JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0311 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
24. April 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des B T (auch S B T oder S B), vertreten durch Mag. Thomas Klein, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Kärntner Straße 7B/2. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Mai 2022, L531 2251667 1/10E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 28. Mai 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Rahmen der Erstbefragung zunächst damit begründete, sein Haus sei zerstört worden und er wolle genug Geld verdienen, um für seine Mutter und Schwester, die sich derzeit in einem Flüchtlingslager aufhalten würden, eine Unterkunft zu besorgen. In der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gab er zu seinem Fluchtgrund befragt an, von den Terroristen des Islamischen Staates (IS), die ihn entführt und aufgefordert hätten, mit ihnen zu kämpfen, geflohen zu sein.

2 Mit Bescheid vom 12. Jänner 2022 wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).

3 In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt und unter anderem vorgebracht, dass sich das BFA mit der vorgebrachten Entführung durch den IS nicht auseinandergesetzt habe.

4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG aus, dass das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Zum einen habe er seine Ausreisegründe zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA „völlig ausgetauscht“ und unterschiedliche Sachverhalte geschildert. Zur vorgebrachten Entführung durch den IS führte das BVwG beweiswürdigend unter anderem aus, dass die Beschreibung seiner neunmonatigen Gefangenschaft äußerst allgemein gehalten und er nicht in der Lage gewesen sei, seine Uniform und die Waffe zu beschreiben.

6 Der Verfassungsgerichtshof hat die Behandlung der Beschwerde des Revisionswerbers gegen dieses Erkenntnis mit Beschluss vom 28. Juni 2023, E 1763/2022 8, abgelehnt und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

7 In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision erhoben, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

8 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit mit näheren Ausführungen insbesondere vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe.

9 Die Revision erweist sich als zulässig und auch berechtigt.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

11 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 30.6.2023, Ra 2022/19/0318, mwN).

12 Diesen Grundsätzen hat das BVwG nicht entsprochen:

13 Im gegenständlichen Fall ergänzte das BVwG die Beweiswürdigung des BFA im Hinblick auf das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers nicht nur unwesentlich indem es sich dabei unter Bezugnahme auf das Beschwerdevorbringen mit dem Vorbringen des Revisionswerbers zur Entführung durch Soldaten des IS befasste. Auch setzte sich das BVwG mit dem Beschwerdevorbringen, wonach das „niedrige Ausbildungsniveau“ als weiterer Grund für die Widersprüche angeführt worden sei, beweiswürdigend auseinander. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen. Vor diesem Hintergrund lag kein Fall im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG vor, der ein Absehen von der beantragten Verhandlung ermöglichte (vgl. VwGH 26.9.2023, Ra 2023/19/0088, mwN).

14 Anzumerken ist im Übrigen, dass weder das BFA noch das BVwG Feststellungen zur aktuellen Sicherheitslage in der Herkunftsregion des Revisionswerbers trafen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass das zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung aktuelle Länderinformationsblatt (LIB) zum Irak im Entscheidungszeitpunkt des BVwG nicht mehr aktuell war, dennoch nahm das BVwG Abstand von der Heranziehung der aktuellen Version des LIB.

15 Es lagen somit insgesamt entgegen der Annahme des BVwG die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im (hier vorliegenden) Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH 30.6.2023, Ra 2022/19/0318, mwN).

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesen Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 24. April 2024

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