Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision 1. des A A und 2. des S A, beide vertreten durch Dr. Markus Boesch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stadiongasse 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Mai 2023, 1. W161 2256187 1/3E und 2. W161 2256188 1/3E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Die Revisionswerber sind syrische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber ist der Vater des minderjährigen Zweitrevisionswerbers. Der Erstrevisionswerber stellte sich und für den Zweitrevisionswerber am 27. Mai 2021 Anträge auf internationalen Schutz, die er damit begründete, dass der Erstrevisionswerber seine berufliche Tätigkeit in einem Ministerium aufgrund von Rekrutierungsversuchen durch das syrische Regime aufgeben habe müssen und nun als Verräter angesehen werde.
2 Mit den Bescheiden vom 20. Mai 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber hinsichtlich des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihnen im Familienverfahren den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen je eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobene Beschwerde der Revisionswerber wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
5 Die Revision bringt zur Darlegung ihrer Zulässigkeit mit näherer Begründung unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe.
6 In Hinblick auf dieses Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und auch als begründet.
7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
8 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 6.10.2023, Ra 2023/19/0279, mwN).
9 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
10 Das BFA sah das Bestehen einer asylrelevanten Verfolgung der Revisionswerber in ihrem Herkunftsstaat als nicht maßgeblich wahrscheinlich an und führte dazu unter anderem aus, dass das Vorbringen des Erstrevisionswerbers, eine Verfolgung durch das syrische Regime zu gewärtigen, nicht glaubhaft sei, weil es vermehrten Kontakt mit den syrischen Behörden u.a. hinsichtlich Eintragungen im Familienbuch gegeben habe, was gegen eine asylrelevante Verfolgung spräche.
11 Die Revisionswerber hielten den Erwägungen des BFA in ihrer Beschwerde mit näheren Ausführungen die Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens entgegen und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Überdies sei ein persönlicher Kontakt mit den syrischen Behörden weder erfolgt, noch notwendig gewesen.
12 Weiters haben die Revisionswerber in ihrer Beschwerde den vom BFA festgestellten Sachverhalt nicht bloß unsubstantiiert bestritten, indem sie vorbrachten, dass ihnen (entgegen den behördlichen Feststellungen) auf Grund der näher begründeten Aufgabe der Tätigkeit des Erstrevisionswerbers in einem Ministerium Verfolgung drohe.
13 Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG konnte im vorliegenden Fall aufgrund des substantiierten Bestreitens der Feststellungen des BFA nicht die Rede sein, weshalb die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vorlagen.
14 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des wie hier gegeben Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 10.4.2024, Ra 2024/19/0055, mwN).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
16 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
17 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil ein weiterer Aufwandersatz unter dem Titel eines ERV Zuschlags und der Umsatzsteuer nicht vorgesehen ist (vgl. VwGH 21.4.2022, Ra 2021/19/0403, mwN).
Wien, am 12. Juni 2024