Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision des S A F, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2023, W279 2109592 2/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein der Volksgruppe der Hazara und dem schiitischen Glauben zugehöriger Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 13. Oktober 2013 seinen ersten Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Erkenntnis vom 9. Oktober 2015 erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dem Revisionswerber im Beschwerdeverfahren gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Mai 2015 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung und erklärte die Revision für nicht zulässig. Den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten zog der Revisionswerber nach Durchführung der mündlichen Verhandlung zurück.
3 Am 2. März 2022 stellte der Revisionswerber einen Folgeantrag auf internationalen Schutz.
4 Mit Bescheid vom 3. Oktober 2022 wies das BFA diesen Antrag ab.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, weil die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Unrecht unterblieben sei.
8 In Hinblick auf diese Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und auch als begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 30.6.2023, Ra 2022/19/0318, mwN).
11 Schließt sich das BVwG nicht nur der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass es die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2023/19/0044, mwN).
12 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
13 Das BFA begründete das Nichtvorliegen einer asylrelevanten Verfolgung im Wesentlichen damit, dass der subsidiär schutzberechtigte Revisionswerber keine neuen Fluchtgründe geltend gemacht habe, sondern den Antrag ausschließlich gestellt habe, um denselben Schutzstatus, der seiner asylberechtigten Ehefrau und seinen asylberechtigten Kindern zukomme, zu erlangen. Eine Zuerkennung im Familienverfahren sei jedoch mangels erfüllter Familienangehörigeneigenschaft im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 nicht zulässig.
14 Der Revisionswerber brachte daraufhin in seiner Beschwerde unter Zitierung aktueller Länderberichte zusammengefasst vor, dass sich die Lage für Angehörige der Volksgruppe der Hazara mit der Machtübernahme durch die Taliban wesentlich geändert habe und diese einer Bedrohung ausgesetzt seien. Dem Revisionswerber sei daher der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
15 Der Revisionswerber hat damit in seiner Beschwerde einen neuen Sachverhalt vorgebracht. Das BVwG unterzog dieses Vorbringen nach Auseinandersetzung mit Länderberichten zur Situation der Hazara in Afghanistan auch einer eigenen Würdigung. Das BVwG hat damit die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen des BFA nicht bloß unwesentlich ergänzt.
16 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht des BVwG in Asylsachen auch, dass die Aktualisierung der Länderfeststellungen durch das Verwaltungsgericht, die eine zusätzliche Beweiswürdigung erfordert, grundsätzlich nur nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgen darf (vgl. VwGH 18.11.2021, Ra 2021/18/0286, mwN).
17 Das BVwG legte dem angefochtenen Erkenntnis das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) zu Afghanistan vom 9. März 2023 zu Grunde, während die Feststellungen des BFA noch auf eine Version des LIB aus dem Jahr 2021 basieren. Das BVwG nahm somit eine Aktualisierung der Länderfeststellungen vor.
18 Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung lagen daher nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des (wie hier gegeben) Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH 8.8.2023, Ra 2023/19/0044, mwN).
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
20 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 6. Oktober 2023