vgl. Sahan/Menkhaus 23.8.2023).

Gerade in den seit vielen Jahren von der Gruppe kontrollierten Gebieten ist die Bevölkerung im Austausch gegen Sicherheit und Stabilität eher bereit, Rekruten abzugeben (MBZ 6.2023). Und speziell Angehörige marginalisierter Gruppen treten der Gruppe mitunter bei, um sich selbst und die eigene Familie gegen Übergriffe anderer abzusichern (FIS 5.10.2018, S. 34). Manche versprechen sich durch ihre Mitgliedschaft bei al Shabaab auch die Möglichkeit, Rache an Angehörigen anderer Clans zu üben (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 14f; vgl. EASO 1.9.2021, S. 20). Auch die Aussicht auf eine Ehefrau wird als Rekrutierungswerkzeug verwendet (USDOS 22.4.2024) - so z. B. bei somalischen Bantu, wo Mischehen mit somalischen Clans oft tabu sind. Al Shabaab hat aber eben diese Mitglieder dazu ermutigt, Frauen und Mädchen von starken somalischen Clans – etwa den Hawiye oder Darod – zu heiraten (Ingiriis 2020). Schlussendlich darf auch Angst vor al Shabaab als Motivation nicht vergessen werden. Demonstrationen extremer Gewalt halten viele Menschen bei der Stange (Sahan/SWT 12.6.2023).

Entlohnung bei al Shabaab: Von Deserteuren wurde der monatliche Sold für verheiratete Angehörige der Polizei und Armee von al Shabaab vor einigen Jahren mit 50 US-Dollar angegeben; Unverheiratete erhielten nur Gutscheine oder wurden in Naturalien bezahlt. Jene Angehörigen von al Shabaab, welche höherbewertete Aufgaben versehen (Kommandanten, Agenten, Sprengfallenhersteller, Logistiker und Journalisten) verdienen 200-300 US-Dollar pro Monat; allerdings erfolgen Auszahlungen nur inkonsequent (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 16). Nach neueren Angaben verdienen Fußsoldaten und niedrige Ränge 50-100 US-Dollar (UNSC 10.10.2022; vgl. ÖB Nairobi 10.2024), Finanzbedienstete 250 US-Dollar im Monat (UNSC 10.10.2022). Eine andere Quelle nennt als Einstiegssold fertig ausgebildeter Kämpfer einen Betrag von 80-100 US-Dollar, bar oder in Gutscheinen (BMLV 7.8.2024). Gemäß somalischen Regierungsangaben erhalten neue Rekruten der al Shabaab 30 US-Dollar im Monat, ein ausgebildeter Fußsoldat oder ein Fahrer 70 US-Dollar; den höchsten Sold erhält demnach mit 25.000 US-Dollar der Emir selbst (Gov Som 2022, S. 99). Ein Mann, der in Mogadischu von einem Militärgericht wegen Anschlägen für al Shabaab verurteilt worden war, hat angegeben, einen Sold von 70 US-Dollar im Monat erhalten zu haben (GN 10.7.2023). Feldforschung unter ehemaligen Mitgliedern von al Shabaab hat ergeben, dass 84 % der Fußsoldaten und 31 % der höheren Ränge überhaupt nicht bezahlt worden sind (Botha/SIGLA 2019).

Zwangsrekrutierung: Direkter Zwang wird bei einer Rekrutierung in der Praxis nur selten angewendet (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023; Ingiriis 2020), jedenfalls nur eingeschränkt, in Ausnahmefällen bzw. unter spezifischen Umständen (Marchal 2018, S. 92; vgl. BMLV 7.8.2024; MBZ 6.2023). Al Shabaab agiert sehr situativ. So kommt Zwang etwa zur Anwendung, wenn die Gruppe in einem Gebiet nach einem verlustreichen Gefecht schnell die Reihen auffüllen muss (ACCORD 31.5.2021). Die meisten Menschen treten der Gruppe freiwillig bei (MBZ 6.2023). Laut Angaben von Quellen der FFM Somalia 2023 kann man allerdings auf dem Gebiet der al Shabaab eine Rekrutierungsanfrage nicht einfach verneinen. Auch wenn al Shabaab Rekruten als Freiwillige präsentiert, haben diese i.d.R. keine wirkliche Option (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Zudem erklärt eine Quelle der FFM Somalia 2023, dass al Shabaab die Forderung nach Rekruten auch als Bestrafung einsetzt, etwa gegen Gemeinden, die zuvor mit der Regierung zusammengearbeitet haben. In anderen Gebieten, wo die Gruppe versucht, Clans auf die eigene Seite zu ziehen, hat sie hingegen damit aufgehört, Kinder wegzunehmen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Jedenfalls kommen Zwangsrekrutierungen vor - nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Bei zwei Studien aus den Jahren 2016 und 2017 haben 10-11 % der befragten ehemaligen Angehörigen von al Shabaab angegeben, von der Gruppe zwangsrekrutiert worden oder ihr aus Angst vor Repressalien beigetreten zu sein (MBZ 6.2023). Eine andere Quelle erklärt, dass 13 % der Angehörigen der Gruppe Zwangsrekrutierte sind (ÖB Nairobi 10.2024). Insgesamt handelt es sich bei Rekrutierungsversuchen oft um eine Mischung aus Druck oder Drohungen und Anreizen oder Versprechungen (FIS 7.8.2020a, S. 18; vgl. MBZ 6.2023), eine Unterscheidung zwischen "freiwillig" und "erzwungen" ist nicht immer möglich (MBZ 6.2023).

Wo Zwangsrekrutierungen vorkommen: Generell kommen Zwangsrekrutierungen ausschließlich in Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab vor. So gibt es etwa in Mogadischu keine Zwangsrekrutierungen durch al Shabaab (BMLV 7.8.2024; vgl. AQ21 11.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023; Researcher/STDOK/SEM 4.2023; FIS 7.8.2020, S. 17f). Überhaupt werden dort nur wenige Leute rekrutiert, und diese nicht über die Clans (AQ21 11.2023). Dort hat al Shabaab die Besteuerung im Fokus und nicht das Rekrutieren (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023) und hätte auch keine Kapazitäten dafür (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Dies gilt laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 auch für andere städtische Gebiete wie etwa Kismayo oder Baidoa (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Laut dem Experten Marchal rekrutiert al Shabaab zwar in Mogadischu; dort werden aber Menschen angesprochen, die z. B. ihre Unzufriedenheit oder ihre Wut über AMISOM bzw. ATMIS oder die Regierung äußern (EASO 1.9.2021, S. 21).

Verweigerung einer Rekrutierung: Üblicherweise richtet al Shabaab ein Rekrutierungsgesuch an einen Clan oder an ganze Gemeinden und nicht an Einzelpersonen. Diese "Vorschreibung" - also wie viele Rekruten ein Dorf, ein Gebiet oder ein Clan stellen muss - erfolgt üblicherweise jährlich, und zwar im Zuge der Vorschreibung anderer jährlicher Abgaben. Die meisten Rekruten werden über Clans rekrutiert. Es wird also mit den Ältesten über neue Rekruten verhandelt. Dabei wird mitunter auch Druck ausgeübt. Kommt es bei diesem Prozess zu Problemen, dann bedeutet das nicht notwendigerweise ein Problem für den einzelnen Verweigerer, denn die Konsequenzen einer Rekrutierungsverweigerung trägt üblicherweise der Clan (BMLV 7.8.2024). So kann es dann z. B. zur Entführung oder Ermordung unkooperativer Ältester kommen (MBZ 6.2023). Damit al Shabaab die Verweigerung akzeptiert, muss eine Form der Kompensation getätigt werden. Entweder der Clan oder das Individuum zahlt, oder aber die Nicht-Zahlung wird durch Rekruten kompensiert. So gibt es also für Betroffene manchmal die Möglichkeit des Freikaufs (BMLV 7.8.2024; vgl. MBZ 6.2023). Eltern versuchen, durch Geldzahlungen die Rekrutierung ihrer Kinder zu verhindern (UNSC 10.10.2022). Diese Wahlmöglichkeit ist freilich nicht immer gegeben. In den Städten liegt der Fokus von al Shabaab eher auf dem Eintreiben von Steuern, in ländlichen Gebieten auf der Aushebung von Rekruten (BMLV 7.8.2024). Generell haben größere Clans aufgrund gegebener Ressourcen eher die Möglichkeit, sich von Rekrutierungen freizukaufen, als dies bei Minderheiten der Fall ist (MBZ 6.2023). Insgesamt besteht offenbar Raum für Verhandlungen. Wenn die Gruppe beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Schülern für ihre Schulen verlangt, kann ein Clan entweder Kinder zum Besuch dieser Schulen schicken oder für eine bestimmte Anzahl von Schülern anderer Clans bezahlen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023).

Eine andere Möglichkeit besteht in der Flucht (MBZ 6.2023). Eltern schicken ihre Kinder mitunter in von der Regierung kontrollierte Gebiete – meist zu Verwandten (UNSC 10.10.2022). Junge Männer flüchten mitunter nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)rekrutierung zu entziehen (BMLV 7.8.2024). Andererseits berichtet ein Augenzeuge, dass jene Jugendlichen, die nach Absolvierung einer Schule der al Shabaab vor einer möglichen Zwangsrekrutierung nach Mogadischu geflohen sind, bald wieder in die Heimat zurückkehrten, weil ihre Eltern bestraft worden sind (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). In anderen Fällen sind gleich ganze Familien vor einer Rekrutierung der Kinder geflohen, viele endeten als IDPs (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl. IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass einem Verweigerer bei fehlender Kompensationszahlung die Exekution droht. Insgesamt finden sich allerdings keine Beispiele dafür, wo al Shabaab einen Rekrutierungsverweigerer exekutiert hat (BMLV 7.8.2024). Eine andere Quelle erklärt, dass, wer sich generell Rekrutierungen widersetzt, bedroht oder in Haft gesetzt wird (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Ein Experte erklärt, dass eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung durch al Shabaab entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken hin verfolgt wird (ACCORD 31.5.2021, S. 40). Stellt allerdings eine ganze Gemeinde den Rekrutierungsambitionen von al Shabaab Widerstand entgegen, kommt es meist zu Gewalt (BMLV 7.8.2024; vgl. UNSC 28.9.2020, Annex 7.2).

Rekrutierung von Mädchen und Frauen: Auch Mädchen werden in den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab für Zwangsehen mit Kämpfern der Gruppe entführt (IO-D/STDOK/SEM 4.2023; vgl. BS 2024). Eine Quelle der FFM Somalia 2023 erklärt, dass al Shabaab sich auch in solchen Fällen an die Clans wendet und fordert, dass Frauen als Ehefrauen bereitgestellt werden. Dieser Aufforderung wird dann aus Angst nachgegeben. In Gebieten, die nicht unter Kontrolle von al Shabaab stehen, verfügt die Gruppe diesbezüglich demnach nicht über ausreichend Druckmittel (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Frauen und Mädchen der Bantu werden mitunter auch mittels Todesdrohungen in Ehen gezwungen, die sich in der Praxis eher als temporäre sexuelle Versklavung erweisen (Benstead/Lehman 2021). Al Shabaab bezahlt kein Brautgeld. Wird der Gruppe eine Tochter verweigert, kann es vorkommen, dass ersatzweise ein Sohn als Rekrut verlangt wird (AQ21 11.2023). Kann eine Abgabe nicht entrichtet werden, dann entführt al Shabaab ersatzweise Frauen und zwingt diese zur Ehe (MBZ 6.2023).

Abseits der Ehe werden Frauen bei al Shabaab zumeist in unterstützender Rolle eingesetzt (UNSC 10.10.2022; vgl. AQ21 11.2023): als Steuereinheberinnen, Lehrer- oder Predigerinnen in Madrassen, Wächterinnen in Gefängnissen; zum Kochen und Putzen, in der Spionage oder der Waffenpflege (UNSC 10.10.2022), beim Waffenschmuggel und bei der Waffenlagerung. Manche betreiben auch Fundraising, andere dienen als Selbstmordattentäterinnen (AQ21 11.2023; vgl. ICG 27.6.2019a, S. 7f). Frauen, die mit Soldaten oder AMISOM bzw. ATMIS Kleinhandel treiben, werden als Spione und Informationsbeschafferinnen rekrutiert (ICG 27.6.2019a, S. 12).

Beispiele für Rekrutierung und Karrieren bei al Shabaab, Alltag bei der Gruppe

Letzte Änderung 2024-12-06 10:55

Beispiele für Karrieren bei al Shabaab, gesammelt von The Resolve Network (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022):

Ahmed bekam 2007 eine permanente Rolle bei al Shabaab, er kochte für die Frontsoldaten in Mogadischu und kaufte dafür auch auf dem Markt ein. Später wurde er Krankenpfleger für Angehörige der Gruppe.

Mohamud trat der Gruppe 2011 bei. Er war zuvor Lehrer und arbeitete auch danach als Lehrer in säkularer Bildung in Lower Shabelle. 2016 wurde er Direktor.

Jabir trat der Gruppe 2011 bei und erhielt drei Monate militärische Ausbildung. Danach wurde er Mitglied der Hisba (Polizei).

Mukhtar ist der einzige Befragte, der angibt, zwangsrekrutiert worden zu sein. Dies war im Alter von 16 oder 17 Jahren im Jahr 2015. Al Shabaab sammelte ihn und Freunde auf, als sie vor einem Geschäft saßen. Er wurde Mitglied der Hisba.

Sadiq trat der Gruppe freiwillig in Baraawe bei. Er wurde Mitglied der Hisba in seiner Heimatstadt und bekam ein kleines und unregelmäßiges Einkommen. In seiner Rolle musste er auch die Sozialregeln der Gruppe durchsetzen.

Yusuf trat 2006 der Jabhat (Armee) bei und erhielt fünf Monate militärische Ausbildung.

Feisal trat der Gruppe 2008 bei und erhielt drei Monate militärische Ausbildung. Er wurde Fußsoldat bei der Jabhat und 2009 Befehlshaber von 30 Mann. 2015 wurde er zum Amniyat versetzt, wo er auch zu Attentaten beitrug. 2020 wurde er wieder zum Fußsoldaten.

Abdinoor war bereits 2005 mit der Gruppe in Verbindung, erhielt drei Monate militärische Ausbildung und wurde Fußsoldat der Jabhat. 2008 wurde er Kommandant von 50 Mann, 2015 von 300 (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022).

Weitere Beispiele finden sich in einer anderen Studie von The Resolve Network (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a):

Al Shabaab verlangte 2020 vom ansässigen Subclan der Abgaal im Bezirk Ceel Dheere (Galgaduud) eine Person, die zu Ramadan und Eid den Zakat einsammeln sollte. Die Clanältesten wandten sich an den 29-jährigen Osman, dieser folgte aus Pflichtbewusstsein seinem Clan gegenüber. Er ging weiterhin seiner Tätigkeit in der Viehzucht nach.

Ahmed ist ein Hawadle und trat 2013 im Bezirk Buulo Barde (Hiiraan) als Vierzigjähriger freiwillig der al Shabaab bei. Er wurde nach einer viermonatigen Ausbildung in die Hisba übernommen.

Al Shabaab trat 2020 an Mohammeds Subclan der Abgaal im Bezirk Xaradheere (Mudug) heran und verlangte Freiwillige. Der ca. Vierzigjährige meldete sich freiwillig, "um seinen Clan zu schonen." Er erhielt keinerlei Ausbildung und wurde als Steuersammler eingesetzt.

Abdinasir wurde in jungem Alter von einem Verwandten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen aus dem äthiopischen Somali Regional State (SRS) nach Somalia gelockt, wo er zum Fußsoldaten der Jabhat, später zum Kommandanten von 13 und später von 30 Kämpfern wurde.

Ismael, ein Angehöriger der Rahanweyn, folgte dem Ruf des Geldes und trat al Shabaab freiwillig bei. Er bekam sechs Monate Ausbildung und wurde erst Mitglied der Hisba und dann der Jabhat.

Said, ein Abgaal aus dem Bezirk Adan Yabaal (Middle Shabelle), trat al Shabaab mit ca. 31 Jahren bei. Al Shabaab hatte Älteste seines Clans darum gebeten, jemanden für das Einsammeln der Steuern zu nominieren. Nach einem Jahr wurde er zur Hisba überstellt, nach weiteren drei Jahren der Jabhat. Dort erhielt er eine militärische Ausbildung.

Ali, ein Abgaal aus dem Bezirk Cadale (Middle Shabelle), trat al Shabaab als Sechzehnjähriger bei. Die Gruppe hatte seinen Clan (Abgaal) dazu gezwungen, zehn "freiwillige" Jugendliche zu nennen, um diese in der lokalen Madrasse auszubilden. Nach zwei Jahren wechselte er in die Jabhat. Ungewöhnlicherweise erhielt er - laut eigenen Angaben - keine militärische Ausbildung.

Jibril, ein Abgaal aus dem Bezirk Adan Yabaal, wurde 2019 im Alter von 36 ein „informelles“ Mitglied der al Shabaab. Sein Clan hatte die Gruppe aus dem eigenen Gebiet verwiesen. Diese zog unter der Prämisse ab, dass der Clan die eigene Sicherheit im Namen von al Shabaab gewährleisten würde. Der Mann wurde von al Shabaab ausgebildet. Nach einer Haft wurde er in die Jabhat gezwungen; schließlich wurde er Kommandant von elf Mann, zeitweise stellvertretender Kommandant von 120.

Liban, ebenfalls Abgaal aus Adan Yabaal, ist al Shabaab 2020 im Alter von 25 beigetreten. Er kam als Freiwilliger zur Jabhat. Sein Clan war gegen diesen Schritt. Er erhielt eine Ausbildung.

Omar, ein Abgaal aus dem Bezirk Ceel Dheere (Galgaduud), trat al Shabaab 2018 mit 31 Jahren bei. Zuvor war er Fischer. Seine Motivation war Schutz und Geld. Nach einer Ausbildung wurde er als Steuersammler eingesetzt.

Hassan ist ein Hawadle aus dem Bezirk Belet Weyne (Hiiraan). Er trat al Shabaab 2016 freiwillig bei, obwohl sein Clan eigentlich dagegen war. Er wurde Fahrer bei der Hisba (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Mobiltelefone: Durch eine Kombination aus von al Shabaab auferlegten sowie von technischen Beschränkungen ist der Zugang zu sozialen Medien für Angehörige der Gruppe i.d.R. stark eingeschränkt. Smartphones sind bei al Shabaab weitgehend verboten, der Internetempfang teils eingeschränkt. Manche Quellen geben an, dass im Gebiet der al Shabaab nur hochrangige Mitglieder Internet empfangen dürfen. Zwei Angehörige der Jabhat geben an, dass sie im Urlaub freien Zugang zum Internet hatten. Folgende Personen haben im allgemeinen Zugang zu einem breiteren Kommunikationsspektrum: Mitglieder außerhalb der Jabhat; jene mit höherem Rang; und jene, die an weniger abgelegenen Orten eingesetzt wurden. Die meisten befragten Deserteure geben an, während ihrer Zeit bei al Shabaab keinen Zugang zu Smartphones gehabt zu haben. Nur ein Befragter gibt an, dass Smartphones an seinem Wohnort für Angehörige der Hisba erlaubt seien; ein anderer gibt an, dass Kommandanten Smartphones nutzen dürfen (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Für Mitglieder von al Shabaab ist auch der Zugang zu „herkömmlichen“ Mobiltelefonen stark reguliert, dies variiert aber je nach Standort, Einheit, Dienstgrad und Zeit. Deserteure, die zuvor bei al Shabaab außerhalb der Jabhat eingesetzt wurden – etwa beim Amniyat oder als Steuereintreiber – hatten uneingeschränkten Zugang. Fußsoldaten berichten hingegen häufig von Beschränkungen: wenige Minuten pro Monat; mehrere Stunden an Wochenenden (Donnerstag und Freitag), eine Stunde pro Tag (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Während eines Urlaubs scheint die Verwendung unkomplizierter zu sein. Jedenfalls bleiben Mitglieder der al Shabaab oft in Kontakt mit Familienangehörigen oder Bekannten. Mehrere Deserteure geben an, dass sie anrufen durften, wen sie wollten; bei manchen hingegen war der Kreis eingeschränkt (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b).

Umgang mit Einheimischen: Nach Angaben von Deserteuren dürfen (einfache) Mitglieder der al Shabaab mit Einheimischen bei Androhung von Haft oder Verlegung nicht über Politik oder interne Abläufe sprechen (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b).

Radio: Die von al Shabaab eingesetzten Restriktionen für Radioempfang variieren je nach Einsatzgebiet, Einheit und Zeit. Einige Deserteure geben an, nur Radioprogramme der al Shabaab bzw. ihr nahestehende Programme empfangen zu dürfen. Andere konnten auch BBC empfangen, durften aber keine mit dem Staat verbundenen Programme hören. Wieder andere durften jegliches Programm hören, nicht aber Musik. Ein Deserteur gibt an, dass es sich hier eher um Richtlinien denn um Regeln gehandelt hat. Die meisten befragten Deserteure geben an, dass al Shabaab den Zugang zum Radio für Mitglieder während ihres Urlaubs nicht eingeschränkt hat (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b).

Urlaub: Manche bei einer Studie Befragten Deserteure berichten, dass al Shabaab ein Recht auf Urlaub vorsieht – sowohl für die Hisba als auch die Jabhat (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Mitglieder von al Shabaab erhalten demnach auch Urlaubsgelder, die ihnen Besuche bei ihren Familien ermöglichen (sofern sie sich an Orten befinden, die unter der Kontrolle der Aufständischen stehen), erhalten Zeit für Ruhe und Erholung usw. Die Zulagen variieren je nach Einheit, Standort und Zeit und im Verhältnis zum Familienstand. Angegeben wurden von Deserteuren folgende Beispiele: a) verheiratetes Mitglied der Jabhat in Middle Shabelle - automatisch Anspruch auf drei Monate Urlaub/Jahr; b) Ledige müssen hingegen bei höheren Rängen eine Erlaubnis einholen; c) Kommandant nach jeweils fünf Monaten aktiven Dienstes - drei Monate Urlaub; d) ein anderer Offizier gibt hingegen an, dass er während seiner gesamten zwei Jahre bei al Shabaab nur zehn Tage Urlaub erhalten hat (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b). Die Möglichkeit auf Urlaub zu gehen, hängt freilich auch von der militärischen Lage ab (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Bestrafung: Viele der Befragten Deserteure berichten, dass sie während ihrer Zeit bei al Shabaab für unterschiedliche Vergehen mit Haft bestraft worden sind. Die "Delikte" waren z. B.: unbefugtes Eingreifen in den Bereich eines anderen Kommandanten (4 Tage Haft); Weigerung den eigenen Bezirk zu verteidigen (1 Monat Haft, Entlassung nach Gelöbnis); Kaputtmachen eines Funkgerätes (15 Tage); Abgabe von Freudenschüssen (25 Tage); Verweigerung einer örtlichen Versetzung (5 Monate) (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a); Weigerung, einen verletzten Kameraden zu töten (15 Tage) (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023b).

Al Shabaab - Deserteure und ehemalige Kämpfer

Letzte Änderung 2025-01-16 14:09

Immer wieder desertieren Angehörige von al Shabaab und stellen sich den Behörden. So haben sich etwa im April 2024 acht Deserteure der NISA gestellt. Zu solchen Anlässen werden mitunter Fotos der Deserteure auf Onlinemedien veröffentlicht (Halqabsi 20.4.2024). Meist desertieren niedrige Ränge (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Im Rahmen einer Studie haben Deserteure von al Shabaab unterschiedliche Gründe für die Desertion genannt: Übeltaten der Gruppe, persönliche Animositäten, Druck der Familie, inadäquate Bezahlung, schlechte Lebensbedingungen, Angst vor Kampfhandlungen gegen den eigenen Clan sowie allgemein das Risiko für Leib und Leben (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a; vgl. Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 33/16f). Mit Letzterem ist nicht bloß die Gefahr von Kampfhandlungen gemeint, sondern auch die von al Shabaab angewandte Bestrafung bei (vermeintlichen) Regelbrüchen (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 16f).

Desertion - Vorgang: Eine Desertion gleicht oft einer Flucht, mit entsprechender Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens al Shabaab - bis hin zur Todesstrafe (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 17f; vgl. TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a; vgl. TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Manche Deserteure warten Monate oder sogar Jahre, bevor sich ihnen eine Gelegenheit zur Flucht bietet (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 17f; vgl. TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Fluchtversuche werden hart bestraft. Ein ehemaliges Mitglied der Jabhat berichtet davon, dass ihm die Augen verbunden und er dann verprügelt worden ist (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022).

Die Offensive in Zentralsomalia hat für Desertionswillige neue Möglichkeiten geschaffen: Flucht in Folge des Chaos im Rahmen von Angriffen und Luftschlägen; überdehnte Ressourcen von al Shabaab und damit weniger Kontrolle der eigenen Mannschaften; und die unmittelbare Nähe des Feindes, dem man sich ergeben möchte. Die Gesamtzahl der Deserteure im Rahmen der Offensive ist unklar. Niemand weiß, wie viele Deserteure al Shabaab schlichtweg verlassen haben und wieder in ihre Gemeinden zurückgekehrt oder aber zu den Macawiisley übergelaufen sind. In einer Studie schätzen Quellen, dass 50-80 % der Deserteure einen informellen Weg wählen (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Die bei einer Studie interviewten Deserteure der al Shabaab flüchteten diese auf unterschiedliche Weise [Anm.: Die hier interviewten Deserteure sind alle auf formellem Weg gegangen - haben sich also staatlichen Kräften gestellt]. Manche sind von einem Urlaub nicht wieder zu al Shabaab zurückgekehrt. Andere verließen den laufenden Dienst; wieder andere flohen im Zuge von Kampfhandlungen. Nahezu alle hatten zuvor Arrangements für sicheres Geleit ("safe passage") mit Sicherheitskräften getroffen. Manche ergaben sich in unmittelbarer Frontnähe, andere reisten nach Afgooye oder Mogadischu, um sich zu ergeben. Die meisten der befragten Deserteure konnten unter Nutzung persönlicher Kontakte (meist Familie oder Clan) fliehen. Clans spielen bei der Desertion eine entscheidende Rolle, sie borgen Geld oder arrangieren sicheres Geleit mit den Sicherheitskräften (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a; vgl. TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Beispiele von Desertionen aus einer Studie von The Resolve Network (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a):

Osman rief einen Verwandten an, der bei den Sicherheitskräften arbeitet. Dieser borgte ihm auch Geld für die Fahrt nach Mogadischu. Diese Fahrt konnte er machen, weil al Shabaab zu diesem Zeitpunkt wegen der Regierungsoffensive nur noch wenig Ressourcen für Kontrollen aufwenden konnte. Im Mogadischu übergab der Verwandte ihn an die Kriminalpolizei.

Ahmed hatte Urlaub beantragt, um seine kranke Mutter zu besuchen. Er blieb sechs Monate dort, erst dann verlangte sein Kommandant seine Rückkehr. Er machte sich aber mit einem Motorrad auf nach Mogadischu. Er hatte dafür Geld von Verwandten geborgt und einen Verwandten in Afgooye angerufen, der die Stellung bei der NISA organisiert hat.

Mohammed bekam eine Woche Urlaub, um seine Familie umzusiedeln. Er hat einen Familienangehörigen bei den Macawiisley kontaktiert, dieser arrangierte die Desertion und begleitete ihn nach Mogadischu. Dort wurde ein anderer Familienangehöriger kontaktiert, der bei der Kriminalpolizei arbeitet. Diesem hat er sich dann ergeben.

Abdinasir bekam aus medizinischen Gründen Urlaub. Er rief einen ehemaligen Kameraden an, der sich zu diesem Zeitpunkt im Serendi-Camp (siehe unten) befand. Dieser wies ihn an, nach Baraawe zu reisen, und organisierte für ihn sicheres Geleit. Dort ergab er sich der Bundesarmee.

Ismael borgte sich ein Handy von einem Zivilisten und rief seine Familie an. Diese nahm Kontakt mit Verwandten bei der Bundesarmee auf. Ismael gab der Armee seinen Standort bekannt, und wurde dort abgeholt.

Ein Abgaal lief im Rahmen einer Verlegung davon, kontaktierte einen Verwandten bei der Lokalverwaltung, der wiederum die Macawiisley verständigte. Er floh weiter zu Fuß und traf nach sieben Stunden beim Rendezvous mit den Macawiisley ein.

Nach einem Vorstoß der Bundesarmee in der Nähe flüchtete ein anderer Abgaal. Er kontaktierte einen Bruder, der ihm sicheres Geleit mit der Bundesarmee organisierte.

Als die Bundesarmee nahe seiner Stellung vorgestoßen war, wendete sich ein anderer Abgaal an seine Verwandten, die ihm eine Übergabe an Clanangehörige bei der Bundesarmee vermittelten.

Liban entkam im Chaos nach einem Luftschlag. Er rief seinen Vater mit dem Handy eines Dorfbewohners an, dieser arrangierte sicheres Geleit mit der Bundesarmee.

Der Mann – ein Steuereintreiber – siedelte erst eine seiner beiden Familien aus dem Gebiet der al Shabaab ab und warnte die andere. Dann begab er sich außerhalb des Kontrollbereichs, seine Familie arrangierte sicheres Geleit mit der Bundesarmee.

Der Hawadle ist von einem Urlaub nicht zurückgekehrt. Sein Clan hat den Kontakt mit den Macawiisley organisiert, diese haben ihn dann der Bundesarmee übergeben (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Weitere Beispiele einer anderen Studie von The Resolve Network (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022):

Ein Mann kontaktierte Verwandte, die bei den Sicherheitskräften sicheres Geleit arrangierten.

Ein anderer Mann wurde schwer krank und konnte sechs Monate nicht arbeiten. Er beantragte, aus medizinischen Gründen entlassen zu werden, um sich in Mogadischu behandeln zu lassen. Dies wurde im gestattet. Sein Bruder, ein Mitglied der NISA, half ihm dabei, sich zu ergeben.

Ein weiterer Mann stieg - obwohl er sich örtlich nicht auskannte - in einen Bus und fuhr nach Mogadischu. Dort hat er sich den Sicherheitskräften ergeben.

Eine Person verblieb an einem Ort, als Regierungstruppen diesen Ort einnahmen. Der Mann ließ sich verhaften.

Ein anderer Mann wurde verwundet und ließ sich ohne Genehmigung von seiner Mutter aus dem Spital der al Shabaab abholen und in ein Spital unter Regierungskontrolle verbringen. Später kehrte er in seine Heimat zurück, fühlte sich aber dort unsicher – wegen der Reputation von al Shabaab, Deserteure zu bestrafen. Seine Mutter organisierte sicheres Geleit mit einem Onkel bei der Bundesarmee.

Ein weiterer Mann schlich sich in der Nacht aus dem Lager. Die Eltern kontaktierten die Ältesten, welche sich an Clanmitglieder bei der Armee wendeten und sicheres Geleit arrangierten.

Mitglieder des Amniyat waren 2018 ausgesendet worden, um ein Mitglied der al Shabaab zu verhaften. Die staatlichen Behörden haben diese Information abgefangen und dem Betroffenen sicheres Geleit angeboten (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022).

Andere Wege der Entlassung: Generell sind nicht alle ehemaligen Kämpfer der al Shabaab Deserteure. Es gibt Beispiele, wo Angehörige die Entlassung eines Familienmitglieds durch die al Shabaab erwirken konnten (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 17f) bzw. wo Älteste als Vermittler beteiligt sind (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). So berichtet etwa ein Mann an TRN, dass er auf Antrag aus dem Dienst entlassen worden ist. Er hatte den Antrag gestellt, weil seine Frau verstorben war und er sich um die Kinder kümmern musste. Zuerst wurde der Antrag zurückgewiesen, später aber stattgegeben, nachdem Älteste interveniert hatten (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022).

Zudem besteht in Ausnahmefällen offenbar auch die Möglichkeit, dass sich ein Deserteur mit der al Shabaab verständigt - etwa durch die Erbringung von Gefälligkeiten wie Geld, Informationen oder Zugangsmöglichkeiten (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024; TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a; IO-D/STDOK/SEM 4.2023).

Außerdem werden Kämpfer der al Shabaab nicht auf unbestimmte Zeit als Soldaten eingesetzt. Nach einem bestimmten Zeitraum (möglicherweise auch je nach Funktion variabel), werden diese abgerüstet und aus dem Dienst entlassen. Diese ausgebildeten Kämpfer - de facto "Reservisten" - können im Notfall rasch wieder reaktiviert werden (BMLV 7.8.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Es sind auch Fälle bekannt, wo Personen al Shabaab aus medizinischen Gründen verlassen durften (TRN/Heide-Ottosen/Abdi Y./Nor/Khalil/Zeuthen 2022). Manche Deserteure kehren auch zu al Shabaab zurück (Sahan/SWT 18.11.2021).

Tötung von Deserteuren: Al Shabaab duldet keine Desertion (EASO 1.9.2021, S. 28). Die Gruppe geht bei Deserteuren davon aus, dass diese vom rechten Pfad abgekommen sind und die Gruppe daher das Recht hat, sie zu töten (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle vergibt al Shabaab Deserteuren niemals (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Es gibt Berichte, wonach Deserteure von al Shabaab als Abtrünnige (murtadd) verfolgt und teilweise exekutiert werden (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. Sahan/SWT 18.11.2021). Eine Quelle erklärt, dass sie keine belegten Beispiele kennt, wo Deserteure längere Zeit nach ihrem Weggang von al Shabaab hingerichtet worden sind (BMLV 7.8.2024).

Generell stellt die Desertion eines Einzelnen für al Shabaab ein kleineres Problem dar als der Seitenwechsel ganzer Clans und der zugehörigen Milizen (BMLV 7.8.2024). Zudem verfügt al Shabaab auch gar nicht über die Kapazitäten, um alle Deserteure zu töten (BMLV 7.8.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; Researcher/STDOK/SEM 4.2023), und ist auch gar nicht bereit, für die Verfolgung einfacher Deserteure maßgeblich Ressourcen aufzuwenden (BMLV 7.8.2024). Vielmehr wendet sich die Gruppe prominenteren Deserteuren zu (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. BMLV 7.8.2024; MBZ 6.2023; Landinfo 8.9.2022). Zwei Experten geben an, dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass desertierte Fußsoldaten von al Shabaab über weite Strecken verfolgt werden (ACCORD 31.5.2021; vgl. BMLV 7.8.2024). Ob Deserteure zum Ziel werden, hängt insgesamt maßgeblich von ihrer früheren Rolle bei al Shabaab ab (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024).

Al Shabaab richtet sich aufgrund der zur Verfügung stehenden Ressourcen darauf ein, Gewalt "exemplarisch" auszuüben. Bestrafungen kommen zum Einsatz, um die Bevölkerung, Deserteure und potenzielle Deserteure zu ängstigen (ACCORD 31.5.2021; vgl. EASO 1.9.2021, S. 28; IO-D/STDOK/SEM 4.2023; INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Es gibt auch kaum bekannte Beispiele für getötete Deserteure (BMLV 7.8.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; FIS 7.8.2020b, S. 8). Überhaupt gibt es keine konkreten Zahlen bzw. Berichte zu Tötungen von Deserteuren (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Und es gibt auch keine Berichte hinsichtlich eines Angriffs der al Shabaab auf eines der Zentren, in welchen Deserteure niedriger Ränge rehabilitiert werden (MBZ 6.2023). Die Zentren selbst sind gut gesichert. Nur sehr wenige Absolventen der Rehabilitationszentren wurden bislang belästigt oder gar angegriffen (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Und das alles, obwohl al Shabaab in diesen Zentren über Spitzel verfügt (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023).

Verfolgung von Deserteuren: Wenn al Shabaab einen Deserteur tatsächlich finden will, wird ihn die Gruppe auch aufspüren (BMLV 7.8.2024). Es ist schwierig, sich vor al Shabaab zu verstecken (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Prinzipiell ist al Shabaab aufgrund eines Systems von Informanten in der Lage, Deserteure nahezu im gesamten Land aufzuspüren. Die Gruppe nutzt dafür unter anderem Clannetzwerke (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Dies gilt auch für größere Städte (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023), z. B. für Kismayo (IO-D/STDOK/SEM 4.2023) oder Mogadischu (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; vgl. ÖB Nairobi 10.2024; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Kommt ein Angehöriger der al Shabaab an einen Checkpoint der Gruppe, wird nach Angaben eines Deserteurs von dort beim entsprechenden Vorgesetzten telefonisch nachgefragt, ob der vom Reisenden angegebene Grund für die Reisebewegung korrekt ist (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Viele Deserteure haben Angst davor, vom Amniyat [Anm.: Geheimdienst von al Shabaab] aufgespürt zu werden (BBC/Harper 27.5.2019). Sie fürchten eine Bestrafung für sich und für die eigene Familie (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). 70 % von 32 bei einer Studie im Jahr 2017 befragten Deserteuren haben angegeben, Todesdrohungen von al Shabaab erhalten zu haben. Weitere Deserteure berichteten davon, dass ihre Familien bedroht worden sind. Von jenen, die nicht bedroht wurden, hatten die meisten ihre Telefonnummern gewechselt (Taylor/Semmelrock/McDermott 2019, S. 9ff). Derartige Einschüchterungen sind für al Shabaab kostengünstig und bedeuten nicht, dass nach dem Deserteur tatsächlich gesucht wird (BMLV 7.8.2024).

Es ist nicht davon auszugehen, dass al Shabaab Deserteure umfassend verfolgt (BMLV 7.8.2024). Die meisten Absolventen von Rehabilitationszentren verbleiben in jener Stadt, wo sie die Rehabilitation durchlaufen haben. Sie kehren nicht in ländliche Gebiete zurück und können sich in der Stadt besser integrieren (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023). Die Frage eines Risikos hängt auch von der Fähigkeit des eigenen Clannetzwerks ab, dem Deserteur am Aufenthaltsort Schutz bieten zu können (MBZ 6.2023; vgl. FIS 7.8.2020b, S. 8). Der Experte Marchal betont, dass für Deserteure, die nach Mogadischu geflüchtet sind, der Clan eine bestimmte Rolle spielt – nämlich bei der Frage, ob der Clan innerhalb von al Shabaab stark oder wenig vertreten ist. Für jene, deren erweiterte Familie in Mogadischu stark vertreten ist und deren Clan bei al Shabaab wenig vertreten ist (z. B. Hawiye / Habr Gedir), wird es eine Möglichkeit geben unterzutauchen. Für andere, deren Clan in Mogadischu keine starke Position hat, und dieser noch dazu bei al Shabaab stark involviert ist (z. B. Rahanweyn), wird ein Untertauchen mitunter schwierig (EASO 1.9.2021, S. 28).

Deserteure in Somaliland und Puntland gelten grundsätzlich nicht als gefährdet. Deserteure aus Süd-/Zentralsomalia befinden sich dort bei fehlenden Kontakten vor Ort jedoch in einer schwierigen Lage, da sie nicht wissen, wem sie vertrauen können oder wer al Shabaab nahesteht (BMLV 7.8.2024; vgl. ÖB Nairobi 10.2024).

Regierungsamnestie: 2023 wurde eine neue Amnestie für Kämpfer der al Shabaab ausgerufen (GN 28.8.2023). Dieses Angebot einer präsidentiellen Amnestie gilt für Kämpfer, die ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für eine Amnestie gibt es bislang allerdings keine rechtliche Grundlage (AA 23.8.2024). Der Präsident hat öffentlich erklärt, dass Deserteure nicht direkt in ihre Gemeinden zurückkehren sollten, sondern sich zuvor der Regierung stellen müssen (Mubarak/Jackson A./ODI 8.2023). Ein Regierungsprogramm versucht, auf unterschiedlichen Kanälen auf die Amnestie und die für Deserteure der al Shabaab bereitstehende Unterstützung aufmerksam zu machen (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a).

Rehabilitation/Reintegration: Die somalische Regierung betreibt mehrere Rehabilitationszentren für ehemalige Angehörige von al Shabaab, die als "low-risk" eingestuft wurden (UNSC 2.2.2024). Dabei handelt es sich um sechs Zentren in Mogadischu, Baidoa, Kismayo und Dhusamareb (UNSC 3.6.2024; vgl. TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Tausende Deserteure der al Shabaab wurden bereits rehabilitiert und reintegriert. Das Rehabilitationsprogramm wird maßgeblich von Großbritannien und Deutschland finanziert (VOA/Maruf 29.12.2022). Stand Mai 2024 befanden sich in den Zentren 100 Frauen und 331 Männer (UNSC 3.6.2024). IOM unterstützt in Baidoa ein Projekt zur Demobilisierung und Reintegration von männlichen und weiblichen "disengaged combatants" der al Shabaab. Dabei wird die Grundversorgung gesichert, Zugang zu Berufsausbildung ermöglicht und Mediationsarbeit zur langfristigen Reintegration geleistet. Nach der Ausbildung wird Geld zur Verfügung gestellt, um gegebenenfalls ein Unternehmen gründen zu können. U. a. werden bei von UNICEF unterstützten Reintegrationsprojekten für ehemalige Kindersoldaten Minderjährige in ihren Gemeinden resozialisiert. Sie erhalten außerdem Zugang zu einer Ausbildung (ÖB Nairobi 10.2024). Bei der Reintegration gibt es unterschiedliche Erfolge. Einige schaffen es, in ein normales Leben zurückzufinden. Andere sehen sich gezwungen, das Land zu verlassen, nachdem sie unter ständigen Einschüchterungen durch al Shabaab leiden. Eine unbekannte Zahl wurde von al Shabaab ermordet – als Abschreckung für andere (Sahan/SWT 18.11.2021).

Reintegration - Beispiel Serendi Rehabilitation Centre (SRC), Mogadischu: Das SRC wird vom Defectors Rehabilitation Program verwaltet, das im Ministerium für Innere Sicherheit angesiedelt ist (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a). Das Zentrum steht jenen ehemaligen Angehörigen der al Shabaab offen, die als "low-risk" eingestuft wurden (TRN/Khalil/Abdi Y./Glazzard/Nor/Zeuthen 12.2023a; vgl. Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. vii). Als "low-risk" wird von der NISA herausgefiltert, wer al Shabaab freiwillig verlassen hat; wer sich gegen die Ideologie der Gruppe ausspricht; und wer nicht als künftiges Risiko für die öffentliche Sicherheit erachtet wird (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 19/2; vgl. BBC 23.11.2020). Trotzdem gibt es in Rehabilitationszentren auch Agenten von al Shabaab (BBC 23.11.2020).

Die Aufenthaltsdauer im SRC beträgt 6-12 Monate. Am SRC erhalten die Bewohner neben psycho-sozialer Unterstützung auch eine schulische und eine Berufsausbildung (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 19/23/12). Ein Rehabilitierter erzählt, dass er nun Schulbusfahrer ist, ein anderer ist Friseur. Im Zentrum gibt es z. B. auch Ausbildung in Mechanik, Schweißen, IT, Basisbildung und Englisch (BBC 23.11.2020). Das SRC unterstützt die Bewohner bei der Wiederherstellung des Kontakts zu Familie und Clan. Spätestens im Zuge der Reintegration in Mogadischu wenden sich viele aus dem SRC Entlassene an (teils entfernte) Verwandte. In vielen Fällen konnten positive Beziehungen zur Familie wieder hergestellt werden, die meisten wurden von ihrer Kernfamilie wieder aufgenommen (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 24/27f).

Nach der Entlassung aus dem SRC stellt gesellschaftliche Diskriminierung kaum ein relevantes Problem für ehemalige Angehörige der al Shabaab dar, wohl auch, weil es vielen gelingt, ihre Vergangenheit zu verschweigen. Viele der Deserteure stammen zwar aus Mogadischu, die Mehrheit jedoch aus Lower Shabelle, Middle Juba, Hiiraan oder Galgaduud. Trotzdem entscheiden sich viele für eine Reintegration in Mogadischu – mitunter, weil dort relative Anonymität herrscht (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 3/27/29/34). Bereits entlassene rehabilitierte ehemalige Angehörige von al Shabaab bleiben auch in Mogadischu und versuchen, dort in der Masse unerkannt zu bleiben (BBC 23.11.2020). Viele der aus dem SRC Entlassenen sind aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht in ihre eigentliche Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen meiden auch in Mogadischu bestimmte Stadtgebiete, da sie Angst haben, dort als ehemalige Angehörige der al Shabaab identifiziert zu werden. Insgesamt äußern aus dem SRC Entlassene häufig Sicherheitsbedenken bezüglich al Shabaab – natürlich besteht eine latente Bedrohung, von ehemaligen Kameraden erkannt zu werden. Allerdings ist nur in einem Fall auch tatsächlich eine Drohung (über SMS) ausgesprochen worden. Schon in ihrer Zeit im halb-offenen SRC haben Deserteure am Wochenende Ausgang, und fast alle nehmen diesen auch in Anspruch (Khalil/Brown/et.al./RUSI 1.2019, S. 22/27f).

Minderheiten und Clans

Letzte Änderung 2025-01-16 14:12

Das westliche Verständnis der Zivilgesellschaft ist im somalischen Kontext irreführend, da kaum zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterschieden wird. In ganz Somalia gibt es starke Traditionen sozialer Organisation außerhalb des Staates, die vor allem auf sozialem Vertrauen innerhalb von Verwandtschaftsgruppen fußen. Seit Beginn des Bürgerkriegs haben sich die sozialen Netzwerkstrukturen neu organisiert und gestärkt, um das Überleben ihrer Mitglieder zu sichern (BS 2024).

Clans [zu Clanschutz siehe auch Rechtsschutz, Justizwesen ]: Der Clan ist die relevanteste soziopolitische und ökonomische Einheit in Somalia. Für den Somali stellt er die wichtigste Identität dar, für die es zu streiten und zu sterben gilt (NLM/Barnett 7.8.2023). Clans kämpfen für das einzelne Mitglied. Gleichzeitig werden alle Männer im Clan als Krieger erachtet (AQSOM 4 6.2024). Der Clan bildet aber eine volatile, vielschichtige Identität mit ständig wechselnden Allianzen (NLM/Barnett 7.8.2023). Er bestimmt das Leben des Individuums, seinen Zugang zu Sicherheit und Schutz, Ressourcen (z. B. Arbeit, Geschäfte, Land) und bildet das ultimative Sicherheitsnetz (AQSOM 4 6.2024; vgl. SPC 9.2.2022). Clanälteste dienen als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft. Sie werden nicht einfach aufgrund ihres Alters gewählt. Autorität und Führungsposition werden verdient, nicht vererbt. Ein Clanältester repräsentiert seine Gemeinschaft, ist ihr Interessensvertreter gegenüber dem Staat. Innerhalb der Gemeinschaft dienen sie als Friedensstifter, Konfliktvermittler und Wächter des traditionellen Rechts (Xeer). Bei Streitigkeiten mit anderen Clans ist der Clanälteste der Verhandler (Sahan/SWT 26.10.2022).

Clanwissen: Laut Experten gibt es bis auf sehr wenige Waisenkinder in Somalia niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 2f/37/39f). Das Wissen um die eigene Herkunft, die eigene Genealogie, ist von überragender Bedeutung. Dieses Wissen dient zur Identifikation und zur Identifizierung (Shukri/TEL 3.5.2021). Auch junge Menschen im urbanen Umfeld kennen ihren Clan, allerdings fehlen ihnen manchmal die Details - etwa zu Clanältesten. Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 betrifft dies tendenziell eher junge Frauen (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Diskriminierung im Clanwesen: Diskriminierung steht in Somalia generell oft nicht mit ethnischen Erwägungen in Zusammenhang, sondern vielmehr mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheitenclans oder Clans, die in einer bestimmten Region keine ausreichende Machtbasis und Stärke besitzen (AA 23.8.2024). Die meisten Bundesstaaten fußen auf einer fragilen Balance zwischen unterschiedlichen Clans. In diesem Umfeld werden weniger mächtige Clans und Minderheiten oft vernachlässigt (BS 2024). Selbst relativ starke Clans können von einem lokalen Rivalen ausmanövriert werden, und es kommt zum Verlust der Kontrolle über eine Stadt oder eine regionale Verwaltung. Meist ist es die zweitstärkste Lineage in einem Bezirk oder einer Region, welche über die Verteilung von Macht und Privilegien am unglücklichsten ist (Sahan/SWT 30.9.2022). Gleichzeitig mag auf einer Ebene innerhalb eines Clans oberflächlich betrachtet Einheit herrschen, doch wenn man näher heranzoomt, treten Konflikte zwischen den unteren Clanebenen zutage (NLM/Barnett 7.8.2023).

Ohnehin marginalisierte Gruppen werden diskriminiert und stoßen auf Schwierigkeiten, ihr Recht auf Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Prozessen wahrzunehmen (UNSOM 5.8.2023; vgl. BS 2024). Die Marginalisierung führt zu einer ungerechten und diskriminierenden Verteilung der Ressourcen (UNSOM 5.8.2023) - etwa beim Zugang zu humanitärer Hilfe (AA 23.8.2024). Menschen, die keinem der großen Clans angehören, sehen sich in der Gesellschaft signifikant benachteiligt. Dies gilt etwa beim Zugang zur Justiz (UNHCR 22.12.2021b, S. 56); und auch von Politik und Wirtschaft werden sie mitunter ausgeschlossen. Minderheiten und berufsständische Kasten werden in mindere Rollen gedrängt - trotz des oft sehr relevanten ökonomischen Beitrags, den genau diese Gruppen leisten (BS 2024). Mitunter kommt es auch zu physischer Belästigung (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Insgesamt ist allerdings festzustellen, dass es hinsichtlich der Vulnerabilität und Kapazität unterschiedlicher Minderheitengruppen signifikante Unterschiede gibt (UN OCHA 14.3.2022).

Recht [siehe hierzu auch Rechtsschutz, Justizwesen]: Die Übergangsverfassung und Verfassungen der Bundesstaaten verbieten die Diskriminierung und sehen Minderheitenrechte vor (UNHCR 22.12.2021b, S. 56). Weder Xeer (SEM 31.5.2017, S. 42) noch Polizei und Justiz benachteiligen Minderheiten systematisch. Faktoren wie Finanzkraft, Bildungsniveau oder zahlenmäßige Größe einer Gruppe können Minderheiten dennoch den Zugang zur Justiz erschweren (SEM 31.5.2017, S. 42; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Von Gerichten Rechtsschutz zu bekommen, ist für Angehörige von Minderheiten noch schwieriger als für andere Bevölkerungsteile (FIS 7.8.2020b, S. 21). Es kommt mitunter zu staatlicher Diskriminierung. So wurde beispielsweise in Mogadischu ein Strafprozess, bei welchem Rahanweyn und Bantu als Kläger gegen einen Polizeioffizier, der von einem großen Clan stammt, aufgetreten waren, vom Gericht ohne Weiteres eingestellt (Horn 6.5.2024).

Auch im Xeer sind Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S. 31). Weiterhin ist es für Minderheitsangehörige aber möglich, sich im Rahmen formaler Abkommen (Gashanbuur) einem anderen Clan anzuschließen bzw. sich unter Schutz zu stellen (AQSOM 4 6.2024; vgl. DI 6.2019, S. 11). Diese Resilienzmaßnahme wurde von manchen Gruppen etwa angesichts der Hungersnot 2011 und der Dürre 2016/17 angewendet (DI 6.2019, S. 11). Aufgrund dieser Allianzen werden auch Minderheiten in das System des Xeer eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya (Kompensationszahlung) bei (SEM 31.5.2017, S. 33). Gemäß einer Quelle haben schwächere Clans und Minderheiten trotzdem oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, S. 14).

Netzwerke abseits von Clans: Die Mitgliedschaft in islamischen Organisationen und Verbänden gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie bietet eine Möglichkeit zur sozialen Organisation über Clangrenzen hinweg. Mit einer Mitgliedschaft kann eine "falsche" Clanzugehörigkeit in eingeschränktem Ausmaß kompensiert werden. Zumindest in bestimmten Teilen Somalias entsteht auch eine Form von Sozialkapital unter Mitgliedern der jüngeren Generation, die biografische Erfahrungen und Interessen (Bildung oder Beruf) teilen und manchmal in Jugendorganisationen organisiert sind oder sich in informellen Diskussionsgruppen und online treffen (BS 2024).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2025-01-16 14:12

Politik: In Süd-/Zentralsomalia sind politische Repräsentation, politische Parteien, lokale Verwaltungen und auch das nationale Parlament um die verschiedenen Clans bzw. Subclans organisiert, wobei die vier größten Clans (Darod, Hawiye, Dir und Digil-Mirifle) Verwaltung, Politik, und Gesellschaft dominieren - und zwar entlang der sogenannten 4.5-Formel (ÖB Nairobi 10.2024). Dies bedeutet, dass den vier großen Clans dieselbe Anzahl von Parlamentssitzen zusteht, während kleinere Clans und Minderheitengruppen gemeinsam nur die Hälfte dieser Sitze erhalten (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. USDOS 22.4.2024; FH 2024b) [siehe dazu auch: Politische Lage/Süd-/Zentralsomalia]. Dadurch werden kleinere Gruppen politisch marginalisiert (FH 2024b). Sie werden von relevanten politischen Posten ausgeschlossen, und die wenigen Angehörigen von Minderheiten, die solche Posten halten, haben kaum die Möglichkeit, sich für ihre Gemeinschaften einzusetzen (SPC 9.2.2022). So finden sich in der aktuellen Regierung zwar alle relevanten Clans und Gruppen wieder (AA 23.8.2024), und das Frauen- sowie das Umweltministerium werden von Angehörigen von Minderheiten geführt (AQ21 11.2023). In Süd-/Zentralsomalia ist die formelle Vertretung von Minderheiten im Rahmen der 4.5-Formel nicht mit einer tatsächlichen politischen Mitsprache gleichzusetzen, da unter dem Einfluss und Druck der politisch mächtigen Clans agiert wird. Die Formel trägt dazu bei, dass bestehende Strukturen aufrechterhalten und damit Minderheiten sozial und politisch ausgrenzt werden (ÖB Nairobi 10.2024). Nach Angaben einer Quelle der FFM Somalia 2023 versucht die Regierung hingegen, Minderheiten zu ermutigen, sich für Regierungsstellen zu bewerben. Allerdings ist die Diskriminierung tief in der Gesellschaft verwurzelt und besteht weiter fort (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Lage: Einzelne Minderheiten leben unter besonders schwierigen sozialen Bedingungen in tiefer Armut und leiden an zahlreichen Formen der Diskriminierung und Exklusion (USDOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024; FH 2024b). Sie sehen sich in vielfacher Weise von der übrigen Bevölkerung – mittelbar auch von staatlichen Stellen – wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt (AA 23.8.2024). Zudem sind die Systeme gegenseitiger Unterstützung bei ihnen weniger gut ausgebaut, sie verfügen über geringere Ressourcen (Sahan/SWT 24.10.2022) und erhalten weniger Remissen (Sahan/SWT 24.10.2022; vgl. SPC 9.2.2022). In staatlichen Behörden - etwa Polizei und Justiz - sind Minderheiten nur spärlich vertreten (ÖB Nairobi 10.2024). Die mächtigen Gruppen erhalten den Löwenanteil an Jobs, Ressourcen, Verträgen, Remissen und humanitärer Hilfe. Schwache Gruppen erhalten wenig bis gar nichts. Bei der Hungersnot 1991 waren die meisten Hungertoten entweder Digil-Mirifle oder Bantu [Anm.: Die Digil sind v. a. Landwirte und nicht Nomaden und können bei Dürre schwerer ausweichen]. Dies gilt auch für die Hungersnot im Jahr 2011. Ein Grund dafür ist, dass humanitäre Hilfe von mächtigeren Clans vereinnahmt wird (Sahan/SWT 24.10.2022). Selbst in Mogadischu erhalten Minderheitenangehörige weniger Nahrungsmittelhilfe (TANA/ACRC 9.3.2023). Sie stehen einem höheren Maß an Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung gegenüber (UN OCHA 14.3.2022).

Ein Programm der Bundesregierung soll zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit von fast 25.000 benachteiligten und marginalisierten Haushalten beitragen. Dieses von Deutschland finanzierte 50-Millionen-Euro-Programm zielt darauf ab, den Zugang zu Bildung, Gesundheit, Hygiene und Ernährung für Kinder und Jugendliche zu verbessern und die Ernährungssicherheit benachteiligter Haushalte zu erhöhen. Die Regierung von Jubaland organisiert Workshops für Jugendliche aus marginalisierten Gruppen, um Integration und Partizipation zu fördern (UNSOM 5.8.2023).

Minderheitengruppen, denen es oft an bewaffneten Milizen fehlt, sind laut einer Quelle überproportional von Gewalt betroffen (Tötungen, Folter, Vergewaltigungen etc.). Täter sind Milizen oder Angehörige dominanter Clans - oft unter Duldung lokaler Behörden (USDOS 22.4.2024). Aufgrund der (vormaligen) Unterstützung von al Shabaab durch manche Minderheiten kann es in Gebieten, aus welchen al Shabaab gewichen ist, zu Repressalien kommen (ÖB Nairobi 10.2024). Von Frauen marginalisierter Gruppen eingebrachte Vergewaltigungsanzeigen werden tendenziell ignoriert (UNSOM 5.8.2023).

Angehörige von Minderheiten stehen vor Hindernissen, wenn sie Identitätsdokumente erhalten wollen - auch im Falle von Reisepässen (UNHCR 22.12.2021a, S. 58).

Mogadischu: In der Hauptstadt verfügen die Hawiye-Clans Abgaal, Habr Gedir und teilweise auch Murusade über eine herausragende Machtposition. Allerdings leben in der Stadt Angehörige aller somalischen Clans, auch die einzelnen Bezirke sind diesbezüglich meist heterogen (AQSOM 4 6.2024; vgl. FIS 7.8.2020a). Laut einem Experten dominieren auch die Rahanweyn mittlerweile bestimmte Stadtteile. Insgesamt leben in Mogadischu sehr viele unterschiedliche Clans, alle können Eigentum besitzen, sich in der Wirtschaft betätigen (AQSOM 4 6.2024), sich frei bewegen und niederlassen. Allerdings besagt der eigene Clanhintergrund, in welchem Teil der Stadt es für eine Person am sichersten ist (AQSOM 4 6.2024; vgl. FIS 7.8.2020b, S. 39). Außerdem tendieren die Menschen dazu, auf dem Gebiet des eigenen Clans zu wohnen. Beziehungen zu Abgaal oder Habr Gedir - familiäre, wirtschaftliche, eheliche oder freundschaftliche - sind von Vorteil, um Konflikte abwenden oder lösen zu können. Generell agieren die dominanten Clans Mogadischus aber nicht im rechtsfreien Raum, da sie aufgrund von z. B. in Mogadischu begangenem Unrecht mit Gegenunrecht in anderen Teilen Somalias rechnen müssen (AQSOM 4 6.2024). Im Allgemeinen ist es schwierig, Menschen, die in Mogadischu aufgewachsen sind, oberflächlich nach Clans zu differenzieren. Es gibt keine äußerlichen Unterschiede, auch der Akzent ist der gleiche. Anhand von Namen lassen sich die Menschen nicht einmal ethnisch zuordnen, da vor allem arabische Namen verwendet werden (UNFPA/DIS 25.6.2020). Zum Clanwesen in Mogadischu siehe auch Sicherheitslage / Süd-/Zentralsomalia / Banadir.

Al Shabaab: Zum Verhältnis von al Shabaab zu Clans und Minderheiten siehe Kapitel Sicherheitslage/Al Shabaab

Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose

Letzte Änderung 2024-12-04 11:37

Auch Angehörige starker Clans können zu Minderheiten werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie in einem Gebiet leben, in dem ein anderer Clan dominant ist. Dies kann Einzelpersonen oder auch ganze Gruppen betreffen. So sehen sich beispielsweise die Biyomaal als exponierter Dir-Clan in Südsomalia manchmal in dieser Rolle. Generell gerät eine Einzelperson immer dann in die Rolle der Minderheit, wenn sie sich auf dem Gebiet eines anderen Clans aufhält. Sie verliert so die mit ihrer Clanzugehörigkeit verbundenen Privilegien. Die Position als "Gast" ist schwächer als jene des "Gastgebers". Im System von "hosts and guests" sind Personen, die sich außerhalb des eigenen Clanterritoriums niederlassen, gegenüber Angehörigen des dort ansässigen Clans schlechter gestellt. In Mogadischu gelten etwa Angehörige der Isaaq, Rahanweyn und Darod als "Gäste". Dieses System gilt auch für IDPs (SEM 31.5.2017, S. 11f/32f). Ein Beispiel derartiger Auswirkungen stammt aus Puntland. Dort haben Sicherheitskräfte mehrere junge Männer festgenommen, von denen angenommen wird, dass sie hinter einer Reihe von Angriffen auf Mitglieder der Ogadeni [Anm.: Der in Jubaland und kenianischen Somali-Gebieten vorherrschende Clan] in Garoowe stecken. Die Übergriffe wurden ausgelöst, weil eine Gruppe Jugendlicher in Nairobi einen jungen Mann aus Garoowe angegriffen und die Tat gefilmt hat. Die Angriffe in Garoowe gelten als Vergeltung für den Angriff in Nairobi (HO 8.9.2024).

Diskriminierung: In den meisten Gegenden schließt der dominante Clan andere Gruppen von einer effektiven Partizipation an Regierungsinstitutionen aus. Diskriminierung erfolgt etwa auch beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu Gerichtsverfahren (USDOS 22.4.2024). Angehörige eines (Sub-)Clans können in von einem anderen (Sub-)Clan dominierten Gebiete auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, insbesondere in Konfliktsituationen bezüglich Unfällen, Eigentum oder Wasser (AA 18.4.2021, S. 12). Auch kann es vorkommen, dass Personen, die einer kleinen Gruppe innerhalb eines großen Clans angehören, von den Nachbarn als Minderheit wahrgenommen und diskriminiert werden (AQSOM 4 6.2024).

Menschen aus Somaliland werden in Süd-/Zentralsomalia nicht diskriminiert. Sie haben Vertreter im System, in der Regierung, im Parlament. Einige junge Somaliländer gehen trotz der schlechten Sicherheitslage der Möglichkeiten wegen nach Süd-/Zentralsomalia, insbesondere im humanitären Bereich (SOMNAT/STDOK/SEM 5.2023).

Ashraf und Sheikhal werden als religiöse Clans bezeichnet. Die Ashraf beziehen ihren religiösen Status aus der von ihnen angegebenen Abstammung von der Tochter Mohammeds; die Sheikhal aus einem vererbten religiösen Status. Beide Clans werden traditionell respektiert und von den Clans, bei welchen sie leben, geschützt. Die Sheikhal sind außerdem eng mit dem Clan der Hawiye / Hirab assoziiert und nehmen sogar einige Sitze der Hawiye im somalischen Parlament ein. Ein Teil der Ashraf lebt als Teil der Benadiri in den Küstenstädten, ein Teil als Clan der Digil-Mirifle in den Flusstälern von Bay und Bakool (EASO 8.2014, S. 46f/103).

Für eine Person ohne Clanidentität ist gesellschaftlicher Schutz nicht vorhanden. Dies führt nicht automatisch zu Misshandlung, fördert aber die Vulnerabilität. Sollte eine Person ohne Clanidentität und ohne Ressourcen zurückkehren, wird es im gegenwärtigen somalischen Kontext für diese physisch und wirtschaftlich sehr schwierig, zu überleben. Allerdings gibt es laut Experten so gut wie niemanden, der nicht weiß, woher er oder sie abstammt (ACCORD 31.5.2021, S. 2f/37/39f).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und anderer terroristischer Gruppen

Letzte Änderung 2024-12-04 10:04

Folgende Personengruppen sind bezüglich eines gezielten Attentats bzw. Vorgehens durch al Shabaab einem erhöhten Risiko ausgesetzt:

Angehörige der AMISOM bzw. ATMIS (BS 2024; vgl. USDOS 30.6.2024; ÖB Nairobi 10.2024) sowie deren lokale Angestellte (BMLV 7.8.2024);

nationale und regionale Behördenvertreter und -Mitarbeiter (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. BS 2024; MBZ 6.2023); die öffentlichen Institutionen Somalias werden von al Shabaab als unislamisch erachtet (MBZ 6.2023);

Angehörige der nationalen Sicherheitskräfte (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023; USDOS 30.6.2024) im sowie abseits des Dienstes (MBZ 6.2023);

Politiker von Bund und Bundesstaaten (MBZ 6.2023; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023; BS 2024); al Shabaab greift z. B. gezielt Örtlichkeiten an, wo sich Regierungsvertreter treffen. Laut einer Quelle haben hochrangige Politiker eine höhere Priorität (MBZ 6.2023);

mit der Regierung in Verbindung gebrachte Zivilisten (USDOS 22.4.2024) und ehemalige oder pensionierte Staatsvertreter - z. B. vormalige Bezirksvorsteher (TSD 20.9.2023; vgl. Sahan/SWT 6.3.2024);

Angestellte von NGOs und internationalen Organisationen (USDOS 22.4.2024); Mitarbeiter werden mitunter beschuldigt, das Christentum verbreiten zu wollen (USDOS 30.6.2024).

Wirtschaftstreibende (Sahan/SWT 7.9.2022), insbesondere dann, wenn sie sich weigern, Schutzgeld ("Steuer") an al Shabaab abzuführen, aber auch, wenn sie die Regierung unterstützen oder einem Clan angehören, der in die Militäroffensive involviert ist (MBZ 6.2023). Ins Visier geraten mitunter auch jene, welche auf Anordnung der NISA an den eigenen Gebäuden Überwachungskameras der Sicherheitsbehörden installiert haben (HIPS 7.5.2024);

Älteste und Gemeindeführer (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. USDOS 22.4.2024; MBZ 6.2023); gemäß somalischen Regierungsangaben aus dem Jahr 2022 hat al Shabaab innerhalb von zehn Jahren 324 Älteste ermordet. Einige der Opfer waren in Wahlprozesse involviert (KM 31.8.2022). Älteste, die nicht oder nicht ausreichend mit der Gruppe kooperieren, werden mitunter eingeschüchtert, entführt oder ermordet (MBZ 6.2023). In jüngerer Vergangenheit hat al Shabaab v. a. solche Ältesten ermordet, die ihre Clans zur Beteiligung an der Offensive gegen die Gruppe aufgerufen bzw. deren Teilnahme öffentlich unterstützt haben (BMLV 9.2.2023; vgl. UNSC 15.6.2023; Sonna 12.4.2023; INGO-C/STDOK/SEM 4.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Dies betrifft insbesondere Älteste der Hawadle (BMLV 7.8.2024; vgl. HO 21.3.2023; INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; IO-D/STDOK/SEM 4.2023), aber z. B. auch Älteste in der Region Gedo (Sahan/SWT 17.11.2023) und der Saleban (MBZ 6.2023), Abgaal in Middle Shabelle und vereinzelt Älteste in Mudug (BMLV 7.8.2024);

Unterstützer der Macawiisley, z. B. zivile Informanten; ganze Gemeinden sind von Rachemaßnahmen bedroht (Sahan/Petrovski 3.5.2024);

Wahldelegierte (UNSC 15.6.2023; vgl. Williams/ACSS 27.3.2023; MBZ 6.2023) und deren Angehörige (USDOS 22.4.2024; vgl. UNSC 10.10.2022); in der Vergangenheit hat al Shabaab alle, die an Wahlen teilnehmen, als Apostaten bezeichnet und sie zu potenziellen Zielen für Anschläge erklärt (Sahan/SWT 9.6.2023; vgl. MBZ 6.2023). Von Anfang 2021 bis Juli 2023 gab es mehr als 50 diesbezügliche Vorfälle, 71 % davon in Mogadischu (ACLED 28.7.2023). Doch auch etwa in Bay und Bakool wurden Delegierte getötet (Sahan/SWT 21.8.2023);

Angehörige diplomatischer Missionen (USDOS 22.4.2024);

prominente und Menschenrechts- und Friedensaktivisten bzw. Organisationen der Zivilgesellschaft (USDOS 22.4.2024; vgl. MBZ 6.2023);

religiöse Führer (Williams/ACSS 27.3.2023; vgl. MBZ 6.2023); laut einer Quelle hat es aber in der jüngeren Vergangenheit keine Attentate auf religiöse Führer gegeben (MBZ 6.2023).

Journalisten (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023) und Mitarbeiter von Medien (USDOS 22.4.2024);

Humanitäre Kräfte (BS 2024; vgl. MBZ 6.2023);

Telekommunikationsarbeiter (USDOS 22.4.2024);

mutmaßliche Kollaborateure und Spione - siehe auch weiter unten (HRW 11.1.2024; vgl. INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; BS 2024; USDOS 22.4.2024);

Deserteure (MBZ 6.2023); siehe dazu Wehrdienst und Rekrutierungen / Al Shabaab - Deserteure und ehemalige Kämpfer

als glaubensabtrünnig Bezeichnete (Apostaten) (BS 2024) oder Blasphemiker (USDOS 30.6.2024) bzw. Personen, die nicht der Glaubensauslegung von al Shabaab folgen (z. B. Sufis) (BMLV 7.8.2024); siehe dazu Religionsfreiheit

(vermeintliche) Angehörige oder Sympathisanten des sogenannten Islamischen Staates in Somalia (ISS) (AA 23.8.2024; vgl. HO 26.3.2023); den ISS hat al Shabaab als Seuche bezeichnet, welche ausgerottet werden müsse (JF 14.1.2020);

Personen, die einer Schutzgelderpressung ("Steuern") nicht nachkommen; siehe dazu Recht und "Steuer"-Wesen bei al Shabaab

Personen all dieser Kategorien werden insbesondere dann zum Ziel, wenn sie kein Schutzgeld bzw. "Steuern" an al Shabaab abführen. Gleichzeitig muss davon ausgegangen werden, dass zahlreiche Angriffe und Morde auf o. g. Personengruppen politisch motiviert oder einfache Verbrechen sind, die nicht auf das Konto von al Shabaab gehen (BMLV 7.8.2024).

Spionage und Kollaboration: In von al Shabaab kontrollierten Gebieten gelten eine Unterstützung der Regierung und Äußerungen gegen al Shabaab als ausreichend, um als Verräter verurteilt und hingerichtet zu werden (AA 23.8.2024). Al Shabaab tötet - meist nach unfairen Verfahren - Personen, denen Spionage für oder Kollaboration mit der Regierung oder ausländischen Kräften vorgeworfen wird (HRW 11.1.2024; vgl. USDOS 30.6.2024). Beispiele für Hinrichtungen: Im Jänner 2024 werden in Jilib sieben Männer wegen angeblicher Spionage für die Bundesregierung, die Regierung von Jubaland, die USA und Kenia öffentlich exekutiert (Halqabsi 15.1.2024). Im Juni 2023 werden in Kunyo Barrow, Lower Shabelle, fünf Männer wegen angeblicher Spionage für die Bundesregierung und ausländische Nachrichtendienste öffentlich durch Erschießen exekutiert (SMN 16.6.2023).

Die Schwelle dessen, was al Shabaab als Kollaboration mit dem Feind wahrnimmt, ist mitunter sehr niedrig angesetzt (STDOK 8.2017, S. 40f). So wurden etwa im Feber 2021 in Mogadischu drei Frauen erschossen, die im Verteidigungsministerium als Reinigungskräfte gearbeitet hatten (Sahan/KM o.D.) - nach Angaben einer Quelle wird ihr Beruf aber nicht der einzige Grund für die Exekution gewesen sein, die Frauen haben vermutlich die Zusammenarbeit mit al Shabaab verweigert (BMLV 7.8.2024).

Insbesondere in Frontgebieten oder Orten, deren Herrschaft wechselt, kann auch das Verkaufen von Tee an Soldaten bereits als Kollaboration wahrgenommen werden (STDOK 8.2017, S. 40ff). So wurden etwa Anfang Juli 2021 fünf Zivilisten im Gebiet Jowhar von al Shabaab entführt, weil sie Soldaten der Armee mit Erfrischungen bewirtet bzw. mit ihnen gehandelt hatten. Mehrere Häuser und Fahrzeuge wurden angezündet (ATMIS/Caasimada 2.7.2021). Generell sind jedenfalls das Ausmaß und/oder die Gewissheit der Kollaboration; der Ort des Geschehens; und die Beziehungen der betroffenen Person dafür ausschlaggebend, ob al Shabaab die entsprechenden Konsequenzen setzt. Besonders gefährdet sind Personen, welche folgende Aspekte erfüllen: a) die Kollaboration ist offensichtlich; b) der Ort lässt eine leichte Identifizierung des Kollaborateurs zu; c) eine Exekution wird als maßgebliches Abschreckungszeichen wahrgenommen; d) wenn sich die Kollaboration in einem Ort mit fluktuierender Kontrolllage zugetragen hat (STDOK 8.2017, S. 40ff).

Auf der anderen Seite kollaborieren viele Menschen mit al Shabaab. Verwaltungsstrukturen und Sicherheitskräfte sind unterwandert. Eine derartige Kollaboration kann aus finanziellen oder ideologischen Gründen erfolgen, oft aber auch aus Angst. Es scheint wenig ratsam, ein "Angebot" von al Shabaab abzulehnen (BMLV 7.8.2024).

Grundsätzliche Ziele: Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates, Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, auf Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie direkt Soldaten von Armee und ATMIS. Grundsätzlich richten sich die Angriffe der al Shabaab in nahezu allen Fällen gegen Personen des somalischen Staates (darunter die Sicherheitskräfte), Institutionen der internationalen Gemeinschaft (darunter ausländische Truppen) und gegen Gebäude, die von erst- und zweitgenannten Zielen frequentiert werden (BMLV 9.2.2023). Hotels werden i.d.R. angegriffen, um die Entrichtung von Steuern und Abgaben einzumahnen. Möglicherweise anwesende Staatsvertreter gelten hierbei als „Draufgabe“. Ausnahmen dazu können vorkommen, etwa, wenn ein Anschlag einer bestimmten Feier in einem Hotel gilt oder wenn sich dort gleichzeitig drei Minister befinden würden. Anschläge auf Cafés und Restaurants fallen entweder ebenfalls in die Kategorie „Mahnung“ oder sollen Schlagzeilen machen - etwa wenn ein Anschlag auf Fußballzuschauer verübt wird, um daran zu erinnern, dass Fußball aus Sicht von al Shabaab „un-islamisch“ ist (BMLV 7.8.2024).

Die meisten Anschläge außerhalb von Mogadischu richten sich gegen Sicherheitskräfte und vermehrt auch Führungspersonen aus Clans, die sich dem Kampf gegen al Shabaab verpflichtet haben (AA 23.8.2024). Gemäß einer Aussage einer Quelle der FFM Somalia 2023 stellt das letztgenannte Phänomen aber eine Ausnahme dar, denn üblicherweise wird eine Person nicht durch den eigenen Clan(Hintergrund) zum Ziel, sondern durch das eigene Tun und Handeln (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Drohungen: Eine Quelle der FFM Somalia 2023, deren Mitarbeiter in vielen Teilen Somalias arbeiten, erklärt, dass Bedrohungen durch al Shabaab nicht überprüfbar sind. Tatsächlich ist oft unklar, wer hinter einer Drohung steht, ob es um den Arbeitgeber geht oder um Persönliches oder um ein Familienmitglied (weil z. B. der Vater Polizist ist). Kein Mitarbeiter dieser großen Organisation hat bisher wegen Drohungen die Organisation verlassen müssen (MAEZA/STDOK/SEM 4.2023). Eine weitere Quelle der FFM erläutert diesbezüglich: Wenn eine Person eine Textnachricht von al Shabaab erhalten hat und darin nur Drohungen ausgesprochen und keine Forderungen gestellt werden, dann ist es oft schwierig, tatsächlich al Shabaab als Absender festzustellen. Die Nachricht kann auch von einer anderen Quelle stammen, die dafür eigene Motive hat. Zusätzlich agiert al Shabaab als Stellvertreter anderer mafiöser Strukturen. Wenn z. B. ein Mord aufgrund von wirtschaftlichen oder Clan-Interessen ausgeführt wird, kann dieser von al Shabaab vollzogen werden - oder aber die Gruppe wird dafür verantwortlich gemacht (UNOFFX/STDOK/SEM 4.2023).

Ausweichmöglichkeiten: Wenn al Shabaab eine Person bedroht, kann diese natürlich auch flüchten. Manche tun dies auch – mitunter aus Angst und in der Gewissheit, dass die Regierung sie nicht beschützen kann, weil dieser die entsprechenden Kapazitäten fehlen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut zweier Quellen kann sich ein Mensch in Mogadischu vor al Shabaab verstecken (BMLV 7.8.2024; vgl. AI 13.2.2020, A. 36). Dies kann beispielsweise für eine Person gelten, die vom eigenen Clan z. B. im Bezirk Jowhar für eine Rekrutierung bei al Shabaab vorgesehen gewesen wäre und sich nach Mogadischu abgesetzt hat; nicht aber prominentere Personen, die vor al Shabaab auf der Flucht sind. Al Shabaab verfügt also generell über die Kapazitäten, menschliche Ziele – auch in Mogadischu – aufzuspüren. Unklar ist allerdings, für welche Personen al Shabaab bereit ist, diese Kapazitäten auch tatsächlich aufzuwenden. Außerdem unterliegt auch al Shabaab den Clandynamiken. Die Gruppe ist bei der Zielauswahl an gewisse Grenzen gebunden. Durch die Verbindungen mit unterschiedlichen Clans ergeben sich automatisch Beschränkungen. Zusätzlich möchte al Shabaab mit jedem begangenen Anschlag und mit jedem verübten Attentat auch ein entsprechendes Publikum erreichen (BMLV 7.8.2024).

Al Shabaab stellt keine Haftbefehle aus. Eine Suche läuft durch ihre eigenen, entwickelten Informationssysteme. Die Gruppe weiß, wie man Personen aufspürt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Nach Angaben von Quellen der FFM Somalia 2023 kann al Shabaab in Städten wie Mogadischu jedermann aufspüren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023) bzw. ist es schwierig, sich effektiv zu verstecken (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Da in größeren Städten bestimmte Subclans oft in bestimmten Stadtteilen leben, kann al Shabaab eine Person auch über das Clansystem ausfindig machen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 ist man in Somaliland, Garoowe und Bossaso vor al Shabaab einigermaßen sicher. Der Gruppe mangelt es dort demnach an Kapazitäten und Personal. Allerdings kann es auch dort zu Drohungen kommen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023).

Üblicherweise verfolgt al Shabaab zielgerichtet jene Person, derer sie habhaft werden will. Sollte die betroffene Person nicht gefunden werden, könnte stattdessen ein Familienmitglied ins Visier genommen werden. Wurde al Shabaab der eigentlichen Zielperson habhaft bzw. hat sie diese ermordet, dann gibt es keinen Grund mehr, Familienangehörige zu bedrohen oder zu ermorden. Manchmal kann es zur Erpressung von Angehörigen kommen (BMLV 7.8.2024).

Der sogenannte Islamische Staat in Somalia (ISS) operiert nahezu ausschließlich in Puntland bzw. mit einigen Zellen in Mogadischu. Die Hauptziele des ISS in Puntland sind Regierungsangestellte und Politiker, Soldaten, Mitarbeiter des Nachrichtendienstes und Polizisten. Zudem wendet sich der ISS hier und auch in Mogadischu gegen Angehörige von al Shabaab sowie gegen jene Personen (v. a. Händler und Geschäftsleute), die sich weigern, Abgaben bzw. Schutzgeld zu entrichten (BMLV 7.8.2024; vgl. TSD 12.11.2023).

Risiko in Zusammenhang mit Schutzgelderpressungen ("Steuern")

Letzte Änderung 2024-12-04 10:14

Zum System der "Besteuerung" durch al Shabaab siehe Rechtsschutz, Justizwesen / "Steuer"-Wesen bei al Shabaab

Betriebe und Einzelpersonen werden durch Angst genötigt, Geld an al Shabaab abzuführen (UNSC 10.10.2022, Abs. 46). Jene, welche Abgaben an al Shabaab abführen, können ungestört leben (HI 10.2020). Für Zahlungsverzögerungen bei "Steuer"-Forderungen drohen i.d.R. hohe Strafzahlungen (GN 10.11.2022b; vgl. HI 10.2020) oder der Ausschluss von Märkten (HI 10.2020). Wenn z. B. ein Fahrer eine Abgabe verweigert oder versucht, einen Checkpoint der al Shabaab zu umfahren, dann muss er als Strafe meist den doppelten Betrag abführen. Diese nicht-verhandelbare Strafe wird etwa per SMS "zugestellt" oder aber Fahrzeugbesitzer oder Fahrer werden per Nachricht an eines der Schariagerichte der Gruppe einberufen (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Auf Zahlungsverweigerungen folgen Drohungen (BS 2024) oder die Konfiszierung von Gütern (MBZ 6.2023). Für al Shabaab ist es nicht schwierig, eine Telefonnummer zu bekommen. So kann die Gruppe jede Person erreichen. In Mogadischu rufen sie z. B. Mitarbeiter einer Quelle an und sagen: "Kommen Sie zum Ort X und geben sie uns 2.000 US-Dollar." In anderen Gebieten hat al Shabaab einen direkteren Zugriff (IO-D/STDOK/SEM 4.2023). Allerdings ist es immer möglich, dass hinter Steuerforderungen gar nicht al Shabaab steht, sondern andere kriminelle Akteure, die sich als al Shabaab ausgeben. Im Fall einer Weigerung der Zahlung an al Shabaab gibt es in vielen Fällen einen Spielraum für Verhandlungen über die Höhe (Landinfo 8.9.2022). Bei einer völligen Verweigerung übergibt al Shabaab den "Fall" dem Amniyat (MBZ 6.2023).

Später folgen auch Todesdrohungen (HI 10.2020). In extremen Einzelfällen kann es vorkommen, dass al Shabaab Personen, die keine Gebühren abführen wollen, tötet (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vgl. BS 2024; MBZ 6.2023). Auch wenn derartige Fälle sehr selten sind, sorgen sie dafür, dass andere aus Angst freiwillig „Steuern“ abführen (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Es kommt auch zur Zerstörung von Eigentum und Betriebsmitteln (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. GITOC/Bahadur 8.12.2022; HI 10.2020). Manchmal werden Geschäfte mit Sprengsätzen zerstört (MBZ 6.2023). Oder aber al Shabaab sorgt dafür, dass Unternehmen keine Aufträge mehr erhalten. Wirtschaftstreibende verschweigen es üblicherweise, wenn sie Geld an al Shabaab abführen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Kommt es zu einem Anschlag auf ein Hotel, dann steht für al Shabaab eine Strafaktion für ausständige "Steuer"-Zahlungen im Vordergrund. Allfällig anwesende Regierungsvertreter oder Staatsbedienstete sind hierbei nur nebenrangige Ziele, wiewohl al Shabaab einen "günstigen" Zeitpunkt abwartet, um gleichzeitig auch solche Ziele zu treffen (BMLV 7.8.2024). Ein anderes Beispiel stammt aus Galmudug im Jahr 2022, wo Nomaden den Forderungen von al Shabaab nicht nachgekommen sind. Dort griff al Shabaab die Gemeinde an, entführte und tötete Nomaden und plünderte ihren Viehbestand (UNSC 10.10.2022, Abs. 47f).

Generell halten Todesdrohungen und - in Einzelfällen - tatsächlich angewandte Gewalt das "Steuer"-System der al Shabaab aufrecht (GITOC/Bahadur 8.12.2022; vgl. AQ21 11.2023; MBZ 6.2023). Die Androhung von Gewalt ist insofern ein Sparfaktor, als es aus Sicht von al Shabaab dadurch weniger Kontrolle braucht (AQ21 11.2023). Nur jene können den Druck ertragen und einer Besteuerung entgehen, welche sich außerhalb der Reichweite von al Shabaab befinden (HI 10.2020). Nach anderen Angaben besteht dieser Druck z. B. in Bossaso weniger stark, in Garoowe kaum (AQ21 11.2023).

Auch der Islamische Staat in Somalia fordert Schutzgeld - v. a. von Wirtschaftstreibenden in städtischen Gebieten. Jene, die sich der Zahlung widersetzen, müssen mit Gewalt rechnen (USDOS 22.4.2024; vgl. USDOT 27.7.2023; TSD 12.11.2023).

Bewegungsfreiheit und Relokation

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung 2025-01-16 14:10

Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt (USDOS 22.4.2024) – v. a. durch die Unsicherheit entlang der wichtigsten Straßen (MBZ 6.2023), durch Checkpoints und Straßenblockaden der jeweiligen Machthaber in bestimmten Gebieten, aber auch durch Kampfhandlungen. IDPs sind in den Lagern in und um Mogadischu teils strikten Beschränkungen bezüglich ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen. Davon abgesehen sind keine Einschränkungen für bestimmte Gruppen bekannt (ÖB Nairobi 10.2024).

Überlandreisen: Straßensperren (Checkpoints), welche von Regierungstruppen, verbündeten Gruppen, bewaffneten Milizen, Clan-Fraktionen und al Shabaab betrieben werden, behindern die Bewegungsfreiheit. Dort kommt es mitunter zu Raub, Erpressung, Belästigung und Gewalt (USDOS 22.4.2024; vgl. FH 2024b). Derartige Verbrechen werden laut einer Quelle in erster Linie Straßensperren von Clanmilizen zugeschrieben, während jene von al Shabaab oder Regierungskräften als besser organisiert und sicherer gelten (TANA/ACRC 9.3.2023). Nach anderen Angaben bleibt al Shabaab die größte Bedrohung hinsichtlich Bewegungsfreiheit entlang von Hauptversorgungsrouten in Süd-/Zentralsomalia. Die Gruppe verwendet entlang dieser Straßen Sprengsätze und legt Hinterhalte. Manchmal placiert al Shabaab Sprengsätze auch deswegen, um dadurch den Verkehr auf Straßen umzulenken, an welchen sie Checkpoints unterhält, wo Gebühren eingehoben werden (BMLV 5.11.2024).

Generell können vier Arten von Straßensperren genannt werden: 1. solche, die nur zum Raub an Reisenden errichtet werden - unabhängig von Clankonflikten oder Machtkämpfen; 2. solche, die im Rahmen von Clankonflikten errichtet werden (auch dort kann es zu Gewalt kommen); 3. Sperren von al Shabaab [Anm.: siehe dazu weiter unten]; und 4. Sperren von Regierungskräften (TANA/ACRC 9.3.2023). An Checkpoints schließen die Sicherheitskräfte oft aufgrund des Akzents auf die Herkunft eines Passanten. Fremde werden hinsichtlich ihrer Bewegung befragt (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023). Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 müssen sich an Straßensperren lediglich die Fahrer ausweisen, Fahrgäste können ungehindert passieren (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Allerdings kommt es an Checkpoints zwischen Clanmilizen, aber auch mit und unter staatlichen Einheiten, die sich um die Kontrolle und um Einnahmen streiten, immer wieder auch zu Kampfhandlungen (AA 23.8.2024). Auch abseits von Straßensperren kann das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen (FH 2024b). Gegen einige Städte unter Regierungskontrolle führt al Shabaab eine Blockade durch (HRW 11.1.2024).

Die normale Bevölkerung kann sich problemlos bewegen bzw. eine Überlandreise antreten (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. Researcher/STDOK/SEM 4.2023; EUAA 2.2023). Allerdings sind solche Bewegungen nicht ohne Risiko. Das diesbezügliche Risiko hat sich seit Beginn der Offensive in Zentralsomalia dort verstärkt (MBZ 6.2023; vgl. BMLV 5.11.2024) bzw. versucht al Shabaab, Spione frühzeitig zu erkennen, und agiert dabei mitunter paranoid (BMLV 5.11.2024). Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen. Die Menschen reisen nicht uninformiert (BMLV 5.11.2024; vgl. Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). Reisende und Fahrer versuchen ihre Reise nach neuesten sicherheitsrelevanten Informationen zu adaptieren Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). So werden etwa Passagiere, die durch Gebiet von al Shabaab reisen, ihr Smartphone nicht mit sich führen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Generell können Menschen aber jedes Ziel in Süd-/Zentralsomalia erreichen. Um in kleinere Dörfer zu gelangen, muss meist in der nächstgelegenen Bezirkshauptstadt umgestiegen werden (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9).

Überlandreisen werden bevorzugt mit Minibussen (9-Sitzer), auf Lastwägen oder aber zu Fuß unternommen. Es ist einfach, sich in Mogadischu eine solche Fahrt zu organisieren (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). Es gibt Busse z. B. nach Belet Weyne, Dhusamareb und Galkacyo (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Auch von Kismayo oder Middle Juba fahren Kleinbusse überall hin, auch nach Kenia und über Gebiet von al Shabaab nach Mogadischu (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Straßenzustand und Sicherheitsüberlegungen können den Zugang zu einzelnen Destinationen fallweise verunmöglichen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/7/9). 90 % der rund 22.000 Straßenkilometer befinden sich in sehr schlechtem Zustand (TANA/ACRC 9.3.2023).

Spezifische Überlandrouten:

Baidoa - Mogadischu: Al Shabaab kontrolliert den Ort Leego an der Straße zwischen Wanla Weyne und Buur Hakaba. Damit ist die Route von Mogadischu nach Baidoa für Zwecke der Regierung geschlossen. In Bay bzw. Lower Shabelle kann es dort zu Übergriffen durch unterschiedliche Akteure kommen. Al Shabaab hat Zugriff auf die gesamte Straße, sie kontrolliert die Verbindung von Baidoa nach Buur Hakaba und weiter nach Bali Doogle. Rund um Baidoa betreibt die Gruppe Straßensperren (BMLV 5.11.2024).

Baidoa - Bakool: Der strategisch relevante Ort Goof Gaduud an der Route zwischen Baidoa und Bakool und weiter nach Luuq hat in den vergangenen Monaten mehrfach den Besitzer gewechselt und ist einer der meistumkämpften Orte Somalias. Die Verbindung von Baidoa nach Waajid befindet sich zumindest abschnittsweise unter Kontrolle von al Shabaab (BMLV 5.11.2024).

Baidoa - Luuq - Doolow (Äthiopien): Dies ist eine der am besten gesicherten Straßenabschnitte in Somalia, es handelt sich um die Hauptversorgungsroute der äthiopischen Kräfte für Baidoa und die Regionen Bay und Bakool. Im Gebiet zwischen Doolow und Luuq kommt es nur selten zu Zwischenfällen (BMLV 5.11.2024).

Mogadischu - Belet Weyne - Dhusamareb: Die Verbindung von Mogadischu nach Belet Weyne ist offen (BMLV 5.11.2024; vgl. AQ21 11.2023). Allerdings werden die ATMIS-Stützpunkte entlang dieser Straße nach und nach an die Bundesarmee übergeben oder aufgelöst, und es waren diese Stützpunkte, welche wesentlich zur Sicherheit der Route beigetragen haben (BMLV 4.7.2024). Die Route von Belet Weyne nach Dhusamareb ist weitgehend sicher (BMLV 5.11.2024).

Kismayo - Kenia: Al Shabaab kontrolliert an der Hauptversorgungsroute von Kismayo nach Dhobley (BMLV 5.11.2024). Die Gruppe verfügt an allen Ausfallstraßen aus Kismayo – sowohl in Richtung Jamaame als auch in Richtung Dhobley oder Kolbiyow – über Checkpoints (GITOC/Bahadur 8.12.2022). Generell kann es an den Straßenverbindungen in der Region Lower Juba zu Übergriffen durch al Shabaab kommen (BMLV 5.11.2024).

Gedo: An den Verbindungen in Gedo südlich von Garbahaarey kann es zu Übergriffen durch al Shabaab kommen (BMLV 5.11.2024).

Bakool: In Bakool kommt es entlang der Verbindungsstraßen zwischen Waajid, Yeed und Ceel Barde nur selten zu Zwischenfällen. Die Verbindungen von und nach Xudur unterliegen wiederkehrenden Angriffen von al Shabaab. Xudur ist von al Shabaab eingekreist (BMLV 5.11.2024).

Mogadischu: Zur Bewegungsfreiheit innerhalb von Mogadischu siehe Sicherheitslage - Banadir Regional Administration.

Frauen: Laut einer Quelle der FFM Somalia 2023 können sich Frauen problemlos bewegen (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023). Es ist nicht ungewöhnlich, alleine reisende ältere Frauen anzutreffen. Dahingegen wird vermieden, jüngere Frauen ohne Begleitung auf Reisen zu schicken – v. a. aufgrund der Gefahr sexueller Gewalt (Landinfo 28.6.2019, S. 11f). Bezüglich dieser besteht für Frauen an Straßensperren ein erhöhtes Risiko (FIS 7.8.2020a, S. 23).

Straßensperren von al Shabaab: Das Netzwerk an Straßensperren bzw. Checkpoints bleibt stabil, es ist auch für einen großen Teil der Einnahmen von al Shabaab verantwortlich. Die Gruppe betreibt über 100 Checkpoints in Süd-/Zentralsomalia (UNSC 10.10.2022, Abs. 41f). In ländlichen Gebieten der gesamten Südhälfte Somalias ist jederzeit auch mit spontan errichteten Checkpoints von al Shabaab zu rechnen (AA 3.6.2024). Die Gruppe kontrolliert einige der wichtigsten Versorgungsrouten (BS 2024). Außerhalb der tatsächlich von der Regierung und ihren Alliierten kontrollierten Gebieten besteht eine große Wahrscheinlichkeit, auf eine Straßensperre von al Shabaab zu stoßen, die in erster Linie auf die Einhebung von Steuern und Abgaben abzielen, und in zweiter Linie darauf, Spione zu identifizieren. Generell ist es weder Ziel von al Shabaab, Menschen am Reisen zu hindern, noch sind Reisende selbst ein Ziel (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f; vgl. BMLV 5.11.2024). Die Gruppe hat i.d.R. kein Interesse daran, den Verkehr lahmzulegen (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Menschen können z. B. aus den Gebieten von al Shabaab in Städte reisen, um sich dort medizinisch behandeln zu lassen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f). Ein Bericht über die „Besteuerung“ von Straßenverkehr und Gütern an Checkpoints von al Shabaab zeigt, dass der Verkehr in Süd-/Zentralsomalia aus, in und durch das Territorium von al Shabaab möglich ist (GITOC/Bahadur 8.12.2022).

Allerdings verhält sich al Shabaab an Straßensperren unberechenbar und in Zeiten von Kampfhandlungen auch zunehmend paranoid. Menschen können nie voraussehen, wie sie dort behandelt werden. Gebühren werden eingehoben, die Identität aller Reisenden wird verifiziert. Al Shabaab kennt den Hintergrund vieler Menschen, ihr Nachrichtendienst ist effizient (BMLV 5.11.2024). Wenn also eine Person in eine solche Kontrolle gerät, und über diese Person im Rahmen der ausführlichen Netzwerke von al Shabaab eine Meldung vorliegt, dass diese Person z. B. vor ein paar Monaten negativ aufgefallen ist, dann kann dies zu Repressalien führen (ACCORD 31.5.2021, S. 40). Mitunter wurden sogar Angehörige von Soldaten der Bundesarmee an Checkpoints der Gruppe herausgefiltert (BMLV 5.11.2024). Generell ist die größte Gefahr, dass ein Reisender an einer Straßensperre für dem Feind zugehörig gehalten wird. Daher versuchen Reisende, sich unauffällig zu verhalten und keinen Verdacht zu erregen (TANA/ACRC 9.3.2023).

Angst vor al Shabaab müssen in erster Linie jene Reisenden haben, die Beamte, Politiker oder militärisches Personal sind. Sie tragen ein Risiko, entführt zu werden (MBZ 6.2023) oder befinden sich in Lebensgefahr. Dies gilt insbesondere an Straßensperren in jenen Gebieten, die nicht vollständig unter Kontrolle von al Shabaab stehen. Dort dürfen Spione standrechtlich – ohne Verfahren – exekutiert werden. In den Gebieten unter Kontrolle von al Shabaab werden Verdächtige i.d.R. verhaftet und vor Gericht gestellt. Auch dies hat - bei einem Schuldspruch - den Tod zur Folge. Außerdem kann es Personen treffen, die von al Shabaab – etwa wegen des Mitführens von bestimmten Objekten (Smartphones, Regierungsdokumente, Symbole, die mit der Regierung assoziiert werden etc.) – als mit der Regierung in Zusammenhang stehend oder als Spione verdächtigt werden. Auch Reisende, die im Gebiet der Reisebewegung weder über Familien- noch Clanverbindungen verfügen, können von al Shabaab unter Umständen als Spione verdächtigt werden (außer sie haben einen Bürgen). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Reiseziel der Person im von al Shabaab kontrollierten Gebiet liegt (Landinfo 28.6.2019, S. 4/9f/11).

Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Kontext mit al Shabaab an solchen Straßensperren kein Problem dar. Allerdings ruft westliches Verhalten oder westliche Kleidungsart Sanktionen hervor – etwa Auspeitschen. Reisende passen sich daher üblicherweise den Kleidungs- und Verhaltensvorschriften von al Shabaab an, um nicht herauszustechen (Landinfo 28.6.2019, S. 4/11).

Ausweichmöglichkeiten und Binnenmigration: Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen jedenfalls für einen Teil der Bevölkerung (ÖB Nairobi 10.2024). Im Fall einer nicht durch individuelle Verfolgung begründeten Flucht aus von al Shabaab kontrollierten Gebieten bieten urbane Zentren und ländliche Gebiete unter staatlicher Kontrolle relativ größere Sicherheit. Dabei ist es schwierig, relativ sichere Zufluchtsgebiete pauschal festzulegen, denn je nach Ausweichgrund und persönlichen Umständen ist eine Person möglicherweise in einem anderen Gebiet Somalias einem anderen Risiko ausgesetzt (AA 23.8.2024).

Die soziale und wirtschaftliche Integration in „clanfremden“ Gebieten kann zum Teil schwierig sein (AA 23.8.2024). Menschen aus Süd-/Zentralsomalia können sich in Somaliland und Puntland ansiedeln. Dort werden sie jedoch nur "halb" akzeptiert, in Somaliland kommen ihnen keine Staatsbürgerrechte zu (ACCORD 31.5.2021, S. 25f). Trotzdem herrscht in Somaliland und Puntland (außer in den umstrittenen Gebieten) mehr Freiheit (AA 23.8.2024). Üblicherweise genießen Somalis außerdem den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind (ÖB Nairobi 10.2024). Selbst IDPs tun sich bei einer Integration leichter, wenn sie z. B. in Mogadischu über Beziehungen und Clanverbindungen verfügen. Manchmal helfen bei einer Integration auch spezielle berufliche Fähigkeiten (FIS 7.8.2020a, S. 36). Abseits somalischer Bantu (BMLV 5.11.2024) gibt es keine physischen Charakteristika, welche die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan erkennen ließen. In Mogadischu und anderen großen Städten ist es nicht automatisch nachvollziehbar, welchem Clan eine Person angehört (Landinfo 4.4.2016, S. 9). In Mogadischu leben Angehörige aller somalischen Clans, sie können sich dort frei bewegen, niederlassen und eine Unterkunft mieten (INGO-F/STDOK/SEM 4.2023; vgl. FIS 7.8.2020a, S. 39). Üblicherweise suchen Neuankömmlinge aber die Nähe ihres eigenen Clans, da sie sich dort wesentlich mehr Unterstützung erwarten (BMLV 5.11.2024).

Generell hat die Binnenmigration seit 2012 stark zugenommen, v. a. der Zuzug in urbane Gebiete. Menschen erhoffen sich in der Stadt eine bessere Zukunft und bessere Lebensbedingungen als etwa auf dem Land, wo wiederkehrende Dürren und Überschwemmungen ein nomadisches oder landwirtschaftliches Leben schwer gemacht haben (FIS 7.8.2020a, S. 36; vgl. ACCORD 31.5.2021, S. 16/24). Immer mehr Menschen flüchten und kommen nach Mogadischu (Guardian/Mohamed Ahmed 8.6.2022). [siehe dazu auch Binnenflüchtlinge (IDPs)]

Luftweg: Die sicherste Art des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen (FIS 7.8.2020a, S. 29; vgl. Landinfo 28.6.2019, S. 6f). Regierungsvertreter nutzen das Flugzeug, wo es nur geht. Von Mogadischu aus können Baidoa, Kismayo, Garoowe, Galkacyo, Bossaso, Cadaado, Guri Ceel sowie Hargeysa mit Linienflügen erreicht werden (MBZ 6.2023). Anbieter ab Mogadischu gibt es auch für Flüge nach Cabudwaaq, Belet Weyne und Dhobley (EASO 9.2021). Laut einer Quelle verfügen alle größeren Städte außer Afgooye und Balcad über Flughäfen oder Landebahnen. Die Kosten für ausgewählte Flüge von Mogadischu aus werden von einer Quelle der FFM Somalia 2023 wie folgt angegeben (in US-Dollar): Jowhar 90; Kismayo 170-190; Garoowe 190-210; Hargeysa 250. Flüge werden nicht online, sondern über Reisebüros gebucht. Laut dieser Quelle wird für einen Inlandsflug (außer Hargeysa) kein Ausweis benötigt, es kann dann aber zu einer Befragung durch Sicherheitskräfte kommen (INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Seeweg: Der Passagiertransport per Boot ist nicht sehr verbreitet (Researcher/STDOK/SEM 4.2023). Zwischen Mogadischu und Merka gibt es einen Bootsbetrieb für Passagiere. Eine Strecke kostet 30 US-Dollar (MBZ 6.2023; vgl. INGO-C/STDOK/SEM 4.2023).

Ausreisekontrolle: Eine effektive Ausreisekontrolle an den Grenzübergängen von Somalia in die Nachbarländer findet nicht statt. Sowohl die Landgrenze als auch die Seegrenze werden weitgehend nicht überwacht. Kontrollen werden dagegen bei Flugreisen ab Mogadischu, Garoowe und Bossaso durchgeführt (AA 23.8.2024).

[…]“

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit sowie Religionszugehörigkeit des BF und zu seinen muttersprachlichen Sprachkenntnissen beruhen auf seinen diesbezüglich gleichbleibenden Angaben im verwaltungsbehördlichen Verfahren (vgl. AS 5f; EV, S. 6f). Ebenso brachte er im Laufe des Asylverfahrens stringent vor, dem Clan der Sheikhal (Subclan XXXX , Subsubclan XXXX ) anzugehören (vgl. AS 101 und OZ 6, S. 8), was auch vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid festgestellt wurde (vgl. AS 138). Dass der BF ledig und kinderlos ist, ist seinen eigenen Angaben (AS 98) zu entnehmen.

Zum Gesundheitszustand des BF ist festzuhalten, dass dieser zwar zuletzt in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht angab, er habe „ein gesundheitliches Leiden“, er sei deswegen aber nicht in ärztlicher Behandlung (OZ 6, S. 3). Erst bei Nachfragen zu seinem Fluchtvorbringen gab er an, dass er bei schwerer Arbeit Schmerzen an der Stelle, an der er verletzt worden sei, habe. Auf Nachfrage verneinte er, Medikamente einzunehmen. Er gab jedoch an, einen Arzttermin zu haben. Auf weitere Nachfragen konnte er aber hingegen weder den genauen Termin noch den Arzt nennen (OZ 6, S. 23) und legte er keinerlei ärztliche Unterlagen vor. In der Erstbefragung verneinte er noch, Beschwerden oder Krankheiten zu haben, die ihn an der Einvernahme hindern oder das Asylverfahren in der Folge beeinträchtigen würden (AS 8). Auch vor dem Bundesamt gab er auf die Frage, ob er völlig gesund sei, an: „Ja. Es geht mir gut. Ich bin gesund. Ich benötige keine Medikamente.“ Auf Nachfrage, ob er in ärztlicher Behandlung sei oder Medikamente einnehme, gab er an: „Nein, ich bin gesund und benötige keine Medikamente.“ Schließlich gab er vor dem Bundesamt auch an, dass er aufgrund seiner Verletzungen zwar in verschiedenen Krankenhäusern in Behandlung gewesen sei, jedoch zuletzt in der Türkei medizinisch behandelt worden sei, woraufhin eine „vollständige Heilung“ erfolgt sei (AS 103), sodass eine wesentliche Beeinträchtigung seines Allgemeinzustandes nicht hervorgekommen ist und festzustellen war, dass er an keinen schwerwiegenden psychischen oder physischen Erkrankungen leidet.

Das festgestellte Geburtsdatum beruht auf dem vom Bundesamt eingeholten Altersfeststellungsgutachten (vgl. AS 43ff), dessen Ergebnissen der BF im Laufe des Verfahrens nicht in konkreter Weise entgegengetreten ist. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab er zudem an, dass er das festgestellte Geburtsdatum angenommen habe (OZ 6, S. 3).

Zu seiner Herkunft machte der BF übereinstimmende Angaben im Laufe des Verfahrens (vgl. AS 7, AS 125 sowie OZ 6, S. 4).

Dass er an seinem Herkunftsort mit seinen Eltern, seinen drei Schwestern und seinen fünf Brüdern lebte, ergibt sich ebenso aus seinem eigenen Vorbringen (vgl. AS 99 und OZ 6, S. 5). Seine Angabe vor dem Bundesamt, wonach er – nicht, wie in der Erstbefragung protokolliert, 14 – sondern insgesamt acht Geschwister habe, war diesbezüglich glaubhaft (AS 99).

Hinsichtlich des Vaters des BF ist festzuhalten, dass der BF zwar im Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen angab, dass dieser verstorben sei, jedoch wird seinem Vorbringen die Fluchtgründe betreffend insgesamt kein Glaube geschenkt – wie unter Punkt II.2.2.1. ausgeführt wird, sodass festzustellen war, dass dieser nicht von Al Shabaab getötet worden ist. Hinsichtlich der Schwester des BF ist festzuhalten, dass der BF zwar im Zusammenhang mit seinem Fluchtvorbringen angab, dass diese von Al Shabaab mitgenommen worden sei, jedoch wird seinem Vorbringen die Fluchtgründe betreffend insgesamt kein Glaube geschenkt – wie unter Punkt II.2.2.1. ausgeführt wird – sodass festzustellen war, dass diese nicht von Al Shabaab mitgenommen worden ist.

Die Feststellungen zur Schulbildung, seiner fehlenden Berufsausbildung und beruflichen Tätigkeit ergaben sich aus seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben im Laufe des Verfahrens (vgl. AS 6 und AS 99).

Ferner beruhen die Feststellungen zur Antragstellung auf internationalen Schutz sowie zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten auf dem unbestrittenen Akteninhalt, insbesondere jedoch auf der Niederschrift der Erstbefragung vom XXXX (vgl. AS 40) sowie dem Bescheid des Bundesamtes vom XXXX .

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

2.2.1. Aufgrund seines in der mündlichen Verhandlung erhaltenen persönlichen Eindrucks sowie der im Verwaltungsakt einliegenden Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahme des BF vor dem Bundesamt geht der zur Entscheidung berufene Richter des Bundesverwaltungsgerichtes davon aus, dass dem BF hinsichtlich seines vorgetragenen Fluchtvorbringens keine Glaubwürdigkeit zukommt, zumal seine diesbezüglichen Angaben in mehrerer Hinsicht Widersprüche bzw. Unstimmigkeiten aufweisen.

Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass der BF zum Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses noch minderjährig war und er im Verfahren auch angab, lediglich fünf Jahre die Grundschule besucht zu haben, sodass bei seinen diesbezüglichen Ausführungen sein Alter und sein niedriger Bildungsstand entsprechend zu berücksichtigen waren.

Zunächst ist auffällig, dass der BF sich bereits bei seinen Angaben zum angeblich fluchtauslösenden Vorfall, als Mitglieder der Al Shabaab ihn und seine Familienangehörigen angegriffen hätten, in einige Widersprüche verstrickte. So gab er in der Erstbefragung an, dass er von der Terrorgruppe Al Shabaab getreten und schwer verletzt worden sei. Durch die Fußtritte sei sein Darm „zerplatzt“ (vgl. AS 10). In der Einvernahme vor dem Bundesamt gab er abweichend davon an, dass er geschlagen worden sei und ein Mitglied der Al Shabaab mit einem Bajonett auf ihn eingestochen habe, wovon er eine offene Darmverletzung erlitten habe (vgl. AS 104).

Während er vor dem BFA noch ausführte, dass ein Mitglied der Al Shabaab auf ihn eingestochen habe, woraufhin er umgefallen sei, das Bewusstsein verloren habe und erst wieder im Krankenhaus von XXXX zu sich gekommen sei (AS 104), konnte der BF in der mündlichen Verhandlung Fragen zu den näheren Umständen des Vorfalles und zur Reise von seinem Heimatort bis zum Krankenhaus beantworten (OZ 6, S. 19ff). So gab er darin zunächst an, dass Al Shabaab ihn „fast tot“ zurückgelassen habe. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, warum sie ihn nicht getötet hätten, führte er aus, gehört zu haben, wie ein Mitglied der Al Shabaab gesagt hätte, man solle ihn nicht erschießen, weil er noch so jung sei. Auf die Frage, aus welchem Grund er geschlagen worden sei, antwortete er zuerst ausweichend und gab an: „Dieser Sheikhal-Mann, der unser Nachbar war, hat mir geholfen. Er hat mich mit einem Eselkarren [zu der Haltestelle, wo die Verkehrsmittel gestanden seien] transportiert.“ Erst nach Wiederholung der Frage meinte er: „Weil ich gegen ihre Befehle verstoßen habe.“ Auffallend war insbesondere, dass er in der mündlichen Verhandlung die Frage beantworten konnte, ob es auf dem Weg von seinem Elternhaus zur Haltestelle zu irgendwelchen Vorfällen gekommen sei. („Nein. Es ist zu keinen Vorfällen gekommen. Diese Haltestelle ist im Heimatort XXXX und dort stand bereits ein Verkehrsmittel, welches gerade losfahren wollte.“ OZ 6, S. 21). Auf Nachfrage, wann er das Bewusstsein verloren und wann er es wiedererlangt habe, gab der BF jedoch wieder an, er habe das Bewusstsein verloren, nachdem er mit dem Gewehr geschlagen worden sei, und habe es erst wiedererlangt, als er bereits im Krankenhaus gewesen sei (OZ 6, S. 21), womit nicht verständlich ist, wie der BF die auf seine Art und Weise geschilderten Wahrnehmungen unmittelbar nach dem Vorfall mitbekommen hätte sollen.

Der BF machte auch zu den weiteren Vorfällen mit Mitgliedern der Al Shabaab keine stringenten Angaben und widersprach sich insbesondere in der mündlichen Verhandlung mehrmals. So gab er vor dem Bundesamt an, dass seine erste Zusammenkunft mit Al Shabaab–Angehörigen im XXXX stattgefunden hätte. Die geschilderte Auseinandersetzung, bei der sein Vater getötet, seine Schwester mitgenommen und er verletzt worden seien, habe am XXXX stattgefunden. Auf die Frage, ob er jemals in einem Ausbildungslager der Al Shabaab gewesen sei, gab der BF plötzlich an: „Ja, im Jahr XXXX wurde ein Vortrag gehalten, mir und weiteren Jugendlichen wurde gesagt, dass wir nicht so wie westlich orientierte Personen ausschauen dürfen.“ Auf die Frage, wie er in das Lager gekommen sei, gab er an, er sei auf der Straße angehalten und gemeinsam „mit vielen weiteren Jugendlichen“ dorthin gebracht worden. Nach dem Vortrag hätten sie die Liegenschaft wieder verlassen (AS 104f). In der Beschwerde traten zu diesem Vorfall erste Widersprüche in zeitlicher Hinsicht auf. Darin wurde (erstmals) ausgeführt, dass die Familie anfangs in regelmäßigen Abständen Steuergeld an die Al Shabaab gezahlt habe, um vor dieser sicher zu sein. „Später“ sei der BF selbst zur Mitarbeit bei der Al Shabaab aufgefordert worden und habe an einer Veranstaltung der Al Shaabab teilnehmen müssen, wo er aufgefordert worden sei, seinen Haarschnitt an ihre Vorstellungen anzupassen. Der BF sei den Forderungen jedoch nicht nachgekommen und habe damit seine oppositionelle Gesinnung zum Ausdruck gebracht. „Später“ sei der Vater aufgefordert worden, den BF der Al Shabaab als Rekruten zur Verfügung zu stellen (vgl. AS 331). In der mündlichen Verhandlung fiel zunächst auf, dass der BF auf die Frage, wann die ersten Probleme mit Mitgliedern der Al Shabaab begonnen hätten, vage angab: „Als ich ca. zehn Jahre alt geworden bin. Am XXXX haben sie begonnen, mehr Druck auszuüben. Nein, ich korrigiere mich, das war am XXXX .“ Auf die Frage, ob er auch wisse, welcher Wochentag es gewesen sei, weil er auch das Datum so genau benennen konnte, gab er an: „Mittwoch, glaube ich“ (tatsächlich war der XXXX jedoch ein Montag). Auf Nachfrage, ob es zuvor schon irgendwelche Berührungspunkte mit der Al Shabaab gegeben habe, gab der BF wieder sehr allgemein an: „Nein. Wenn man das 14. Lebensjahr erreicht, dann fangen die Probleme an. Davor gibt es Drohungen.“ Auf konkrete Nachfrage verneinte der BF explizit, vor dem Erreichen des 14. Lebensjahres Probleme gehabt zu haben. Am XXXX hätten sie (Al Shabaab) ihn erstmals angesprochen (OZ 6, S. 13) und hätten ihm gesagt, er solle sich der Gruppe anschließen. Die erneute Nachfrage, ob er vor diesem Vorfall irgendwelche Begegnungen mit der Al Shabaab gehabt hätte, bejahte der BF dann plötzlich und sprach vage davon, dass er „an einem anderen Tag“ vom Feld zurückgekommen sei und sie ihn und andere Jugendliche auf der Straße angehalten und gepredigt hätten. Dieser Vorfall sei ca. einen Monat vor dem ersten Rekrutierungsversuch gewesen (OZ 6, S. 14). Dies steht jedoch in Widerspruch zu seinen Angaben vor dem Bundesamt, wo er davon sprach, dass Al Shabaab ihn und andere Jugendliche bereits im Jahr XXXX in ihr Ausbildungslager geführt hätte und sie dort einen Vortrag angehört hätten. Das Ausbildungslager blieb im Übrigen in der mündlichen Verhandlung von Seiten des BF völlig unerwähnt. Auch das Vorbringen aus der Beschwerde, er habe sich geweigert, der Aufforderung der Al Shabaab, seinen Haarschnitt an ihre Vorstellungen anzupassen, brachte er mit keinem Wort vor. Auf die konkrete Frage, welche Befehle der Al Shabaab er verweigert habe, nannte er bloß die Rekrutierung (OZ 6, S. 10).

Der BF steigerte in der mündlichen Verhandlung nicht glaubhaft sein Fluchtvorbringen, indem er erstmals erwähnte, dass Mitglieder der Al Shabaab bereits am XXXX seinen Vater aufgesucht und um die Hand der Schwester des BF angehalten hätten, während er vor dem Bundesamt von nur einem Vorfall mit der Al Shabaab sprach, bei dem seine Schwester (gleich) mitgenommen worden sei, nachdem er eine Mitarbeit bei der Al Shabaab abgelehnt habe (vgl. AS 104).

Es wird nicht verkannt, dass der BF zum damaligen Zeitpunkt minderjährig war und er nur einen niedrigen Bildungsstand aufweist, sodass an die Detailliertheit und Stimmigkeit seines Vorbringens nur geringere Anforderungen gestellt werden können. Jedoch ist dennoch nicht verständlich, warum der BF wesentliche Umstände seines Fluchtvorbringens derart unstimmig und widersprüchlich dargestellt hat. Angesichts des Umstandes, dass es sich bei dem Rekrutierungsversuch und dem Angriff durch Mitglieder der Al Shabaab um für den BF prägende Ereignisse gehandelt haben muss, wäre zu erwarten gewesen, dass er diesbezüglich präzisere und stimmigere Angaben tätigt, wenn die Vorfälle den Tatsachen entsprochen hätten. Dies lässt daher darauf schließen, dass sich die geschilderte Fluchtgeschichte nicht in der vom BF behaupteten Weise zugetragen hat.

Nicht nachvollziehbar waren schließlich die Angaben des BF zur Frage, warum er nicht bereits vorher umgezogen oder aus Somalia ausgereist sei. So gab er in der mündlichen Verhandlung nicht lebensnahe an, dass sein Vater gemeint hätte, er solle eine Zwangsrekrutierung „vermeiden, solange es geht“ (OZ 6, S.12), und er ihn, wie bereits seine beiden Brüder, wegschicken würde, wenn es zur Zwangsrekrutierung kommen würde (vgl. OZ 6, S. 12). Auf die Frage, ob er mit seinem Vater für den Fall einer Zwangsrekrutierung Vorkehrungen getroffen habe, gab er hingegen an, dass sein Vater es nicht hätte verhindern können, wenn er gewaltsam mitgenommen worden wäre. Auf Vorhalt seiner vorherigen Angaben fügte er ohne den Widerspruch aufzuklären hinzu, dass „man flüchtet, wenn man die Gelegenheit dazu bekommt“ (OZ 6, S. 12). Auf die Frage, wieso er sich nicht wo anders als zuhause versteckt habe, gab er im Hinblick der geschilderten Situation nicht nachvollziehbar an, dass er sehr jung gewesen und nicht auf diese Idee gekommen sei, sich woanders hinzubegeben (OZ, S. 14). Auf weitere Nachfrage gab er an, dass sie ein großes Feld gehabt hätten und zwei Teile dieses Feldes bereits verkauft worden seien, um seinen Brüdern die Flucht zu ermöglichen. Sein Vater habe gemeint, dass er dasselbe auch für ihn machen würde (OZ 6, S 15). Auf die Frage, warum er dann nach dem ersten Rekrutierungsversuch noch so lange – „fast einen Monat, vielleicht 22 Tage“ – in seinem Elternhaus gelebt habe, gab er widersprüchlich zu den vorhergehenden Ausführungen an: „Man musste etwas organisieren. Das war finanziell noch nicht leistbar, mich wegzuschicken“ (OZ 6, S. 16). Umso unverständlicher ist es dann aber, dass der BF sich nicht zwischenzeitig woanders versteckt und sein Vater in dieser Situation noch den Ertrag der Ernte abgewartet haben will („Vater hatte kein Geld und in dieser Zeit wurde gerade geerntet. Er hat sich gedacht, die Ernte zu verkaufen und dann würde es leistbar sein.“ OZ 6, S.16). Nicht nachvollziehbar ist es überdies, weshalb Al Shabaab ihn bei dem Angriff zwar „fast tot“ geschlagen hätte, ihn jedoch nicht – wie seine Schwester – mitgenommen habe. Diesbezüglich wird selbst in der Beschwerde festgehalten, dass die Weigerung des BF zur Mitarbeit an sich wohl genug gewesen wäre, dass die Al Shabaab ihren Willen zwanghaft durchsetzt“ (AS 351). Umso unverständlicher ist es dann, dass die Al Shabaab Mitglieder im gegenständlichen Fall nicht davon gebraucht gemacht haben will. Außerdem gab der BF in der mündlichen Verhandlung selbst an, dass Al Shabaab zuerst Personen auffordert, sich der Gruppe anzuschließen, und man bei weiteren Begegnungen dann gewaltsam verschleppt werde.

Auffallend war auch, dass der BF auf die Frage nach dem Inhalt des letzten Gesprächs mit seinen Familienangehörigen ausweichend antwortete, dass es der letzte Tag vor seiner Ausreise gewesen sei und seine Mutter mit ihm nicht viel reden hätte dürfen (OZ 6, S 6.). Auf die Frage, ob es während seines Aufenthalts in Mogadischu zu irgendwelchen Vorfällen gekommen sei, gab er an: „Nein. Die Mutter hat in dieser Zeit Drohungen bekommen.“ Dass die Al Shabaab seinen Wohnort aufgesucht hätte, als er sich in Mogadischu befunden habe, wie in der Beschwerde behauptet wird (AS 352), führte der BF in der mündlichen Verhandlung hingegen nicht an. Vielmehr gab er auf Nachfrage an, dass Al Shabaab seine Mutter (lediglich) telefonisch bedroht habe (OZ 6, S. 15).

Es haben sich auch keine anderen Hinweise dazu ergeben, dass der BF sonst in den Fokus der Al Shabaab geraten ist bzw. war das diesbezügliche Vorbringen in der Beschwerde nicht glaubhaft. Wenn in der Beschwerde vorgebracht wird, dass das Bundesamt den BF nicht zur Zahlung von Schutz- oder Kooperationsgeld (Zakatgeld) befragt habe (AS 352), ist dem entgegenzuhalten, dass der BF weder vor dem BFA noch in der mündlichen Verhandlung Zahlungen von Zakat erwähnte. In der Beschwerde wurde dazu bloß vage ausgeführt, dass die Familie des BF „anfangs“ in regelmäßigen Abständen Steuergeld an die Al Shabaab gezahlt habe, um vor dieser sicher zu sein (AS 331). Weiters wurde vorgebracht, dass Al Shabaab von dieser „lange“ Zakatgeld bezogen habe (AS 351). Dass die Familie des BF eine Zahlung verweigert hätte, wurde hingegen nicht erwähnt.

In der Beschwerde wurde auch vorgebracht, dass dem BF bereits durch seine Antragstellung auf internationalen Schutz in Österreich eine oppositionelle Gesinnung (zumindest) unterstellt werde. Abgesehen davon, dass nicht nachvollziehbar ist, wie Al Shabaab von seiner Antragstellung in Österreich erfahren sollte, ist auch bei Berücksichtigung der Länderberichte nicht zu erwarten, dass der BF bei einer Rückkehr von Al Shabaab ermordet werden würde. Den Länderberichten zufolge müssen in erster Linie jene Reisenden Angst vor Al Shabaab haben, die Beamte, Politiker oder militärisches Personal sind – zu welchen der BF unbestritten nicht zählt. Alleine die Tatsache, dass jemand in einem westlichen Land gewesen ist, stellt im Zusammenhang mit Straßensperren der Al Shabaab kein Problem dar.

Den Länderberichten ist auch zu entnehmen, dass sich die Stadt Beledweyne unter Kontrolle von Regierungskräften und ATMIS befindet. Die Stadt kann hinsichtlich einer Anwesenheit von (staatlichem) Sicherheitspersonal und etablierter Verwaltung als konsolidiert erachtet werden. Gemäß Regierungsangaben haben die Hawadle in Hiiraan alle Teile ihres Clangebiets von Al Shabaab zurückerobert. Das Gebiet um den Herkunftsort des BF steht unter gemischter bzw. unklarer, nicht jedoch unter Kontrolle der Al Shabaab. Abgesehen von der Unglaubwürdigkeit seines Fluchtvorbringens ist den Länderinformationen zu entnehmen, dass einem Experten zufolge eine einfache Person, die sich erfolgreich der Rekrutierung entzogen hat, nicht dauerhaft und über weite Strecken verfolgt wird.

Der BF vermochte somit sein Fluchtvorbringen in seiner Gesamtheit auch unter Einbeziehung der oben zitierten Länderinformationen und unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände (Minderjährigkeit im Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses, niedriger Bildungsstand) nicht glaubhaft zu machen. Es ist ihm daher nicht gelungen, eine konkret gegen seine Person gerichtete aktuelle Gefährdung durch Al Shabaab in seinem Herkunftsstaat darzulegen. Insoweit in der Beschwerde behauptet wird, dass das Bundesamt in der Einvernahme des BF nicht ausreichend nachgefragt habe, ist dem entgegenzuhalten, dass der BF ausreichend Zeit und Gelegenheit hatte, seine Fluchtgründe vor dem Bundesamt ausführlich darzulegen und das Bundesamt dem BF durch mehrmalige Nachfragen auch die Möglichkeit geboten hat, sein Vorbringen umfassend darzustellen, sodass auch dieses Argument ins Leere geht. Außerdem wurde dem BF in der Verhandlung vor dem BVwG noch einmal die Möglichkeit eingeräumt sein Fluchtvorbringen darzulegen und wurden diesem zu seinen Fluchtvorbringen noch entsprechende Fragen gestellt auf die der BF zur näheren Erläuterung bzw. Abklärung eingehen konnte.

2.2.2. Überdies konnte der BF eine Verfolgungsgefahr wegen seiner Clanzugehörigkeit nicht glaubhaft machen. So gab er vor dem Bundesamt auf die Frage, wie sich das Leben für Sheikhal in XXXX gestaltet habe, an: Wir waren vier Familien vom Sheikhal-Clan. Von der Clanzugehörigkeit ist es möglich, ein unbeeinflusstes Leben zu führen“. Er gab auch an, dass sein Clan als religiöser Clan bekannt sei. Angehörige seines Clans seien oft als Händler und als Lehrer in Koranschulen tätig. Er gab auch an, dass er gehört habe, sein Clan gehöre zum Hawiye-Clan. In seinem Heimatort sei der Hawiye-Hawadle-Clan dominant (vgl. AS 101). Somit brachte der BF vor dem Bundesamt keine Diskriminierung aufgrund seiner Clanzugehörigkeit vor. Vielmehr verneinte er die konkrete Frage, ob er in Somalia jemals wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit verfolgt worden sei (AS 103). In der mündlichen Verhandlung steigerte der BF aber sein Fluchtvorbringen, indem er erstmals – befragt zu seinen Rückkehrbefürchtungen – vorbrachte, dass er vor den Clanangehörigen der Hawadle Angst gehabt hätte. Dazu gab er vage an, dass der Mann, der sie „meistens“ überfallen habe, diesem Clan angehört hätte. Auf Nachfrage, wann die Überfälle durch diese Clanangehörigen begonnen hätten, gab er wieder vage an: „Schon seit langer Zeit, bevor ich zur Welt gekommen bin. Mutter hat uns das erzählt.“ Auch auf weitere Nachfragen blieben die Angaben des BF allgemein (OZ 6, S. 8f: „Das ist immer wieder passiert. Einmal haben sie mich gesehen, als ich Ziegen vom Feld geholt habe. Das ist immer wieder passiert, als sie mich gesehen haben und ich etwas mit den Händen getragen habe“; „Immer wieder“; „Das war in der Zeit, wo man geerntet hat“; „Das war im XXXX “; „Jährlich im XXXX “; „Viele Jahre. Als ich begonnen habe, etwas zu begreifen, als ich sieben oder acht Jahre war, bis zu meiner Ausreise war es so. Es gab einige Unterbrechungen, in denen es nicht geregnet hat“). Umso weniger verständlich ist es dann, dass er die Frage, ob er Vorkehrungen für den Fall getroffen habe, dass er wieder überfallen werden würden, verneinte. („Eigentlich nicht. Aber manchmal bin ich durch die Büsche gegangen, damit ich nicht bemerkt wurde“ OZ 6, S.9). Erst auf mehrere Nachfragen, warum die Personen es auf ihn abgesehen hätten, gab er an: „Weil sie einem mächtigeren Clan angehören. Alle vier Sheikhal-Familien, die dort gelebt haben, waren Landwirte“. Dies kann jedoch lediglich als Schutzbehauptung gewertet werden, als es nicht nachvollziehbar ist, dass der BF einerseits vor dem Bundesamt noch angab, dass sein Clan zum Clan der Hawiye gehöre und in seinem Heimatort der Hawiye-Hawadle-Clan dominant sei, und andererseits in der mündlichen Verhandlung (erstmals) eine Diskriminierung bzw. Überfälle durch ebendiesen Clan vorbringt.

Abgesehen von der äußerst oberflächlichen Schilderung erscheint dessen Fluchtvorbringen auch unter Berücksichtigung der Länderinformationen (Kapitel „Angehörige anderer Clans in der Position als Minderheit, Clanlose“) nicht plausibel. So geht aus diesen hervor, dass der Clan der Sheikhal traditionell respektiert und von den Clans, bei welchem sie leben, geschützt wird.

Hinweise, dass dem BF aus sonstigen Gründen im Fall der Rückkehr nach Somalia aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen die reale Gefahr einer Verfolgung droht, sind im Verfahren im Übrigen nicht hervorgekommen.

2.2.3. Abschließend wird der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass allfälligen dem Beschwerdeführer drohenden, nicht asylrelevanten Gefährdungen durch die bereits von der belangten Behörde erfolgte Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ausreichend Rechnung getragen wurde.

2.3. Zu den Feststellungen zum Herkunftsstaat

Die verfahrenswesentlichen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zur Situation in Somalia stammen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation „Somalia“, Version 7, Datum der Veröffentlichung: 16.01.2025, beruhen auf den dort angeführten Quellen und wurden mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.01.2025 dem BF im Wege seiner Vertretung zur Kenntnis gebracht. Die Länderfeststellungen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen und stellen angesichts der bisherigen Ausführungen im konkreten Fall eine hinreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens des BF dar.

Insofern in der Beschwerde moniert wird, dass die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und unrichtig seien, da sie zwar allgemeine Aussagen zu Somalia beinhalten, sich jedoch nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des BF befassen würden und daher als Begründung zur Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz unzureichend seien (vgl. AS 333), ist hierzu festzuhalten, dass auch die Berücksichtigung der diesem Erkenntnis zugrunde gelegten Kapitel „Rechtsschutz, Justizwesen“, „Wehrdienst und Rekrutierungen“, „Minderheiten und Clans“ sowie „Subjekte gezielter Attentate durch al Shabaab und anderer terroristischer Gruppen“ zu keiner abweichenden Beurteilung des Fluchtvorbringens des BF führen kann, zumal dieses bereits aufgrund der aufgetretenen Widersprüche als unglaubhaft beurteilt wurde.

Mit Schreiben vom 17.01.2025 wurde dem BF und seiner Vertretung zudem die Möglichkeit eingeräumt, zu den aktuellen Länderinformationen Stellung zu beziehen. Der BF bzw. seine Rechtsvertretung sind diesen Berichten in der Stellungnahme vom XXXX jedoch nicht substantiiert entgegengetreten. Zwar wurde darin hingewiesen, dass die Quellen, nach denen Al Shabaab nur in den von ihr kontrollierten Gebieten zwangsrekrutiere, nicht nachverfolgbar seien und widersprüchliche Angaben enthalten würden. Wie bereits ausgeführt, wurde das Fluchtvorbringen aber als unglaubhaft beurteilt und führt auch die Stellungnahme zu keiner abweichenden Beurteilung.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

„Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

[…]“

3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.

Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.1.3. Im vorliegenden Fall ist es dem BF nicht gelungen, objektiv begründete Furcht vor aktueller Verfolgung in gewisser Intensität darzutun. Wie bereits in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.2. ausgeführt, hat der BF nicht glaubhaft gemacht, dass er sich geweigert hätte, einer Aufforderung der Al Shabaab zur Mitarbeit zu folgen, und Al Shabaab daraufhin seinen Vater getötet, seine Schwester mitgenommen, und ihn geschlagen und verletzt hätte. Auch ist nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der BF im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat der Gefahr einer Zwangsrekrutierung oder sonstigen Verfolgung durch Al Shabaab ausgesetzt wäre.

3.1.4. Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende „Gruppenverfolgung“, hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; mwN).

In Ermangelung von den BF individuell drohenden Verfolgungshandlungen bleibt im Lichte dieser Rechtsprechung des VwGH zu prüfen, ob der BF im Herkunftsland aufgrund generalisierender Merkmale unabhängig von individuellen Aspekten einer gezielten Verfolgung ausgesetzt wäre.

Muslimen (sunnitischer Islam) droht als Angehörigen der größten Glaubensgemeinschaft und traditionellen Hauptreligionen Somalias keine Verfolgung. Mit über 99% gehört die somalische Bevölkerung fast ausschließlich dem sunnitischen Islam, so wie auch der BF, an.

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413; VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074). Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. VwGH 16.12.2021, Ra 2021/18/0387, unter Verweis auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie).

Dem BF ist es, wie in der Beweiswürdigung unter Punkt II.2.2.2. ausgeführt, nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass er von Angehörigen des Clans der Hawadle überfallen worden sei und aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Clan der Sheikhal in seinem Herkunftsstaat bedroht und verfolgt werde.

Hinweise, dass dem BF aus sonstigen Gründen im Fall der Rückkehr nach Somalia aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen die reale Gefahr einer Verfolgung droht, sind im Verfahren im Übrigen nicht hervorgekommen.

3.1.5. Insgesamt war daher das Vorbringen des BF nicht geeignet, eine mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung aus asylrelevanten Gründen darzutun, weshalb es dem BF insgesamt nicht gelungen ist, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, welche ihre Ursache in einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Folglich war die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen der Höchstgerichte.