JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0088 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. September 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision der G G, vertreten durch Dr. Paul Wuntschek, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Neubaugasse 24, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2023, L518 2214450 2/4E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberin, eine armenische Staatsangehörige, stellte am 2. September 2018 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete sie unter anderem damit, dass ihre Krankheit in Armenien nicht behandelbar sei.

2 Mit Bescheid vom 14. Jänner 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin zur Gänze ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei, erkannte einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 11. Jänner 2022 ab und legte eine Frist für ihre freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4 Am 2. Juni 2022 stellte die Revisionswerberin den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz.

5 Mit Bescheid vom 12. Dezember 2022 wies das BFA diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurück und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab. Das BFA erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei, und legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

6 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem Erkenntnis vom 1. Februar 2023 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

In der Begründung führte das BVwG aus, dass es der Revisionswerberin nicht gelungen sei, zulässige neue Gründe darzutun, die eine allenfalls in ihrer Person gelegene individuelle Bedrohung begründen könnten. Es liege dem Vorbringen somit kein „glaubhafter Kern“ zu Grunde.

In der Beschwerde sei kein substantiiertes bzw. glaubhaftes Vorbringen zu einer etwaig geänderten Lage im Herkunftsstaat erstattet worden. Weder aus dem Vorbringen der Revisionswerberin noch aus dem sonstigen Ermittlungsergebnis hätte sich ein Hinweis ergeben, dass neue subsidiäre Schutzgründe vorlägen.

Im Lichte der Berichtslage bestünde kein Hinweis, dass die Revisionswerberin vom Zugang zu medizinischer Versorgung in Armenien ausgeschlossen wäre und ihre Krankheit nicht behandelbar wäre. Auch faktische Hindernisse, die das Fehlen eines Zugangs zur medizinischen Versorgung aus in der Person der Revisionswerberin gelegenen Umständen belegen würden, seien nicht hervorgekommen.

Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, dass im vorliegenden Fall keine Ermittlungsmängel vorlägen.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG habe in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revisionswerberin habe vorgebracht, dass sie bei einer Rückkehr nach Armenien keinerlei Unterstützung durch ihre Familie zu erwarten hätte. Sie wäre finanziell nicht in der Lage, für das laufend benötigte Insulin und das Zuckermessgerät aufzukommen. Die Revisionswerberin habe mittlerweile die ärztliche Diagnose „cyclic vomiting syndrome“ auf Grund einer Migräne Grunderkrankung erhalten. Diese Erkrankung habe bereits eine Magenpassagestörung nach sich gezogen. Dazu sei von der Revisionswerberin ein fachärztlicher Befund vorgelegt worden. In der Beschwerde werde aufgezeigt, dass eine unterbliebene Behandlung binnen weniger Wochen zu schwerwiegenden und irreparablen Folgeerkrankungen bis hin zum Tod führen könne.

Das BVwG wäre aber auch angesichts der ergänzend vorgenommenen, nicht bloß unwesentlichen Beweiswürdigung verpflichtet gewesen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Es hätte zumindest in Bezug auf die Gewährung subsidiären Schutzes nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen dürfen.

9 In Hinblick auf dieses Vorbringen erweist sich die Revision als zulässig und aus nachstehenden Erwägungen auch als berechtigt.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 30.6.2023, Ra 2022/19/0318, mwN).

11 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:

12 Das BFA erachtete die Krankheiten der Revisionswerberin in Armenien als behandelbar und ging davon aus, dass die Revisionswerberin Zugang zum armenischen Gesundheitssystem habe. Es sei ihr zumutbar, sich weiterhin in Armenien behandeln zu lassen und sie könne von ihren Angehörigen unterstützt werden.

13 Wie die Revision zutreffend aufzeigt, trat die Revisionswerberin diesen behördlichen Feststellungen substantiiert entgegen und erstattete in ihrer Beschwerde vom 10. Jänner 2023 ein ergänzendes Vorbringen betreffend ihren Gesundheitszustand und ihre finanziellen Kapazitäten zum Erwerb der notwendigen Medikamente in Armenien.

14 Das BVwG unterzog dieses Vorbringen auch einer eigenen Würdigung. So vermutete das BVwG etwa unter Verweis auf den armenischen Kulturkreis und die Ausführungen der Revisionswerberin zu ihrer Familiengeschichte, dass es nicht glaubhaft sei, dass ihre Familie sie nicht mehr unterstützen wolle. Damit ergänzte es den angefochtenen Bescheid um tragende Erwägungen.

15 Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen. Auch vor diesem Hintergrund lag kein Fall im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG vor, der ein Absehen von der beantragten Verhandlung ermöglichte (vgl. VwGH 21.4.2022, Ra 2021/19/0403, mwN).

16 Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung lagen (entgegen der Annahme des BVwG) somit nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des (wie hier gegeben) Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 16.4.2021, Ra 2020/19/0305, mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. September 2023

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