JudikaturVwGH

Ra 2024/21/0172 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
27. Februar 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Chvosta und Mag. Schartner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 4. April 2024 mündlich verkündete und mit 29. Juli 2024 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W171 2289342 1/19E, betreffend Rechtswidrigerklärung von Festnahme und Schubhaft (mitbeteiligte Partei: D O, derzeit unbekannten Aufenthalts),

I. zu Recht erkannt:

Spruch

Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses wird, soweit damit die Festnahme der Mitbeteiligten am 19. März 2024 für rechtswidrig erklärt wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

1 Die 1982 geborene Mitbeteiligte, eine tunesische Staatsangehörige, hatte ebenso wie ihr im Revisionsverfahren zu Ra 2024/21/0167 mitbeteiligter Ehemann am 31. Mai 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Dieser Antrag wurde (ebenso wie jener ihres Ehemannes) im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 1. März 2024 abgewiesen, wobei unter einem eine Rückkehrentscheidung erlassen und ausgesprochen wurde, dass die Frist für die freiwillige Ausreise vierzehn Tage betrage. Den Entscheidungsgründen zufolge sei die Mitbeteiligte vor der Ausreise aus Tunesien an Brustkrebs erkrankt, habe eine Chemotherapie und weitere Maßnahmen durchlaufen, wobei die Befunde aktuell unauffällig seien; außerdem leide sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

2 Am 19. März 2024 wurde die Mitbeteiligte (ebenso wie ihr Ehemann) in Vollziehung eines auf § 34 Abs. 3 Z 3 BFA VG gegründeten Festnahmeauftrags des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) von Sicherheitsorganen gemäß § 40 Abs. 1 Z 1 BFA VG festgenommen. Im Zuge der Festnahme kollabierte die Mitbeteiligte und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Gemäß dem Ambulanzbefund wurde unter anderem ein Kollaps infolge einer emotionalen Exazerbation diagnostiziert, eine weiterführende Anamnese jedoch nicht durchgeführt.

3 Im Anschluss an ihre noch am selben Tag erfolgte Entlassung aus dem Krankenhaus wurde die Mitbeteiligte in ein Polizeianhaltezentrum eingeliefert. Dem BFA vorgelegte Befunde der Einrichtung „ZEBRA“ vom Jänner und Februar 2024 enthalten hinsichtlich der Mitbeteiligten (u.a.) jeweils die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Nach einer amtsärztlichen Untersuchung wurde im Anhalteprotokoll vom 19. März 2024 neben der Krebserkrankung eine psychische Erkrankung in der Form festgehalten, dass die Mitbeteiligte depressiv sei. Weiters wurde die notwendige Medikation vermerkt und die Haftfähigkeit der Mitbeteiligten festgestellt. Am 20. März 2024 vereitelten die Mitbeteiligte und ihr Ehemann die für den Folgetag geplante Abschiebung, indem sie ihre tunesischen Reisepässe zerrissen.

4 Mit dem hierauf erlassenen, umgehend in Vollzug gesetzten Mandatsbescheid vom 20. März 2024 ordnete das BFA über die Mitbeteiligte (ebenso wie im Fall ihres Ehemannes) gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung an.

5 Gegen diesen Bescheid und die Anhaltung in Schubhaft richtete sich eine von der Mitbeteiligten (und ihrem Ehemann) mit Schriftsatz vom 29. März 2024 erhobene Beschwerde. Mit dem nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 4. April 2024 verkündeten und mit 29. Juli 2024 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis gab das BVwG der Beschwerde der Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA VG statt und hob den Schubhaftbescheid ersatzlos auf. „Gleichzeitig“ erklärte es die Festnahme am 19. März 2024 und die Anhaltung in Schubhaft seit 20. März 2024 für rechtswidrig (Spruchpunkt A.I.). Ferner stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen (Spruchpunkt A.II.), und wies gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG den Antrag des BFA auf Kostenersatz als unbegründet ab (Spruchpunkt A.III.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).

6 Begründend stellte das BVwG unter anderem fest, dass nach der Brustkrebserkrankung bei der Mitbeteiligten in Österreich weitere derzeit zu beobachtende Knoten in der Brust entdeckt worden seien. Sie leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung mit gemischter Angst und depressiver Reaktion. Rechtlich ging das BVwG wie bereits das BFA vom Vorliegen von Fluchtgefahr nach den Kriterien des § 76 Abs. 3 Z 1, 3 und 9 FPG und ferner von der Haftfähigkeit der Mitbeteiligten aus. Unter Berufung auch auf den in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck von der Mitbeteiligten kam das BVwG in einer „Gesamtsicht“ zum Ergebnis, dass die Mitbeteiligte aufgrund ihres Gesundheitszustands durch die Haftsituation über das übliche Maß hinaus psychisch belastet und daher ungeachtet ihrer Haftfähigkeit eine Fortsetzung der Schubhaft nicht verhältnismäßig sei. Allerdings hätten auch schon bei der Erlassung des Schubhaftbescheides mehrere Indizien für eine unzumutbare psychische Belastung der Mitbeteiligten durch eine Schubhaft vorgelegen, wie der Hinweis im Erkenntnis des BVwG vom 1. März 2024 und im Befund der Einrichtung „ZEBRA“ jeweils über das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bei der Mitbeteiligten oder ihr Kollaps im Zuge der Festnahme am 19. März 2024. Das BFA habe die Erörterung dieses Problemkreises mit der Mitbeteiligten unterlassen und sei daher zu Unrecht (ohne Weiteres) von der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft ausgegangen. Aus der Sicht des BVwG seien somit sowohl die Verhängung der Schubhaft als auch die darauf gestützte Anhaltung der Mitbeteiligten nicht verhältnismäßig gewesen. Auch die ebenfalls angefochtene Festnahme sei aus näher genannten Gründen rechtswidrig gewesen.

7 Nach der mündlichen Verkündung dieses Erkenntnisses wurde die Mitbeteiligte aus der Schubhaft entlassen und es wurde ihr mit am selben Tag zugestelltem Mandatsbescheid des BFA als gelinderes Mittel iSd § 77 FPG eine periodische Meldeverpflichtung auferlegt.

8 Gegen das Erkenntnis des BVwG richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9 Zunächst wird in der Zulässigkeitsbegründung der Revision die Unzuständigkeit des BVwG für den Ausspruch der Rechtswidrigkeit der Festnahme der Mitbeteiligten am 19. März 2024 in Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses geltend gemacht, weil die Festnahme in der Beschwerde nicht bekämpft worden sei.

10 Das trifft zu, weshalb sich die Amtsrevision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG insoweit als zulässig und auch als berechtigt erweist.

11 Mit dem Erkenntnis VwGH 27.2.2025, Ra 2024/21/0167, hat der Verwaltungsgerichtshof das zum Ehemann der Mitbeteiligten ergangene Erkenntnis des BVwG, soweit damit dessen Festnahme für rechtswidrig erklärt worden war, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben. Da die Beschwerde der Mitbeteiligten und ihres Ehemannes mit demselben Schriftsatz erhoben wurde und auch im Fall der Mitbeteiligten ausdrücklich nur der Schubhaftbescheid vom 20. März 2024 und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft bekämpft wurden, kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Entscheidungsgründe des Erkenntnisses VwGH 27.2.2025, Ra 2024/21/0167, verwiesen werden.

12 Das BVwG hat daher, soweit es die Festnahme der Mitbeteiligten am 19. März 2024 für rechtswidrig erklärte, die Sache des Beschwerdeverfahrens überschritten. Daher war in diesem Umfang Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.

13 Im Übrigen war die Revision aber wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss als unzulässig zurückzuweisen:

14 In seiner Zulässigkeitsbegründung rügt die Revision unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B VG insbesondere die Aktenwidrigkeit der Begründung des BVwG in Bezug auf die Rechtswidrigerklärung des Schubhaftbescheids und der darauf fußenden Anhaltung. Entgegen der Ansicht des BVwG hätten dem BFA im Zeitpunkt der Schubhaftverhängung Befunde vorgelegen, die im Mandatsverfahren die Annahme gerechtfertigt hätten, dass die Mitbeteiligte an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung gelitten habe und subjektiv haftfähig gewesen sei. Ein wesentlicher Begründungsmangel liege daher nicht vor und die Ansicht des BVwG beruhe in diesem Punkt nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage.

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat schon mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass unzureichend begründete Schubhaftbescheide rechtswidrig und demzufolge nach Maßgabe der erhobenen Schubhaftbeschwerde für rechtswidrig zu erklären sind. Nicht jeder Begründungsmangel bewirkt jedoch Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, sondern nur ein wesentlicher Mangel. Das ist ein solcher, der zur Folge hat, dass die behördliche Entscheidung in ihrer konkreten Gestalt die konkret verhängte Schubhaft nicht zu tragen vermag (vgl. etwa zuletzt VwGH 29.1.2025, Ra 2024/21/0094, Rn. 13, mwN).

16 Ob ein im Sinn des Gesagten wesentlicher Begründungsmangel vorliegt, ist stets eine Frage des Einzelfalls, daher nicht generell zu klären und als einzelfallbezogene Beurteilung grundsätzlich nicht revisibel, wenn diese Beurteilung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage in vertretbarer Weise vorgenommen wurde (vgl. nochmals VwGH 29.1.2025, Ra 2024/21/0094, nunmehr Rn. 14, mwN).

17 In der Begründung des Schubhaftbescheids vom 20. März 2024 stellte das BFA nur fest, dass der Mitbeteiligten nach ihrem Kollaps während der Festnahme am 19. März 2024 im Krankenhaus bescheinigt worden sei, bei „bester Gesundheit“ zu sein, und dass die Mitbeteiligte „gesund“ und haftfähig sei. Abgesehen davon, dass der Ambulanzbefund des Krankenhauses vom 19. März 2024 diese Feststellung des BFA schon mangels weitergeführter Anamnese nicht zu tragen vermag, ist der Bescheidbegründung eine Auseinandersetzung mit den Befunden der Einrichtung „ZEBRA“ oder auch mit dem im Anhalteprotokoll vermerkten Ergebnis der amtsärztlichen Untersuchung vom 19. März 2024, in dem die psychische Erkrankung der Mitbeteiligten ebenfalls festgehalten wurde, nicht zu entnehmen. Das BVwG durfte daher jedenfalls vertretbar annehmen, dass das BFA auf die gesundheitliche Verfassung der Mitbeteiligten bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur mangelhaft Bedacht genommen habe und sich die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft durch das BFA deshalb als rechtswidrig erweise.

18 Vor diesem Hintergrund treffen der in der Revision erhobene Vorwurf der Aktenwidrigkeit und die Behauptung des Fehlens einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage für die Annahmen des BVwG nicht zu. Die diesbezüglichen Revisionsausführungen, denen zufolge sich aus dem Verwaltungsakt keine lebensbedrohliche Erkrankung und (vielmehr) die subjektive Haftfähigkeit der Mitbeteiligten ergeben habe, gehen nämlich an der Sache vorbei: Denn nach der auch vom BVwG angesprochenen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, selbst wenn daraus keine Haftunfähigkeit resultiert, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Unzulässigkeit von Schubhaft führen. Demzufolge entspricht es der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine Bescheidbegründung, die sich mit dem Gesundheitszustand des Angehaltenen nur im Lichte der Haftfähigkeit, nicht jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung befasst, einen wesentlichen, im Beschwerdeverfahren nicht sanierbaren und vom BVwG aufzugreifenden Begründungsmangel aufweist (vgl. erneut VwGH 29.1.2025, Ra 2024/21/0094, nunmehr Rn. 15/16, mwN). Wie dargelegt hielt sich das BVwG im Rahmen dieser Rechtsprechung.

19 Hinsichtlich Spruchpunkt A.II. des Erkenntnisses führt die Revision in der Zulässigkeitsbegründung nur aus, ein Fortsetzungsausspruch setze voraus, dass sich der Fremde im Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG in Schubhaft befinde. Im vorliegenden Fall habe sich die Mitbeteiligte im Zeitpunkt der Erlassung des Erkenntnisses nicht mehr in Schubhaft befunden, sodass keine Grundlage mehr für einen Abspruch über die Fortsetzung der Schubhaft bestanden und sich der Ausspruch in Spruchpunkt A.II. des Erkenntnisses „erübrigt“ hätte.

20 Dieser Vorwurf geht bereits deshalb ins Leere, weil das angefochtene Erkenntnis am Ende der Verhandlung am 4. April 2024 mündlich verkündet und die Mitbeteiligte erst im Anschluss an die Verhandlung aus der Schubhaft entlassen wurde. Das BVwG hat seine Entscheidung an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach und Rechtslage auszurichten, und dieser Zeitpunkt ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Entscheidung durch einen Einzelrichter der Zeitpunkt der Zustellung oder wie hier der Verkündung der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes (vgl. VwGH 11.8.2020, Ra 2020/14/0347, Rn. 14, mwN).

21 Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wird daher auch insoweit nicht aufgezeigt.

Wien, am 27. Februar 2025

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