JudikaturBVwG

G314 2303391-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
05. Dezember 2024

Spruch

G314 2303391-1/3Z

TEILERKENNTNIS

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des polnischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch die BBU GmbH, gegen Spruchpunkt III. des Bescheids des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX 2024, Zl. XXXX , betreffend die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung, zu Recht:

A)Der Beschwerde gegen die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung wird Folge gegeben und Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids ersatzlos behoben. Gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG wird der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

B)Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang und Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (BF) kam am XXXX in XXXX (Polen) zur Welt. Er ist Staatsangehöriger von Polen. Noch als Kleinkind übersiedelte er mit seiner Mutter nach Deutschland, wo er die Grundschule besuchte. Später brach er die Schule ab, konsumierte Drogen und beging kleinere Diebstähle, sodass Sozialstunden angeordnet wurden. Er ist in Deutschland jedoch nach wie vor strafgerichtlich unbescholten.

In der Folge kam es zu einem Zerwürfnis zwischen dem BF einerseits und seiner Mutter, die damals noch mit der alleinigen Obsorge für ihn betraut war, sowie seinem Stiefvater andererseits, mit denen er in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt hatte, sodass sie ihn letztlich im XXXX 2023 der Wohnung verwiesen und das Jugendamt einschreiten musste.

Der BF übersiedelte daraufhin im XXXX 2023 nach Österreich, wo er in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem Vater, einem polnischen Staatsangehörigen, und dessen Ehefrau, die beide in XXXX erwerbstätig sind, zusammenlebte. Im XXXX 2023 übertrug das Amtsgericht XXXX der Mutter und dem Vater des BF gemeinsam die Obsorge; die Mutter bevollmächtigte den Vater, diese in bestimmten Bereichen alleinverantwortlich auszuüben. Am XXXX 2023 stellte die Niederlassungsbehörde in Österreich dem BF eine Anmeldebescheinigung als Familienangehöriger aus.

Der BF ging im Bundesgebiet zunächst tageweise Aushilfsarbeiten nach, die nicht zur Sozialversicherung gemeldet waren. Ab XXXX 2023 besuchte er einen vom Arbeitsmarktservice (AMS) finanzierten Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss und bezog (mit Unterbrechungen) Arbeitslosengeld; mittlerweile hat er zwei Pflichtfächer (Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft, Berufsorientierung) absolviert.

Am XXXX 2024 beging der BF in XXXX gemeinsam mit einem Mittäter einen Raubüberfall durch Drohung mit gegenwärtiger Gewalt für Leib oder Leben unter Verwendung einer Waffe, indem sie ihre Gesichter mit Sturmhauben bedeckten, auf ihr Opfer zugingen, eine Schreckschusspistole auf ihn richteten und „Money, money“ riefen. Es blieb beim Versuch; der BF und sein Mittäter wurden festgenommen und in der Folge in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungshaft angehalten. Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde der BF deshalb wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach § 15, 142 Abs 1, 143 Abs 1 zweiter Fall StGB, als Jugendstraftat für schuldig erkannt und (ausgehend von einem Strafrahmen von bis zu 7 ½ Jahren Freiheitsstrafe gemäß § 143 Abs 1 StGB iVm § 5 Z 4 JGG) zu einer 15-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die für eine dreijährige Probezeit bedingt nachgesehen wurde. Für die Dauer der Probezeit wurde die Bewährungshilfe angeordnet und dem BF eine Therapieweisung erteilt. Bei der Strafbemessung wurden der bisher ordentliche Lebenswandel, der Umstand, dass es beim Versuch geblieben war, und sehr eingeschränkt auch ein Geständnis als mildernd gewertet. Besondere Erschwerungsgründe lagen nicht vor. Der BF wurde noch am Urteilstag aus der Haft entlassen; die Vorhaft von XXXX 2024 bis XXXX 2024 wurde auf die Strafe angerechnet.

Der BF nahm nach der Verurteilung weiter am Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss teil. Er wohnte wieder in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem Vater und seiner Stiefmutter, arbeitete gut mit seiner Bewährungshelferin zusammen und kam der Therapieweisung durch den Besuch eines Anti-Gewalt-Trainings bei der Männerberatung Wien nach.

Aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den BF ein. Am XXXX 2024 wurde er dazu vernommen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das BFA gegen den BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein mit fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.), erteilte ihm gemäß § 70 Abs 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt III.). Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung wurde damit begründet, dass die sofortige Ausreise des BF notwendig sei, um weitere Straftaten „im Bereich des schweren Betrugs und der Urkundenfälschung“ zu verhindern.

Nach Zustellung dieses Bescheids reiste der BF am XXXX 2024 aus Österreich nach Deutschland auf. Seither hält er sich in der Nähe von XXXX auf, wo er ein Zimmer in einem Boardinghouse bewohnt und seit XXXX 2024 einer Erwerbstätigkeit als Hilfsarbeiter nachgeht. Er hat vor, sobald wie möglich zu seinem Vater und seiner Stiefmutter nach XXXX zurückzukehren, um den Pflichtschulabschluss zu finalisieren.

Mit seiner Beschwerde gegen den Bescheid vom XXXX 2024 strebt der BF (neben der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der Einvernahme seines Vaters und seiner Stiefmutter als Zeugen) primär dessen ersatzlose Behebung an. Hilfsweise stellt er Anträge auf Reduktion der Dauer des Aufenthaltsverbots sowie auf Aufhebung und Zurückverweisung. Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung sei rechtswidrig, weil das BFA die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit nicht nachvollziehbar dargelegt habe. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, weil mit der Abschiebung des BF die reale Gefahr einer Verletzung von Art 8 EMRK verbunden sei. Es sei für ihn essentiell, während des Beschwerdeverfahrens nach Österreich zurückzukehren und hier weiterhin mit seinem Vater und seiner Stiefmutter zusammenzuwohnen.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens mit dem Antrag vor, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und der für die Entscheidung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung maßgebliche Sachverhalt ergeben sich ohne entscheidungsrelevante Widersprüche aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten sowie des Gerichtsakts des BVwG, insbesondere aus dem Strafurteil, Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und im Strafregister, den Versicherungsdaten und den vom BF vorgelegten Unterlagen.

Name, Geburtsdatum, Geburtsort und Staatsangehörigkeit des BF gehen aus seinem Reisepass, dessen Datenblatt dem BVwG als Kopie vorgelegt wurde, hervor. Sein Aufenthalt in Deutschland wird anhand seiner Angaben vor dem BFA festgestellt. Die strafgerichtliche Unbescholtenheit in Deutschland geht aus dem ECRIS-Auszug hervor.

Die Ereignisse, die zur Übersiedelung des BF zu seinem Vater nach Österreich führten, sowie die folgende Neuregelung der Obsorge können aus den vorgelegten Beschlüssen des Amtsgerichts XXXX nachvollzogen werden. Der BF schilderte – aufgrund übereinstimmender Wohnsitzmeldungen glaubhaft – den gemeinsamen Haushalt mit seinem Vater und seiner Stiefmutter in Wien. Die Anmeldebescheinigung ist auch im IZR dokumentiert.

Die aushilfsweise ausgeübte Erwerbstätigkeit des BF ergibt sich aus seiner Aussage vor dem BFA in Zusammenschau mit den vorgelegten Einkommensnachweisen. Den Versicherungsdaten kann diese Beschäftigung nicht entnommen werden, sodass davon auszugehen ist, dass sie nicht zur österreichischen Sozialversicherung gemeldet war. Den vom BF vorgelegten Urkunden ist zu entnehmen, dass er einen Kurs zur Vorbereitung auf den Pflichtschulabschluss besucht und schon zwei Pflichtfächer absolviert hat. Der (zeitweilige) Bezug von Arbeitslosengeld geht aus den Versicherungsdaten hervor.

Die vom BF begangene Straftat, seine Verurteilung und die Strafbemessungsgründe gehen aus dem Strafurteil und dem Strafregister hervor. Die Anhaltung in Untersuchungshaft ergibt sich aus der Wohnsitzmeldung in der Justizanstalt laut ZMR und der Vorhaftanrechnung laut Strafurteil. Sein Verhalten nach der Enthaftung ergibt sich aus den mit der Beschwerde vorgelegten Unterlagen, insbesondere aus dem Bericht der Bewährungshelferin.

Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG kann gegen den BF als EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen ein Aufenthaltsverbot aberkannt werden, wenn die sofortige Ausreise oder die sofortige Durchsetzbarkeit im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist. Gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG hat das BVwG der Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung aberkannt wurde, diese binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit stützt, genau zu bezeichnen.

Die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung bedarf angesichts der weitreichenden damit verbundenen Konsequenzen einer entsprechend sorgfältigen, einzelfallbezogenen Begründung. Sie darf nicht ausschließlich darauf gestützt werden, dass die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots erfüllt sind. Das BFA muss vielmehr nachvollziehbar darlegen, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort - ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens - zu erfolgen hat (vgl. VwGH 27.08.2020, Ra 2020/21/0172).

Eine solche Begründung lässt sich dem angefochtenen Bescheid nicht entnehmen. Der BF hat im Bundesgebiet zwar eine schwere Straftat begangen. Der im angefochtenen Bescheid im Zusammenhang mit der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung geäußerte Vorwurf von schwerem Betrug und Urkundenfälschung kann jedoch aus den Akten nicht nachvollzogen werden. Das strafbare Verhalten des BF erschöpfte sich in einem einzigen, isolierten Vorfall, den er als Jugendlicher, mehrere Monate vor der Erlassung des angefochtenen Bescheids, begangen hat. Ihm fallen weder mehrere strafbare Handlungen noch Tatwiederholungen noch ein längerer Tatzeitraum zur Last. Es musste zwar eine empfindliche Freiheitsstrafe verhängt werden, die jedoch zur Gänze bedingt nachgesehen werden konnte. Der BF führte nach seiner Enthaftung ein geordnetes Leben in einem gemeinsamen Haushalt mit seinem Vater und seiner Stiefmutter, setzte die zuvor begonnene Ausbildung fort und kam den Vorgaben des Strafgerichts (Bewährungshilfe, Therapie) nach. Es ist daher davon auszugehen, dass die in Untersuchungshaft verbrachte Zeit ausreicht, um ihn (zumindest während der Dauer des Beschwerdeverfahrens) von weiteren Straftaten abzuhalten. Es besteht daher kein Grund, seinen Aufenthalt sofort und unabhängig vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens zu beenden. Außerdem ist mit der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung aufgrund der damit einhergehenden Trennung von seinen in Österreich lebenden Angehörigen die Gefahr einer Verletzung von Art 8 EMRK verbunden.

Obwohl der BF mittlerweile in Deutschland wieder Fuß gefasst hat und die dort ausgeübte Erwerbstätigkeit eine vorsichtig positiv zu bewertende Entwicklung in seinem Leben darstellt, sind in der gebotenen Gesamtbetrachtung die Voraussetzungen für die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung nicht erfüllt. Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheids ist daher ersatzlos zu beheben und der Beschwerde gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 21 Abs 6a BFA-VG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil bei dieser Entscheidung keine Rechtsfragen von über den Einzelfall hinausgehender grundsätzlicher Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen waren.