JudikaturVwGhRa 2023/22/0186

Ra 2023/22/0186 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Zettl, über die Revision der A D, vertreten durch Mag. a Margit Sagel, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 60/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2023, Zl. I422 2272616 1/2E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Bescheid vom 5. Mai 2023 wies die belangte Behörde (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA]) die Revisionswerberin, eine rumänische Staatsangehörige, gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm. § 55 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) unter Gewährung eines einmonatigen Durchsetzungsaufschubs (§ 70 Abs. 3 FPG) aus dem österreichischen Bundesgebiet aus.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. Juni 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

3 Das Verwaltungsgericht stellte fest, die Revisionswerberin sei nach einer bereits von 1. Februar 2018 bis 3. April 2018 erfolgten Hauptwohnsitzmeldung seit 29. Juni 2018 laufend im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz gemeldet. Sie führe eine Beziehung mit einem indischen Staatsangehörigen, der sich auf der Grundlage einer Aufenthaltskarte (§ 54 NAG) rechtmäßig in Österreich aufhalte. Zwischen 2. Februar 2018 und 27. Juni 2022 sei sie in näher angeführten Zeiträumen einer Erwerbstätigkeit als Arbeiterin nachgegangen. Zuletzt habe sie von 23. Dezember 2022 bis 30. März 2023 Arbeitslosengeld sowie von 31. März 2023 bis 3. Juni 2023 und sodann laufend seit 5. Juni 2023 Notstandshilfe bezogen. Auch mit Unterstützung ihres Partners verfüge sie nicht über ausreichende finanzielle Mittel. Sie sei strafgerichtlich unbescholten.

4 In seiner rechtlichen Beurteilung legte das Verwaltungsgericht näher dar, weshalb es davon ausging, dass fallbezogen keiner der in den Z 1 bis 3 des § 51 Abs. 1 NAG genannten Tatbestände für das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Revisionswerberin als Unionsbürgerin aufgrund der Richtlinie 2004/38/EG vorliege. Auch die Voraussetzungen für ein nach § 53a Abs. 1 NAG erlangtes Daueraufenthaltsrecht seien nicht erfüllt. Aus anderen innerstaatlichen oder unionsrechtlichen Vorschriften ergebe sich ebenfalls kein Aufenthaltsrecht der Revisionswerberin. Die Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK falle aus näher dargestellten Gründen zu ihren Ungunsten aus. Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf § 21 Abs. 7 BFA VG.

5 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Beschluss vom 18. September 2023, E 2270/5, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und mit Beschluss vom 27. September 2023, E 2270/2023 8, die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

6 In der Zulässigkeitsbegründung der vorliegenden außerordentlichen Revision wird insbesondere geltend gemacht, das Verwaltungsgericht sei von der hg. Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht abgewichen.

7 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision erweist sich aus dem von ihr genannten Grund als zulässig; sie ist auch begründet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA VG (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nach dieser Gesetzesbestimmung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018), dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt. Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 15.3.2023, Ra 2022/22/0179, Rn. 10, mwN).

10 Schon im Hinblick auf die im Revisionsfall durchzuführende Interessenabwägung erwies sich gegenständlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unerlässlich. Entgegen der Beurteilung des Verwaltungsgerichts konnte fallbezogen nicht von einer Konstellation ausgegangen werden, in der das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wegen eines eindeutigen Ergebnisses der Interessenabwägung ausnahmsweise als zulässig zu erachten gewesen wäre. Hinzu kommt, dass die unbescholtene Revisionswerberin, die über längere Zeiträume hinweg im Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nachgegangen war, in ihrer Beschwerde u.a. vorbrachte, dass sie in Österreich weiterhin die Ausübung einer Erwerbstätigkeit beabsichtige, aus diesem Grund beginnend mit Ende Mai 2023 einem Deutschkurs „zugeteilt“ worden sei und im Übrigen in Anbetracht eines ersten Eintrags im Versicherungsdatenauszug vom 2. Februar 2018 mittlerweile über ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 53a NAG verfüge. Somit durfte fallbezogen auch unter den zuletzt genannten Aspekten nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn von § 21 Abs. 7 BFA VG ausgegangen werden.

11 Da das Verwaltungsgericht aus den dargelegten Erwägungen zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absah, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

12 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 4. März 2024

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