JudikaturVwGhRa 2023/22/0165

Ra 2023/22/0165 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Zettl, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. August 2023, Zl. G307 2275048 1/2E, betreffend Ausweisung (mitbeteiligte Partei: K R, vertreten durch Kadra Abdullahi MAALIM in 1120 Wien, Wilhelmstraße 10/4), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 6. Juni 2023 wies die revisionswerbende Behörde (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [BFA]) den Mitbeteiligten, einen polnischen Staatsangehörigen, gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm. § 55 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) aus dem österreichischen Bundesgebiet aus (Spruchpunkt I.) und gewährte ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen einmonatigen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.).

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. August 2023 gab das Bundesverwaltungsgericht der gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt und hob diesen Spruchpunkt des genannten Bescheides auf. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

3 Auf das im Revisionsfall Wesentliche zusammengefasst führte das Verwaltungsgericht begründend aus, dem Mitbeteiligten komme weder nach § 51 Abs. 1 Z 1 bis 3 NAG noch nach § 53a Abs. 1 NAG ein Aufenthaltsrecht zu. Auch der Antrag der Mutter des Mitbeteiligten, einer kenianischen Staatsangehörigen, auf internationalen Schutz vom 23. August 2022 sei mit Bescheid der revisionswerbenden Behörde vom 15. November 2022 gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zurückgewiesen worden und es sei ausgesprochen worden, dass gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III VO Polen für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem sei gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und gemäß § 61 Abs. 2 FPG festgestellt worden, dass die Abschiebung der Mutter des Mitbeteiligten nach Polen zulässig sei (Spruchpunkt II.). Dieser Bescheid sei im Beschwerdeverfahren mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2022 bestätigt worden (vgl. VwGH 19.10.2023, Ra 2022/20/0406, betreffend die Zurückweisung der von der Mutter des Mitbeteiligten gegen das Spruchpunkt II. des Bescheides des BFA vom 15. November 2022 bestätigende Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts erhobenen außerordentlichen Revision).

4 Allerdings sei die sechsmonatige Überstellungsfrist (vgl. Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III VO), die mit der am 5. Oktober 2022 erteilten Zustimmung Polens zur Wiederaufnahme der Mutter des Mitbeteiligten zu laufen begonnen habe, bereits am 5. April 2023 verstrichen. Eine Verlängerung der Überstellungsfrist im Sinn des Art. 29 Abs. 2 zweiter Satz Dublin III VO sei nicht erfolgt. Die Zuständigkeit zur inhaltlichen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz der Mutter des Mitbeteiligten sei daher auf Österreich übergegangen.

5 Vor diesem Hintergrund ergebe die fallbezogen gemäß § 66 Abs. 3 zweiter Satz FPG vorzunehmende Prüfung, ob die Ausweisung des minderjährigen Mitbeteiligten, dessen Verbleib die öffentliche Ordnung der Republik Österreich nicht nachhaltig und maßgeblich gefährde, zu dessen Wohl notwendig sei, dass in Anbetracht der gebotenen Aufrechterhaltung des „Familienverbandes“ mit der Mutter eine Ausweisung des Mitbeteiligten nicht zulässig sei. Die Verhinderung einer Trennung von der Mutter stelle das zentrale private und familiäre Interesse des Mitbeteiligten dar. Folglich sei Spruchpunkt I. des Bescheides der revisionswerbenden Behörde vom 6. Juni 2023 (Ausweisung des Mitbeteiligten) aufzuheben gewesen.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, in deren Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen geltend gemacht wird, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass der Mitbeteiligte und dessen Mutter im Zeitraum von 19. November 2022 bis 13. Jänner 2023 über keinen Wohnsitz im Bundesgebiet verfügt hätten, für die Behörden unauffindbar gewesen seien und die Mutter des Mitbeteiligten somit „flüchtig“ im Sinn von Art. 29 Abs. 2 zweiter Satz Dublin III VO gewesen sei. Somit habe sich die Überstellungsfrist nach der zuletzt genannten Bestimmung verlängert. Die revisionswerbende Behörde habe die polnischen Behörden bereits am 7. Dezember 2022 über eine „Aussetzung“ der Überstellungsfrist informiert. Obwohl dem Bundesverwaltungsgericht bekannt gewesen sei, dass keine durchgehende Hauptwohnsitzmeldung in Österreich vorgelegen sei, habe es die im gegenständlichen Zusammenhang gebotenen amtswegigen Ermittlungsschritte unterlassen.

7 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Amtsrevision ist aus dem von ihr dargestellten Grund zulässig. Sie ist auch begründet.

9 Art. 29 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III VO) lautet auszugsweise:

„Artikel 29

Modalitäten und Fristen

(1) Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

...

(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

...“

10 Gemäß § 66 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) ist die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

11 Das Verwaltungsgericht stützte seine Beurteilung, fallbezogen sei die Erlassung einer Ausweisung gemäß § 66 Abs. 3 zweiter Satz FPG unzulässig, insbesondere darauf, dass betreffend die Überstellung der Mutter des Mitbeteiligten nach Polen die in Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III VO normierte sechsmonatige Frist abgelaufen sei. Die Frage, ob im vorliegenden Fall wie von der Amtsrevision vertreten eine Verlängerung dieser sechsmonatigen Frist gemäß Art. 29 Abs. 2 zweiter Satz Dublin III VO eingetreten ist, weil die Mutter des Mitbeteiligten flüchtig war, und die Zuständigkeit Polens für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz in der vorliegenden Situation fortbestand (vgl. dazu EuGH [GK] 19.3.2019, Abubacarr Jawo , C 163/17, Rz. 50 ff. sowie Rz. 75), wurde vom Verwaltungsgericht allerdings nicht nachvollziehbar geprüft (zur Anordnung der Außerlandesbringung gemäß § 61 Abs. 1 FPG und der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung der Mutter des Mitbeteiligten nach Polen gemäß § 61 Abs. 2 FPG vgl. VwGH 19.10.2023, Ra 2022/20/0406; siehe in diesem Zusammenhang auch VwGH 21.12.2021, Ro 2019/21/0016, Rn. 22 ff.).

12 Im Hinblick auf den der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses für die Aufhebung der Ausweisungsentscheidung der revisionswerbenden Behörde tragend zugrunde gelegten Ablauf der in Rede stehenden, in Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III VO genannten sechsmonatigen Frist wäre das Bundesverwaltungsgericht gehalten gewesen, zu den für die allfällige Verlängerung der Überstellungsfrist maßgeblichen Umständen unter Wahrung des Parteiengehörs nachvollziehbare Feststellungen zu treffen (siehe etwa VwGH 1.3.2016, Ra 2015/18/0283, Rn. 13; VwGH 13.12.2017, Ra 2017/19/0187, Rn. 22; zu den Voraussetzungen gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG für das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vgl. zudem grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018).

13 Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.

Wien, am 4. März 2024

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