JudikaturAUSL EGMR

Bsw63543/19 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
Kindschaftsrecht
03. Oktober 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV (Ausschuss), Beschwerdesache Yazdi gg Österreich, Urteil vom 3.10.2023, Bsw. 63543/19.

Spruch

Art 6, 8 EMRK - Zur Bedeutung der kontinuierlichen Entwicklung des Kindes bei Änderung der Obsorge.

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art 6 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Beschwerde betrifft die Obsorgeverfahren in Bezug auf den Sohn des Bf, J. Nach ihrer Trennung vereinbarten die Eltern einvernehmlich, dass die Mutter die hauptsächliche Betreuung von J. übernehmen werde und dem Bf regelmäßige Kontaktrechte zustanden. Sechs Monate nach der Obsorgevereinbarung beantragte der Bf die alleinige Obsorge für J. und die hauptsächliche Betreuung in seinem Haushalt. Begründend führte er an, die Mutter gefährde das Kindeswohl.

Auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens traf das BG Graz-West am 4.7.2018 die Entscheidung, die hauptsächliche Betreuung des J. vorläufig in den Haushalt des Bf zu verlegen. Das LG Graz bestätigte diese Entscheidung.

Am 31.10.2018 gab der OGH dem außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter statt und lehnte den Antrag des Bf auf eine vorläufige Entscheidung aufgrund fehlender Dringlichkeit ab.

Am 21.11.2018 entschied das BG nach weiteren Sachverständigengutachten und mündlichen Verhandlungen im Hauptverfahren, die hauptsächliche Betreuung von J. in den Haushalt des Bf zu verlegen und erklärte die Entscheidung für vorläufig verbindlich und vollstreckbar. Begründend gab das BG an, dass zwar eine gute Beziehung zu beide Elternteilen vorläge und beide die nötige Obsorgefähigkeit und pädagogische Kompetenz besäßen, jedoch die Mutter die Beziehung zwischen J. und dem Bf nicht akzeptieren könnte und daher ihre Bindungstoleranz unzureichend wäre. Weiters wurde erklärt, die Mutter habe Probleme, Grenzen zu setzen und Strukturen zu schaffen, was zu Verhaltensauffälligkeiten seitens J. geführt habe. Auch würde der Übergang in den Haushalt des Bf J. nicht gefährden oder strapazieren. Bezugnehmend auf § 181 ABGB kam das BG zu dem Entschluss, dass es für das Wohlergehen des J. besser wäre, wenn der Bf anstelle der Mutter die hauptsächliche Betreuung übernimmt. Die Mutter focht diese Entscheidung an.

Das LG bestätigte die Entscheidung des BG im Hauptverfahren. In der Begründung stütze es sich dabei jedoch auf § 180 Abs 3 ABGB anstatt auf § 181 ABGB, da § 180 Abs 3 ABGB für die Änderung der Obsorgevereinbarung lediglich eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse voraussetzt, während § 181 ABGB eine Kindeswohlgefährdung erfordert. Das LG merkte an, dass die vom BG festgestellten Schwierigkeiten der Mutter in einer negativen Prognose für die Entwicklung von J. resultieren würde und daher eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse vorläge.

Am 29.9.2018 gab der OGH dem Rechtsmittel der Mutter aus Gründen der Rechtssicherheit gem § 62 AußStrG statt und hob die Entscheidungen des BG und LG auf. Er stellte fest, dass das Verhalten der Mutter keine negative Auswirkung auf J. habe und sich seine Verhaltensauffälligkeiten seit März 2018 verbesserten. Es liege keine Kindeswohlgefährdung gemäß § 181 ABGB vor und ein reiner Günstigkeitsvergleich der Erziehungsmöglichkeiten würde nicht ausreichen, um eine Änderung der hauptsächlichen Betreuung nach § 180 Abs 3 ABGB zu rechtfertigen. Weiters legte der OGH Wert auf eine kontinuierliche Entwicklung und merkte an, dass der Antrag des Bf auf Änderung der hauptsächlichen Betreuung kurz nach der einvernehmlichen Obsorgevereinbarung zwischen den Eltern diese beeinträchtigt habe.

Am 9.7.2019 beantragte der Bf erneut die hauptsächliche Betreuung von J., kurz darauf schlossen die Eltern eine einvernehmliche Vereinbarung darüber und J. zog erneut beim Bf ein.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Gestützt auf Art 6 (Recht auf ein faires Verfahren) und Art 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) behauptet der Bf, dass der OGH die Entscheidung über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter nicht ausreichend begründet habe, dass die Entscheidung unvorhersehbar gewesen sei, dass er nicht auf Grundlage einer mündlichen Verhandlung entschieden habe und dass er das Kindeswohl nicht berücksichtigt habe.

Zur Streichung der Beschwerde

(7) Die Regierung brachte vor, dass die Situation, die der Beschwerde zugrunde liegt, nicht mehr vorliegt [...]. Daher sei gemäß Art 37 Abs 1 lit b EMRK der Fall aus der Liste der anhängigen Fälle zu streichen. [...]

(8) [...] Die Umstände, die der Beschwerde zugrunde liegen, wurden nicht dadurch gelöst, dass J. im September 2022 wieder zum Bf zurückzog, da die Auswirkungen der behaupteten Verletzung zwischen Juni 2019 und September 2022 nicht behoben wurden. Daher lehnt der GH den Antrag der Regierung auf Streichung der Beschwerde ab. [...]

Zur behaupteten Verletzung von Art 8 EMRK

(9) Die relevanten Grundsätze hinsichtlich Streitfälle zu Obsorge und Wohnort der gemeinsamen Kinder wurden im Fall Petrov und X./RU zusammengefasst. Es ist unbestritten, dass das Urteil des OGH vom 29.5.2019 einen Eingriff in das Familienleben des Bf begründete. Der GH muss prüfen, ob dieser Eingriff den Voraussetzungen des Art 8 Abs 2 EMRK entsprach.

(10) Bei der Beurteilung, ob der Eingriff [...] eine rechtliche Grundlage hatte, ist der GH darauf beschränkt, festzustellen, ob die Interpretation mit der Konvention vereinbar ist. Die Entscheidung des OGH, dem außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter stattzugeben, basierte auf § 62 AußStrG. Seine Interpretation von §§ 180 und 181 ABGB war im Einklang mit seiner früheren Rsp und nicht offenkundig unsachlich. Sein Vorgehen beruhte daher auf einer gesetzlichen Grundlage.

(11) Der GH erkennt, dass der Eingriff das legitime Ziel des Schutzes von Kindern vor unablässigen Obsorgeverfahren und des Wahrens einer stabilen und beständigen Obsorgesituation verfolgte. Es bleibt zu klären, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

(12) Bei der Schaffung eines fairen Ausgleichs zwischen den Interessen des Kindes und jenen der Eltern müssen die innerstaatlichen Behörden dem Wohlergehen des Kindes einen besonderen Stellenwert einräumen. Der GH kann nicht prüfen, ob die Begründung der innerstaatlichen Gerichte für die Zwecke des Art 8 Abs 2 EMRK »ausreichend« war, ohne gleichzeitig zu beurteilen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes fair war.

(13) Der Bf hatte Rechtsbeistand und die Möglichkeit, seine Argumente schriftlich und mündlich vorzubringen. Der Sachverhalt, der durch das BG festgestellt wurde, basierte auf detaillierten Sachverständigengutachten, welche durch den Bf nicht angefochten wurden. Der Sachverständige wurde während der ausführlichen mündlichen Verhandlungen von beiden Parteien befragt. Obwohl der Sachverständige es als günstiger empfand, wenn J. beim Bf wohnen würde, erklärte der OGH – beruhend auf dem festgestellten Sachverhalt – dass es keinen Grund zur Änderung der hauptsächlichen Betreuung gäbe, da ein bloßer Günstigkeitsvergleich eine Änderung, die dem Ziel der kontinuierlichen Entwicklung des Kindes widersprechen würde, nicht ausreichend begründen könne. Der OGH hielt es für nötig, im Namen der Rechtssicherheit dem außerordentlichen Rechtsmittel der Mutter stattzugeben und die Voraussetzungen der §§ 180 und 181 ABGB zu präzisieren. Die relevanten rechtlichen Fragen seien bereits in den Rechtsmittelschriften der Mutter und in den Rechtsmittelantworten des Bf behandelt worden und seien daher für den Bf vorhersehbar gewesen. Bezugnehmend auf vorherige Rsp (Anm: OGH, 18.12.2014, 3 Ob 212/14v.), in welcher der OGH die Bedeutung von Beständigkeit in Kindeswohlfällen betont hatte, kam er zu dem Ergebnis, der Antrag des Bf sechs Monate nach gütlicher Einigung der Eltern habe das Ziel einer kontinuierlichen Erziehung von J. beeinträchtigt. Der OGH merkte an, dass – entgegen dem Argument des Bf – er sich nicht auf die Tatsache stützen könne, dass J. nach der einstweiligen Verfügung des BG bereits mehrere Monate bei ihm wohnte, da diese Entscheidung nicht gerechtfertigt war. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann der GH dem Bf nicht zustimmen, dass die Entscheidung des OGH unvorhersehbar oder der Entscheidungsfindungsprozess anderweitig ungerecht war. Der GH merkt an, dass eine rein rechtliche Frage bezüglich des Schutzes des Kindeswohls vor dem OGH thematisiert wurde, welche dieser auf Grundlage des von den Gerichten niederer Instanz festgestellten Sachverhalts behandelte, ohne das Sachverständigengutachten infrage zu stellen. Es gab daher keinen Bedarf für eine weitere mündliche Verhandlung oder ein weiteres Sachverständigengutachten. Folglich stellt der GH fest, dass die verfahrensrechtlichen Anforderungen des Art 8 EMRK erfüllt wurden.

(14) Im Hinblick auf die Beurteilung, ob der OGH einen fairen Ausgleich zwischen den vorliegenden konkurrierenden Interessen geschaffen hat, merkt der GH an, dass der Umfang des Beschlusses darauf beschränkt war, wo J. wohnen würde. Beide Elternteile hatten während der Verfahren regelmäßigen Kontakt mit J. und übten aktiv ihre Sorgerechte aus. Innerhalb seines breiten Ermessensspielraums hat der OGH die Mängel im Verhalten der Mutter, die auf die Therapiesitzungen folgende positive Entwicklung ab März 2018 und die Beziehung von J. zu beiden seiner Eltern, welche beide im Prinzip zu seiner Pflege fähig waren, beurteilt. Da der OGH Umstände, die nach der Entscheidung auftreten, nicht berücksichtigen darf, kam er zu dem Ergebnis, dass sich die Situation nicht so wesentlich geändert habe, um eine Änderung der Obsorgevereinbarung der Eltern zu rechtfertigen.

(15) Der GH übersieht nicht, dass der zweimalige Umzug zwischen seinen Eltern eine beträchtliche Belastung für J. gewesen sein musste. Jedoch haben die Parteien nicht bestritten, dass, wie durch das BG festgestellt, die Änderung des Ortes der hauptsächlichen Betreuung keinen Risikofaktor für J. darstellte.

(16) Insgesamt erkennt der GH, dass die Begründung des OGH relevant und innerhalb seines Ermessensspielraums ausreichend war. Folglich ist die Beschwerde des Bf gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK offensichtlich unbegründet und daher unzulässig (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 6 EMRK

(17) Bei der Beschwerde über die Ungerechtigkeit der Verfahren vor dem OGH stütze sich der Bf auch auf Art 6 Abs 1 EMRK. Der Unterschied zwischen den Zwecken der Schutzbereiche jeweils nach Art 6 Abs 1 und Art 8 EMRK könnte eine Prüfung des selben Sachverhalts unter beiden Artikeln rechtfertigen.

(18) Der GH sieht keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Verfahren vor dem OGH die den Kern von Art 6 Abs 1 EMRK bildenden Anforderungen an die Fairness verletzen. Der OGH begründete seine Entscheidung, dem außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter stattzugeben. Seine Entscheidung basierte auf dem festgestellten Sachverhalt und war nicht unvorhersehbar. Er befasste sich nur mit rechtlichen Fragen, die keiner mündlichen Verhandlung bedürfen. Insgesamt gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Verfahren ungerecht oder willkürlich waren. Die Beschwerde nach Art 6 EMRK ist gemäß Art 35 Abs 3 lit a und Abs 4 EMRK offensichtlich unbegründet und daher unzulässig (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pisano/IT, 24.10.2002, 36732/97 (GK)

Sahin/DE, 8.7.2003, 30943/96 (GK) = NL 2003, 196 = EuGRZ 2004, 707

Görgülü/DE, 26.2.2004, 74969/01 = NL 2004, 32 = EuGRZ 2004, 700

Neulinger und Shuruk/CH, 6.7.2010, 41615/07 (GK) = NLMR 2010, 211

Penchevi/BG, 10.2.2015, 77818/12

Petrov und X./RU, 23.10.2018, 23608/16

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.10.2023, Bsw. 63543/19, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 564) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.