JudikaturVwGH

Ra 2023/22/0097 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
28. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie den Hofrat Dr. Schwarz und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Bamer, über die Revision des Landeshauptmanns von Wien gegen das am 2. März 2023 mündlich verkündete und mit 20. März 2023 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien, Zl. VGW 151/065/7316/2021 21, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: N G, vertreten durch Mag. a Eva Velibeyoglu, Rechtsanwältin in 1100 Wien, Columbusgasse 65/22), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Spruchpunkt I insoweit, als das Verwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt 2b des Bescheides der revisionswerbenden Behörde vom 29. März 2021 stattgab und diesen Spruchpunkt des Bescheides aufhob, sowie Spruchpunkt II) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 29. März 2021 nahm die revisionswerbende Behörde (der Landeshauptmann von Wien) das aufgrund des (Erst-)Antrags der Mitbeteiligten, einer türkischen Staatsangehörigen, vom 11. September 2018 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ (§ 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz [NAG]) rechtskräftig positiv abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm. Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf (Spruchpunkt 1a). Gleichzeitig wies die revisionswerbende Behörde unter Spruchpunkt 2a den betreffenden Erstantrag mit näherer Begründung sowie unter Spruchpunkt 2b den bis dahin nicht bescheidmäßig erledigten, am 19. August 2020 eingelangten Verlängerungsantrag der Mitbeteiligten mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels ab.

2 Die revisionswerbende Behörde legte ihrer Entscheidung zugrunde, dass die mit einem österreichischen Staatsbürger verheiratete Mitbeteiligte entgegen ihren Angaben, dass sie in Österreich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beabsichtige, welche im Hinblick auf die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG Türkei vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zur Erteilung des Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ geführt hätten, in Österreich keine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe.

3 Mit dem am 2. März 2023 mündlich verkündeten und mit 20. März 2023 schriftlich ausgefertigten angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien der Beschwerde der Mitbeteiligten gegen den Bescheid der revisionswerbenden Behörde vom 29. März 2021 statt und hob diesen Bescheid zur Gänze auf (Spruchpunkt I). Weiters erteilte es der Mitbeteiligten aufgrund ihres am 19. August 2020 eingelangten Verlängerungsantrages einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ für die Dauer von drei Jahren (Spruchpunkt II). Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig (Spruchpunkt III).

4 Das Verwaltungsgericht gelangte aufgrund näher dargestellter Erwägungen zur Auffassung, dass die Mitbeteiligte - anders als von der revisionswerbenden Behörde angenommen - das Bestehen einer Erwerbsabsicht nicht vorgetäuscht habe. Sie sei zudem während bestimmter Zeiträume im Jahr 2021 einer (teils geringfügigen) Beschäftigung im Bundesgebiet nachgegangen. Sie bestreite aktuell ihren Lebensunterhalt aus Mitteln der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Von 19. Februar 2020 bis 31. August 2020 sowie von 27. Oktober 2020 bis 9. März 2021 habe sie „jeweils einen A1/A2 Deutsch bzw. Alphabetisierungskurs“ besucht. Ein Prüfungszeugnis habe sie nicht vorlegen können.

5 Da somit die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des in Rede stehenden rechtskräftig positiv abgeschlossenen Erstantragsverfahrens nicht vorgelegen seien und sich daher die Abweisung des diesem Verfahren zugrundeliegenden, bereits rechtskräftig erledigten Erstantrags als rechtswidrig erweise, seien die Spruchpunkte 1a sowie 2a des Bescheides der revisionswerbenden Behörde aufzuheben gewesen.

6 Betreffend den noch offenen Verlängerungsantrag der Mitbeteiligten erwog das Verwaltungsgericht, dass fallbezogen die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 zum Tragen komme, weshalb der gegenständliche Verlängerungsantrag anhand der für die Mitbeteiligte günstigeren Bestimmungen der §§ 47 und 49 Fremdengesetz (FrG 1997) zu beurteilen sei. Da zudem ein von der revisionswerbenden Behörde vor Erlassung des Bescheides vom 29. März 2021 bereits gemäß § 25 Abs. 1 NAG geführtes Verfahren ergeben habe, dass wie aus der Mitteilung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 5. März 2021 hervorgehe eine Aufenthaltsbeendigung unzulässig sei, sei der Mitbeteiligten im Verlängerungsverfahren ein Aufenthaltstitel mit dem gleichen Zweckumfang zu erteilen gewesen. Somit erweise sich die unter Spruchpunkt 2b des Bescheides der revisionswerbenden Behörde erfolgte Abweisung des Verlängerungsantrags der Mitbeteiligten als rechtswidrig. Daher sei auch dieser Spruchteil des Bescheides vom 29. März 2021 aufzuheben gewesen. Der betreffende Aufenthaltstitel sei gemäß § 20 Abs. 1a NAG für die Dauer von drei Jahren zu erteilen gewesen, zumal zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 in Österreich (1. Jänner 1995) keine dem Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 9 Integrationsgesetz [IntG]) entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen in Geltung gestanden seien.

7 Die vorliegende außerordentliche Amtsrevision wendet sich ausweislich ihrer Anfechtungserklärung, der zufolge das angefochtene Erkenntnis insoweit bekämpft werde, als der Mitbeteiligten aufgrund ihres Verlängerungsantrages ein auf die Dauer von drei Jahren befristeter Aufenthaltstitel erteilt worden sei erkennbar sowohl gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Erkenntnisses als auch gegen jenen Ausspruch des Verwaltungsgerichts, mit dem es unter Spruchpunkt I im Zuge der meritorischen Erledigung der Beschwerde betreffend die Entscheidung über den Verlängerungsantrag der Mitbeteiligten deren Beschwerde gegen Spruchpunkt 2b des Bescheides der revisionswerbenden Behörde Folge gab und diesen Ausspruch aufhob.

8 Zu ihrer Zulässigkeit bringt die Amtsrevision unter dem Gesichtspunkt einer Abweichung von der hg. Rechtsprechung vor, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass es die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fallbezogen nicht gebiete, der Mitbeteiligten, die mangels Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1a NAG nicht erbringe, einen Aufenthaltstitel mit dreijähriger Gültigkeitsdauer zu erteilen.

9 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision erweist sich aus dem von ihr dargestellten Grund als zulässig. Sie ist auch berechtigt.

11 Gemäß § 20 Abs. 1a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 153/2022, sind Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 (u.a.) Z 8 NAG für die Dauer von drei Jahren auszustellen, wenn der Fremde das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 9 IntG) erfüllt hat (Z 1) und in den letzten zwei Jahren durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war (Z 2), es sei denn, es wurde eine kürzere Dauer des Aufenthaltstitels beantragt oder das Reisedokument weist nicht die entsprechende Gültigkeitsdauer auf.

12 Gegenständlich erteilte das Verwaltungsgericht der Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ (§ 8 Abs. 1 Z 8 iVm. § 47 Abs. 2 NAG) mit dreijähriger Gültigkeitsdauer. Feststellungen oder Ausführungen, aufgrund derer sich ergäbe, dass fallbezogen die gemäß § 20 Abs. 1a Z 1 NAG erforderliche Voraussetzung (Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung) für die Erteilung eines auf drei Jahre befristeten Aufenthaltstitels vorläge, enthält das angefochtene Erkenntnis nicht.

13 Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Gültigkeitsdauer des in Rede stehenden Aufenthaltstitels der Mitbeteiligten auch bei Nichterbringen der in § 20 Abs. 1a NAG genannten Anforderungen aufgrund der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 mit drei Jahren zu bemessen sei, tritt die Amtsrevision zu Recht entgegen:

14 Gegenständlich ist nicht ersichtlich, weshalb die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“, der gemäß § 8 Abs. 1 Z 8 NAG iVm. § 1 Abs. 2 lit. m Ausländerbeschäftigungsgesetz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in Österreich berechtigt (vgl. VwGH 12.10.2010, 2007/21/0091), nicht mit dreijähriger (§ 20 Abs. 1a NAG), sondern mit einjähriger (vgl. § 20 Abs. 1 NAG) Gültigkeitsdauer geeignet wäre, eine Erwerbstätigkeit der Mitbeteiligten in Österreich zu beeinträchtigen. Darin kann in der vorliegend zu beurteilenden Konstellation keine neue Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt erblickt werden (vgl. zur Rückstufung eines unbefristeten Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ auf einen befristeten Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ VwGH 4.11.2020, Ro 2017/22/0010, Pkt. 6.1., mwN; siehe auch VwGH 18.1.2017, Ra 2016/22/0021, Rn. 10/11; vgl. ferner VwGH 23.2.2021, Ro 2020/22/0007, Rn. 15/17; VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0100, Rn. 8).

15 Die Regelung des § 20 Abs. 1a NAG geht auf die Novelle BGBl. I Nr. 38/2011 zurück. Zuvor bestand gemäß § 20 NAG keine Möglichkeit, einen befristeten Aufenthaltstitel mit längerer als einjähriger Gültigkeitsdauer zu erlangen (vgl. § 20 Abs. 1 NAG). Auch bei Anwendung der Bestimmungen der §§ 47 und 49 FrG unter Berücksichtigung der vor dem FrG geltenden Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes sowie des Fremdengesetzes 1992 stellen sich diese Bestimmungen in ihrer Gesamtheit für einen Fall, wie er hier vorliegt, als die günstigsten dar (siehe § 3 Abs. 1 iVm. § 5 Abs. 1 AufG; im Zusammenhang mit dem Erfordernis von ausreichenden Unterhaltsmitteln sowie zu § 49 Abs. 1 iVm. § 47 Abs. 2 FrG vgl. VwGH 15.12.2011, 2007/18/0430) wäre der gegenständliche, zum ersten Mal verlängerte (d.h. der Mitbeteiligten zum zweiten Mal erteilte) Aufenthaltstitel nicht mit drei Jahren zu befristen gewesen. § 49 Abs. 1 letzter Satz FrG sah nämlich vor, dass die Gültigkeitsdauer der Niederlassungsbewilligung, die Angehörigen von Österreichern (vgl. § 49 Abs. 1 iVm. § 47 Abs. 3 Z 1 FrG) die ersten beiden Male erteilt werde, jeweils ein Jahr zu betragen habe (siehe auch RV 685 BlgNR 20. GP, 78). Inwiefern sich durch die in Bezug auf das Modul 1 der Integrationsvereinbarung mit der Novelle BGBl. I Nr. 68/2017 erfolgten gesetzlichen Änderungen eine für die Mitbeteiligte, die nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts von 19. Februar 2020 bis 31. August 2020 sowie von 27. Oktober 2020 bis 9. März 2021 „jeweils einen „A1/A2 Deutsch bzw. Alphabetisierungskurs“ besucht hatte und kein Prüfungszeugnis vorlegen konnte, relevante Verschlechterung hätte ergeben können, ist anhand des angefochtenen Erkenntnisses ebenfalls nicht nachvollziehbar (zu den mit der Novelle BGBl. I Nr. 68/2017 einhergegangen Änderungen betreffend die zuvor bestehende Möglichkeit, durch Vorlage eines allgemein anerkannten Nachweises über ausreichende Deutschkenntnisse in einem bestimmten Umfang das Modul 1 der Integrationsvereinbarung zu erfüllen, vgl. VwGH 16.8.2022, Ra 2020/21/0185, Rn. 13).

16 Da sich aus den dargelegten Erwägungen die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Bemessung der Gültigkeitsdauer des der Mitbeteiligten erteilten Aufenthaltstitels als rechtswidrig erweist, war das angefochtene Erkenntnis - weil die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels nicht von dessen Erteilung (siehe etwa VwGH 19.11.2014, Ra 2014/22/0010) und die Erteilung des Aufenthaltstitels durch das Verwaltungsgericht nicht von der Aufhebung des den Verlängerungsantrag abweisenden Ausspruchs der revisionswerbenden Behörde zu trennen sind - im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt I insoweit, als das Verwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt 2b des Bescheides der revisionswerbenden Behörde stattgab und diesen Spruchpunkt des Bescheides aufhob, sowie Spruchpunkt II) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Wien, am 28. Februar 2024

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