Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der N M, vertreten durch Mag. Andrea Maria Futterknecht, Rechtsanwältin in 1090 Wien, Garnisongasse 11/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Oktober 2023, W186 2250712 1/11E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Somalias, stellte am 14. Juli 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, den sie im Wesentlichen damit begründete, dass sie in ihrem Heimatland von einer Zwangsehe bedroht gewesen sei. Ihr Vater habe sie gegen ihren Willen mit einem viel älteren Mann verheiraten wollen.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 9. Dezember 2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Das BVwG legte seiner Entscheidung soweit für das Revisionsverfahren von Relevanz folgende Sachverhaltsfeststellungen zugrunde:
Die Revisionswerberin sei vor ihrer Ausreise aus Somalia nicht von ihrem Vater zwangsverheiratet worden. Im Falle ihrer Rückkehr verfüge sie in ihrem Heimatdorf über männliche familiäre Anknüpfungspunkte, weshalb es nicht hinreichend wahrscheinlich sei, dass sie Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt und gegen ihren Willen zwangsverheiratet werde.
5 Beweiswürdigend führte das BVwG aus, die Revisionswerberin habe in zentralen Punkten widersprüchliche und gesteigerte Annahmen gemacht, die auch mit den Länderinformationen nicht im Einklang stünden: Während sie im Zuge ihrer Einvernahme vor dem BFA angegeben habe, ihr Vater habe sie mit einem älteren Mann zwangsverheiraten wollen, woraufhin sie geflüchtet sei, habe sie in der Verhandlung vor dem BVwG ihr Vorbringen gesteigert und erstmals erklärt, ihr Vater wolle sie töten, da sie sich der Zwangsheirat widersetzt habe. Diese Ausführungen stünden jedoch im Widerspruch zu den Länderinformationen der Staatendokumentation zu Somalia, wonach es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten hätten, gebe. Zudem habe sich die Revisionswerberin hinsichtlich ihrer Fluchtroute in „massive Widersprüche“ verstrickt, was sich ebenfalls negativ auf ihre persönliche Glaubwürdigkeit auswirke. Denn selbst unter Berücksichtigung ihres geringen Bildungsstandes sei es ihr zumutbar, den Unterschied zwischen einem gewöhnlichen Auto, einem Taxi und einem Bus, der an verschiedenen Haltestellen stehen bleibe und unterschiedliche Leute befördere, zu kennen und dies dementsprechend zu benennen. Auch sei es hinsichtlich der zeitlichen Einordnung der vermeintlich fluchtauslösenden Ereignisse zu Ungereimtheiten, ob sie ihr Heimatdorf im Dezember 2020 oder im Jänner 2021 verlassen habe, gekommen. Daraus zog das BVwG weiters den Schluss, die Revisionswerberin sei vor ihrer Ausreise nicht von ihrem Vater zwangsverheiratet worden, weshalb auch den weiteren Ausführungen im Zuge ihrer Einvernahme vor dem BFA, wonach ihre Mutter nach ihrer Ausreise von ihrem Vater in Mogadischu bei ihrem Onkel gefunden und geschlagen worden sei, da sie der Revisionswerberin bei der Ausreise geholfen habe, kein Glauben zu schenken sei.
6 Rechtlich bedeute dies, dass die Revisionswerberin keine drohende asylrelevante Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat Somalia habe glaubhaft machen können.
7 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe notwendige Ermittlungsschritte unterlassen und entgegen näher angeführter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die amtswegige Ermittlungspflicht nicht berücksichtigt. Die Länderinformationen der Staatendokumentation hielten fest, dass gegen Frauen, die sich weigerten, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, mitunter auch Gewalt angewendet werde. Auch ergebe sich aus dem „Factsheet Somalia“, dass Frauen, die sich z.B. einer Zwangsehe mit einem Milizionär widersetzen oder entziehen würden, mit schweren Bestrafungen bis hin zur Tötung rechnen müssten. Das BVwG hätte sich im vorliegenden Fall daher nicht auf die Pauschalangabe, Somalia habe keine Tradition von Ehrenmorden, zurückziehen dürfen, sondern hätte stattdessen konkret jene Konsequenzen zu ermitteln gehabt, die Frauen in Somalia drohen würden, wenn sie sich einer Zwangsheirat widersetzten. Auf Basis solcher Ermittlungen wäre das BVwG zum Ergebnis gekommen, dass diesen Frauen in Somalia Gewalt drohe und damit eine asylrelevante Verfolgung vorliege, die zur Gewährung von internationalem Schutz geführt hätte. Aus nicht vollkommen identen Schilderungen der Fluchtroute könne ebenfalls keine Unglaubwürdigkeit hergeleitet werden, fehle der Revisionswerberin doch jegliche Ausbildung. Zudem gehe das BVwG davon aus, lediglich ein Widerstand und eine Flucht nach einer bereits erfolgten Zwangsheirat seien asylrechtlich bedeutsam. Tatsächlich habe allerdings auch die geplante Zwangsheirat asylrechtliche Relevanz, weil auch diese eine geschlechtsspezifische Verfolgung als Angehörige einer „bestimmten Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention“ darstelle. Im Übrigen stelle sich im konkreten Fall die Frage, ob es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten nicht bereits hinreichend sei, dass eine Frau im Herkunftsstaat insbesondere von näher aufgezählten Maßnahmen allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen sei, weshalb die Aussetzung des Revisionsverfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 (unter Hinweis auf VwGH 14.9.2022, Ra 2021/20/0425, und VwGH 14.9.2022, Ra 2022/20/0028) angeregt werde.
8 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 29.8.2023, Ra 2022/18/0193, mwN). Nach der höchstgerichtlichen Judikatur verlangt eine schlüssige Beweiswürdigung, dass das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 10.8.2022, Ra 2022/18/0012, mwN).
11 Im gegenständlichen Fall weist die Revision zutreffend darauf hin, dass die Einschätzung des BVwG, der Revisionswerberin drohe bei Rückkehr in den Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung, da sie vor ihrer Ausreise nicht von ihrem Vater zwangsverheiratet worden sei, nur mangelhaft begründet wurde.
12 Zwar enthalten die Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses im Abschnitt „Arrangierte Ehe / Zwangsehe“ der zitierten Länderinformationen der Staatendokumentation zu Somalia (Stand 17.3.2023, Version 5) die vom BVwG zur Begründung der mangelnden Glaubwürdigkeit des Vorbringens der Revisionswerberin auszugsweise herangezogene Passage: „In Somalia gibt es keine Tradition sogenannter Ehrenmorde im Sinne einer akzeptierten Tötung von Frauen, welche bestimmte soziale Normen überschritten haben - z. B. Geburt eines unehelichen Kindes ... Ein uneheliches Kind wird allerdings als Schande für die ganze Familie der Frau erachtet. Mutter und Kind werden stigmatisiert, im schlimmsten Fall werden sie von der Familie verstoßen ...“
13 Dies allein lässt aber nicht den Schluss zu, dass der Revisionswerberin keine asylrelevante Verfolgung wegen der von ihr befürchteten Zwangsverheiratung drohe, führen doch die Länderfeststellungen im zitierten Abschnitt des angefochtenen Erkenntnisses außerdem aus: „Der Übergang von arrangierter zur Zwangsehe ist fließend. Bei Ersterer liegt die mehr oder weniger explizite Zustimmung beider Eheleute vor, wobei hier ein unterschiedliches Maß an Druck ausgeübt wird. Bei der Zwangsehe hingegen fehlt die Zustimmung gänzlich oder nahezu gänzlich ... Frauen und viele minderjährige Mädchen werden zur Heirat gezwungen ... Nach Angaben einer Quelle sind Zwangsehen in Somalia normal ... Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt eine von fünf Frauen an, zur Ehe gezwungen worden zu sein; viele von ihnen waren bei der Eheschließung keine 15 Jahre alt ... Und manche Mädchen haben nur in eine Ehe eingewilligt, um nicht von der eigenen Familie verstoßen zu werden ... Es gibt keine bekannten Akzente der Bundesregierung oder regionaler Behörden, um dagegen vorzugehen. Außerdem gibt es kein Mindestalter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr ... Gegen Frauen, die sich weigern, einen von der Familie gewählten Partner zu ehelichen, wird mitunter auch Gewalt angewendet. Das Ausmaß ist unklar, Ehrenmorde haben diesbezüglich in Somalia aber keine Tradition ... Vielmehr können Frauen, die sich gegen eine arrangierte Ehe wehren und/oder davonlaufen, ihr verwandtschaftliches Solidaritätsnetzwerk verlieren ...“ Zusätzlich beinhaltet das vom BVwG zwar festgestellte, aber in die Würdigung des Vorbringens der Revisionswerberin nicht einbezogene Dokument „EUAA Country Guidance Somalia“, Stand August 2023, die folgende Aussage: „Wenn sich eine Frau der Ehe widersetzt, kann dies zu Konsequenzen führen, wie etwa zur Verbannung von der nomadischen Gemeinschaft oder der Verweigerung des Sorgerechts für Kinder bzw. des Eigentums.“
14 Ausgehend davon ist es nicht nachvollziehbar, weshalb sich das BVwG im gegenständlichen Fall nicht mit den der Revisionswerberin bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat drohenden Folgen aufgrund ihrer vorgebrachten Weigerung, den vom Vater für sie gewählten Partner zu ehelichen, auseinandergesetzt hat. So kann auf der Basis der zitierten Länderfeststellungen weder angenommen werden, dass der von der Revisionswerberin geschilderte familiäre Zwang nicht vorliegen könne, noch lässt sich ausschließen, dass der Vater der Revisionswerberin in diesem Zusammenhang auch die Ermordung angedroht habe. Ebenso wenig ist ersichtlich, warum das BVwG sich mit der gemäß der Berichtslage möglichen Konsequenz des Verstoßes aus der Familie bzw. der Gemeinschaft nicht näher beschäftigt hat.
15 Die Revision zeigt weiters zu Recht auf, dass das BVwG im Ergebnis ausschließlich die Frage geprüft (und dazu Feststellungen getroffen) hat, ob die Revisionswerberin in Somalia zwangsverheiratet worden und sodann geflohen sei. Die Revisionswerberin hat im Verfahren vor dem BFA und dem BVwG aber jeweils ausdrücklich vorgebracht, aufgrund einer drohenden Zwangsverheiratung ihr Heimatland verlassen zu haben (vgl. Seite 4 der Niederschrift der Verhandlung vor dem BVwG: „R: Haben Sie diesen Mann geheiratet? BF: Nein, ich flüchtete, bevor ich verheiratet wurde ...“; sowie Seite 4 des Bescheides des BFA: „LA: Wie ist ihr Familienstand? VP: Ledig, ich wurde aber einem Mann versprochen und deshalb bin ich geflüchtet.“).
16 Eine schlüssige und nachvollziehbar begründete Beweiswürdigung im Sinne der angeführten Rechtsprechung hätte es erfordert, sich mit diesem für den Asylantrag zentralen Vorbringen der Revisionswerberin näher zu beschäftigen und es an den dafür konkret heranzuziehenden Länderfeststellungen zu messen, was das BVwG unterlassen hat. Stattdessen stützte das BVwG die Beurteilung der mangelnden Glaubwürdigkeit der Revisionswerberin auch auf geringfügige Ungereimtheiten zur zeitlichen Einordnung der Flucht und auf vom BVwG als „massiv“ gewertete Widersprüche hinsichtlich des für die Flucht aus ihrem Heimatort genutzten Verkehrsmittels und damit auf Aspekte, die den geltend gemachten Fluchtgrund der Revisionswerberin die ihr drohende Zwangsehe nicht unmittelbar betreffen und daher für die entscheidenden Fragen des Falles nur geringen Beweiswert haben.
17 Es ist auch nicht auszuschließen, dass bei mangelfreier Beweiswürdigung ein für die Revisionswerberin günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, hat der EuGH doch erst jüngst ausgesprochen, dass Frauen, die eine Zwangsehe ablehnen, in einer Gesellschaft, in der eine solche Praxis als eine soziale Norm angesehen werden kann, als Teil einer sozialen Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität in ihrem Herkunftsstaat angesehen werden können, wenn sie aufgrund solcher Verhaltensweisen stigmatisiert werden und der Missbilligung durch die sie umgebende Gesellschaft ausgesetzt sind, was zu ihrem sozialen Ausschluss oder zu Gewaltakten führt (vgl. EuGH 16.1.2024, C 621/21, WS, Rn. 58).
18 Aufgrund dieser wesentlichen Begründungsmängel war das angefochtene Erkenntnis schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.
19 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
20 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. Mai 2024