Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, die Hofräte Mag. Eder und Dr. Pürgy, die Hofrätin Dr. in Oswald sowie den Hofrat Mag. M. Mayr als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Bamer, über die Revision der L S in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Mai 2023, W146 2270513 1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin ist russische Staatsangehörige. Sie lebte zuletzt in der Ukraine. Nach Ausbruches des Krieges in der Ukraine verließ sie mit ihrer Tochter und ihrem Enkelkind dieses Land und reiste mit diesen im März 2022 in Österreich ein. Am 20. März 2022 ließ sie sich für die Ausstellung eines Ausweises für Vertriebene registrieren. Ein solcher Ausweis wurde jedoch für die Revisionswerberin nicht ausgestellt. In der Folge stellte sie am 6. September 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diesen Antrag mit Bescheid vom 14. März 2023 sowohl hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Dagegen erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der sie auch die Durchführung einer Verhandlung beantragte. Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte soweit für das Revisionsverfahren von Interesse fest, dass die Revisionswerberin Staatsangehörige der Russischen Föderation sei. Sie spreche die ukrainische und russische Sprache. Die im Jahr 1963 geborene Revisionswerberin sei in Kiew, das damals zur Sowjetunion (UdSSR) gehört habe, geboren. Sie habe die überwiegende Zeit ihres Lebens in der heutigen Ukraine gelebt. Zum Zeitpunkt des Zerfalls der UdSSR sei sie in der Ukraine geblieben. Im Jahr 1998 sei sie mit ihrem Ehemann in die heutige Russische Föderation übersiedelt, wo sie bis zum Jahr 2007 gelebt habe. Sie sei während dieser Zeit dort für ihren Lebensunterhalt selbst aufgekommen, indem sie einer Erwerbstätigkeit als Lehrerin nachgegangen sei. Im Jahr 2007 sei die Revisionswerberin wieder in die heutige Ukraine übersiedelt, wo sie ebenfalls als Lehrerin erwerbstätig gewesen sei und so ihren Lebensunterhalt finanziert habe. Sie sei verheiratet und habe zwei bereits erwachsene Töchter. Eine Tochter, die ukrainische Staatsangehörige sei, lebe in der Schweiz in Basel. Die weitere Tochter, eine russische Staatsangehörige, und die Enkelin, eine ukrainische Staatsangehörige, verfügten in Österreich über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht aufgrund der Verordnung der Bundesregierung über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht für aus der Ukraine Vertriebene (VertriebenenVO). Zum Ehemann, der in der Stadt Mineralnyje Wody in Russland lebe, solle die Revisionswerberin seit ihrer im Jahr 2007 erfolgten Rückkehr in die Ukraine keinen Kontakt mehr haben. Weitere Familienangehörige habe sie in Russland nicht. Sie stehe jedoch in Kontakt zu ihren ehemaligen dortigen Nachbarn.
5 Die Revisionswerberin sei so das Bundesverwaltungsgericht bereits im Rahmen der Feststellungen weiter in der Russischen Föderation keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt. Gründe, die ihre Verfolgung oder sonstige Gefährdung im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung maßgeblich wahrscheinlich erscheinen ließen, seien von ihr nicht glaubhaft gemacht worden.
6 Bei den Erwägungen zur Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, sowohl in der Erstbefragung als auch in der Vernehmung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe die Revisionswerberin „Rückkehrbefürchtungen“ nur hinsichtlich der Ukraine, nicht jedoch hinsichtlich ihres Herkunftsstaates, der Russischen Föderation, vorgebracht. Ihre Angaben, dass sie die Ukraine aufgrund des Krieges verlassen habe, seien zwar glaubwürdig. Dies sei aber nicht asylrelevant. Auch aus dem Vorbringen, wonach ihr gegenüber von Beamten in Russland im Zuge einer Ausstellung eines Auszuges aus dem Strafregister gesagt worden sei, dass „die Russen die Ukrainer aufnehmen und die Ukrainer die Russen hassen würden“, ergebe sich nicht die Gefahr einer Verfolgung. Die Revisionswerberin habe nämlich selbst angegeben, dass es sich dabei um ein privates Gespräch gehandelt habe. Ebenso sei „aus dem Wortlaut keine Drohung oder Sonstiges, was für eine drohende Verfolgungsgefahr sprechen würde, erkennbar“. Aus den Länderinformationen ergebe sich, dass die (gemeint: russische) Verfassung gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit garantiere. Dass der Revisionswerberin eine Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur ukrainischen Volksgruppe oder aufgrund ihres Geburtsortes drohe, sei nicht plausibel. Derartiges habe die Revisionswerberin nicht glaubhaft machen können. Ihre Befürchtungen seien „auch vor dem Hintergrund der soeben dargelegten Länderfeststellungen nicht objektivierbar“. Dass ihr „nunmehr im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation eine Verfolgung“ drohe, wie sie sie nur sehr ansatzweise, oberflächlich und vage vorbringe, sei „vor dem Hintergrund ihrer Person und den Länderberichten nicht glaubhaft“. Ebenso sei nicht plausibel, dass sie seit ihrer Übersiedlung in die Ukraine im Jahr 2007 Probleme mit den russischen Behörden gehabt habe, „zumal sie auch Behördenkontakt hatte (Reisepassausstellung)“. Überdies sei sie nach der Übersiedlung in die Ukraine im Jahr 2007 immer wieder in die Russische Föderation gereist. Aus dem Umstand, dass es dabei zu einer genaueren Kontrolle ihrer Taschen gekommen sein solle, sei die Gefahr einer Verfolgung jedoch nicht ableitbar. Somit habe die Revisionswerberin kein Vorbringen „über eine befürchtete Verfolgung aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Motive“ erstattet.
7 Zum Entfall der Verhandlung merkte das Bundesverwaltungsgericht an, dass ein eindeutiger Fall vorliege und der Sachverhalt aus der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen habe geklärt werden können. Von der Durchführung der Verhandlung sei keine weitere Klärung der Rechtssache zu erwarten gewesen, weil in der Beschwerde „keine entscheidungserheblichen Widersprüche in den Beweisergebnissen erhoben“ worden seien.
8 In der Begründung für die Nichtzulassung der Revision verwies das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass in Bezug auf einen Antrag auf internationalen Schutz die vom Bundesverwaltungsgericht im Einzelfall vorzunehmende Beweiswürdigung soweit diese nicht unvertretbar sei nicht revisibel sei. Auch bei Gefahrenprognosen im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und bei Interessenabwägungen nach Art. 8 EMRK handle es sich letztlich um einzelfallbezogene Beurteilungen, die im Allgemeinen nicht revisibel seien.
9 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision, die vom Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt wurde. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
11 Die Revisionswerberin verweist zur Zulässigkeit der Revision (u.a.) unter den Aspekten unzureichender Ermittlungen des Bundesverwaltungsgerichts und des rechtswidrigen Entfalls einer Verhandlung auf ihr Vorbringen, wonach international geächtete Deportationen „von Ukrainern nach Russland durch Russland“ stattfänden. Weiters werde der Tod der bislang mehr als 200.000 gefallenen russischen Soldaten von ihren Familien vielfach den Ukrainern angelastet. In diesem Zusammenhang werde vom russischen Staat eine anti ukrainische Stimmung unter der russischen Bevölkerung geschürt. Das führe zu Gewalt gegen ethnische Ukrainer, was auch aus den Länderinformationen hervorgehe. Von dieser Gewalt wäre die Revisionswerberin schon deshalb betroffen, weil sie russisch mit ukrainischem Akzent spreche.
12 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
13 Dem Vorbringen der Revisionswerberin, sie habe in Russland aufgrund ihrer ethnischen Herkunft Verfolgung zu befürchten, wurde vom Bundesverwaltungsgericht zu Recht die Asylrelevanz nicht abgesprochen. Es ging aber davon aus, dass sich aus den Feststellungen zur Situation in Russland nicht ergebe, dass dort russische Staatsangehörige, die aus dem Gebiet der Ukraine stammten, Verfolgung zu befürchten hätten.
14 Es sind aber den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Situation in Russland überhaupt keine Ausführungen zu entnehmen, die sich in Bezug zum Vorbringen der Revisionswerberin hätten setzen lassen. Feststellungen, die der Antwort auf die Frage hätten dienen können, welche Behandlung infolge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine aktuell in Russland jene Personen zu gewärtigen haben, die dort aufgrund ihrer Herkunft als der Ukraine zugehörig und ethnisch als Ukrainer eingestuft werden, auch wenn sie über die russische Staatsangehörigkeit verfügen, hat das Bundesverwaltungsgericht nicht getroffen. Aus den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur Lage in Russland lässt sich nicht in schlüssiger Weise ableiten, dass das Vorbringen der Revisionswerberin unzutreffend wäre. Auch der Umstand, dass sich die Revisionswerberin zu früheren Zeiten unbehelligt in Russland aufgehalten hatte, gibt im vorliegenden Fall keinen Aufschluss darüber, wie sich aktuell im Gefolge des bereits länger anhaltenden Krieges die Lage jener Personen in Russland darstellt, die als der Ukraine zugehörig eingestuft werden.
15 Vor dem Hintergrund, dass nach dem Gesagten der entscheidungswesentliche Sachverhalt für eine dem Gesetz entsprechende Beurteilung ergänzungsbedürftig war, war es zudem nach dem hier maßgeblichen ersten Tatbestand des § 21 Abs. 7 BFA VG nicht zulässig, von der Durchführung der beantragten Verhandlung Abstand zu nehmen (vgl. zu den diesbezüglichen Voraussetzungen ausführlich VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018; aus jüngerer Zeit dem folgend etwa VwGH 8.8.2023, Ra 2023/19/0044, mwN).
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze, weil die vom Ausspruch über die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten abhängenden Aussprüche ihre rechtliche Grundlage verlieren gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 25. Oktober 2023