Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. April 2023, W171 2269530 1/6E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: N K, derzeit unbekannten Aufenthalts), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein 1987 geborener Staatsangehöriger von Belarus, stellte in Österreich am 26. Dezember 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Da in seinem Reisepass ein bis 3. Jänner 2023 gültiges polnisches Visum eingetragen war, richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 24. Jänner 2023 ein Aufnahmeersuchen nach der Dublin III VO an Polen, das von den polnischen Behörden mit Schreiben vom 2. Februar 2023 positiv beantwortet wurde.
2 Mit Bescheid des BFA vom 8. Februar 2023 wurde daher der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurückgewiesen und es wurde ausgesprochen, dass Polen gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III VO zur Prüfung des Antrags zuständig sei. Weiters wurde die Außerlandesbringung des Mitbeteiligten gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG (nach Polen) angeordnet und festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 61 Abs. 2 FPG nach Polen zulässig sei. Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte mit Schriftsatz vom 21. Februar 2023 Beschwerde, der gemäß § 16 Abs. 2 Z 3 BFA VG keine aufschiebende Wirkung zukam.
3 Am 27. März 2023 wurde der Mitbeteiligte in seinem Grundversorgungsquartier festgenommen und in ein Polizeianhaltezentrum überstellt. Am 29. März 2023 wurde er zur Durchführung seiner Abschiebung nach Polen zum Flughafen gebracht. Nachdem der Mitbeteiligte in einem Gespräch mit dem Kapitän des Flugzeuges, das er besteigen sollte, angegeben hatte, wegen einer dort befürchteten politischen Verfolgung nicht nach Polen reisen zu wollen, verweigerte der Kapitän die Mitnahme des Mitbeteiligten, der in der Folge in das Polizeianhaltezentrum rücküberstellt wurde.
4 Mit Mandatsbescheid vom 29. März 2023 wurde über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III VO die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Überstellungsverfahrens verhängt.
5 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 5. April 2023 gab das BVwG der Beschwerde statt und erklärte den Schubhaftbescheid sowie die (darauf gegründete) Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit 29. März 2023 gemäß § 76 Abs. 2 Z 3 FPG iVm Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III VO für rechtswidrig. Weiters stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG fest, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen, und traf diesem Ergebnis entsprechende Kostenentscheidungen. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
6 In seiner Entscheidungsbegründung legte das BVwG soweit für den vorliegenden Fall relevant dar, der Mitbeteiligte habe gegenüber dem Kapitän des Flugzeuges, mit dem er am 29. März 2023 nach Polen hätte abgeschoben werden sollen, angegeben, er wolle nicht nach Polen reisen, weshalb der Kapitän seine Mitnahme verweigert habe. Dadurch habe der Mitbeteiligte seine Abschiebung behindert, weshalb der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG verwirklicht sei.
7 Im Hinblick auf den Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG, wonach zu berücksichtigen ist, ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht, ging das BVwG unter Berufung auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jedoch davon aus, dass dieser Umstand per se nicht in tauglicher Weise „Fluchtgefahr“ zum Ausdruck bringe. Gegen den Mitbeteiligten liege zwar eine aufenthaltsbeendende Maßnahme vor, dies treffe jedoch auf alle Außerlandesbringungen „im Dublin Kontext“ zu. Der Mitbeteiligte habe sich bisher einem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht entzogen. Dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG könne „ohne die Qualifikation des Entzugs vom Verfahren“ im Hinblick auf die Fluchtgefahr keine Bedeutung beigemessen werden. Im Ergebnis lasse sich somit aus der Verwirklichung des Tatbestandes des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG für die Beurteilung der Fluchtgefahr im vorliegenden Fall nichts gewinnen.
8 Zusammengefasst nahm das BVwG unter Berücksichtigung des gesamten Verhaltens des weiterhin über einen Anspruch auf Grundversorgung verfügenden Mitbeteiligten vor der Anordnung der Schubhaft, insbesondere auch wegen des Bestehens einer Meldeadresse und der deshalb gegebenen Erreichbarkeit für die Behörden, an, es sei keine erhebliche Fluchtgefahr anzunehmen gewesen. Die verbale Äußerung des Mitbeteiligten gegenüber dem Kapitän des Flugzeuges am 29. März 2023 sei nicht ausreichend, um von der für die Anordnung der Schubhaft notwendigen erheblichen Fluchtgefahr iSd Art. 28 Abs. 2 Dublin III VO ausgehen zu können. Alleine aus der Weigerung eines Fremden, der ihn treffenden Ausreiseverpflichtung nachzukommen, könne noch kein Sicherungsbedarf abgeleitet werden.
9 Mangels Vorliegens erheblicher Fluchtgefahr sei daher der Schubhaftbeschwerde stattzugeben und im Hinblick auf die aufrechte Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft ein negativer Fortsetzungsausspruch zu treffen gewesen.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
11 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit wendet sich die vorliegende Amtsrevision mit näheren Ausführungen vor allem dagegen, dass das BVwG die Verwirklichung des Tatbestandes des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG für nicht maßgeblich erachtet habe und in weiterer Folge in einer Gesamtbetrachtung vom Nichtvorliegen „erheblicher Fluchtgefahr“ iSd Art. 28 Abs. 2 Dublin III VO iVm § 76 Abs. 2 Z 3 FPG ausgegangen sei.
12 Mit diesem Vorbringen erweist sich die Amtsrevision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
13 Eine bestimmte Tatsache, welche die Annahme rechtfertigen kann, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung durch Flucht entziehen könnte, stellt gemäß § 76 Abs. 3 Z 3 FPG der Umstand dar, dass eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht. Das bringt zwar nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes per se noch nicht in tauglicher Weise „Fluchtgefahr“ zum Ausdruck. Der Existenz einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kommt jedoch im Rahmen der gebotenen einzelfallbezogenen Bewertung der Größe der auf Grund der Verwirklichung eines anderen tauglichen Tatbestandes des § 76 Abs. 3 FPG grundsätzlich anzunehmenden Fluchtgefahr Bedeutung zu. In diesem Sinn war es auch schon davor Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass sich bei typisierender Betrachtung mit Fortschreiten des Verfahrens auf internationalen Schutz aus der Sicht des Fremden die Wahrscheinlichkeit verdichten kann, letztlich abgeschoben zu werden, sodass sich dadurch die Fluchtgefahr erhöht (siehe grundlegend VwGH 11.5.2016, Ro 2016/21/0021, Rn. 30). Das gilt im Besonderen auch für den vorliegenden Fall, in dem schon ein Abschiebeversuch stattgefunden hatte und nach dem unwidersprochenen Vorbringen des BFA eine neuerliche, nunmehr begleitete Abschiebung des Mitbeteiligten nach Polen bereits für den 17. April 2023 geplant war.
14 Angesichts dessen ist entscheidend, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits wiederholt ausgesprochen hat, die den (tauglichen) Fluchtgefahrtatbestand des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG verwirklichende Vereitelung von Abschiebungen oder die Weigerung, an einer Abschiebung mitzuwirken, könne die Annahme des Vorliegens einer „erheblichen Fluchtgefahr“ sehr wohl rechtfertigen (vgl. zu vereitelten Abschiebemaßnahmen etwa VwGH 11.5.2017, Ro 2017/21/0001, Rn. 16 iVm Rn. 15, mwN; siehe dazu auch die in VwGH 23.5.2024, Ra 2022/21/0077, Rn. 12, zitierten, ähnlich gelagerten Fälle).
15 Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG, das nach dem Gesagten zutreffend davon ausging, dass im Hinblick auf die Vereitelung der Abschiebung am 27. März 2023 durch den Mitbeteiligten der Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt ist, aber sehr wohl auch auf das Bestehen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme iSd § 76 Abs. 3 Z 3 FPG und die sich daraus in Verbindung mit dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine Abschiebung behindert hat, ergebende Fluchtgefahr Bedacht nehmen müssen. Ausgehend davon hätte das BVwG wie die Amtsrevision zu Recht geltend macht fallbezogen zu dem Ergebnis kommen müssen, dass aufgrund der (erst den Anlass für die verfahrensgegenständliche Schubhaft bildenden) Vereitelung der Abschiebung die in ihrer Intensität über eine bloße, allenfalls auch beharrliche Weigerung, einer bestehenden Ausreiseverpflichtung nachzukommen, deutlich hinausgeht eine erhebliche Fluchtgefahr gemäß Art. 28 Abs. 2 Dublin III VO vorlag.
16 Schon deshalb war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, weshalb es sich erübrigt, auf das weitere in der Revision erstattete Vorbringen einzugehen.
Wien, am 23. Mai 2024
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