JudikaturVwGhRa 2023/18/0443

Ra 2023/18/0443 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, die Hofräte Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 26. September 2023 mündlich verkündete und am 17. Oktober 2023 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L508 2266091 1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M A, vertreten durch Ing. Johannes Kerbl, LL.M. (WU), Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwarzenbergstraße 1 u. 3/8), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Der Mitbeteiligte, ein pakistanischer Staatsangehöriger der paschtunischen Volksgruppe, beantragte am 9. März 2022 internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund brachte er vor, aufgrund einer unerlaubten Beziehung zu einer Frau von Mitgliedern ihrer Familie angeschossen, geschlagen und mit dem Tode bedroht worden zu sein.

2 Mit Bescheid vom 29. November 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei, legte keine Frist für die freiwillige Ausreise fest, erkannte einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab und erließ gegen den Mitbeteiligten ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot.

3 Der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, erkannte ihm den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte habe eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen geführt, dessen Familie aufgrund von Standesunterschieden gegen die Beziehung gewesen sei. Auf dem Weg zum Standesamt seien die beiden vom Bruder des Mädchens und zwei weiteren Personen körperlich attackiert worden. Der Mitbeteiligte habe eine Schussverletzung an der rechten Hand erlitten und es seien ihm fünf Zähne ausgeschlagen worden. Bis zu seiner Ausreise habe sich der Mitbeteiligte bei einer Verwandten versteckt. Seine Freundin sei wegen Ehrverletzung von ihrer Familie ermordet worden. Bei dieser Familie handle es sich um einen einflussreichen, wohlhabenden Clan.

5 Der Mitbeteiligte habe somit glaubhaft gemacht, dass er durch die unerlaubte Beziehung die Ehre der Familie seiner Freundin verletzt habe, die deshalb von ihrer Familie auch getötet worden sei. Im Fall einer Rückkehr nach Pakistan drohe ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine asylrelevante Verfolgung, die in einer „Mischlage“ aus ethnischen Aspekten (Zugehörigkeit zur paschtunischen Ethnie und Anwendbarkeit des Gewohnheitsrechts Paschtunwali) und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von Blutrache infolge von Ehrverletzung (Ehrenmord) bedrohten Personen begründet sei. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht.

6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen geltend macht, das BVwG habe in mehrfacher Weise die Rechtslage verkannt. Das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es das Vorliegen einer sozialen Gruppe im konkreten Fall pauschal angenommen habe, ohne auf die kumulativen Voraussetzungen der unveränderbaren Merkmale und der deutlich abgegrenzten Identität aufgrund der „Andersartigkeit“ einzugehen. Hinzu komme, dass der Mitbeteiligte der „unmittelbare Täter“ sei, das heißt, er werde nicht wegen der Zugehörigkeit zur eigenen Familie verfolgt, sondern weil er selbst die Ehrverletzung begangen habe (Verweis auf VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011).

7 Der Mitbeteiligte hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig und begründet.

9 Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht (vgl. etwa VwGH 2.2.2023, Ro 2022/18/0002, mwN).

10 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinne dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann“ oder „Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung“ teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der als sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. jüngst EuGH 16.1.2024, Rs C 621/21, WS , Rn. 40; vgl. etwa auch VwGH 11.12.2023, Ra 2022/19/0209, mwN und VwGH 28.5.2020, Ra 2019/18/0421, mwN).

11 Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen bzw. zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung (vgl. wiederum VwGH 11.12.2023, Ra 2022/19/0209, mwN und VwGH 28.5.2020, Ra 2019/18/0421, mwN).

12 Das BVwG hat die zitierten Voraussetzungen für die Annahme einer sozialen Gruppe im angefochtenen Erkenntnis zwar erwähnt, im Folgenden aber nicht überzeugend dargelegt, dass diese Voraussetzungen fallbezogen gegeben wären.

13 So bezieht es sich in seiner rechtlichen Argumentation zunächst auf höchstgerichtliche Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte, in denen Fälle der Blutrache an Familienangehörigen eines Täters dem Konventionsgrund der sozialen Gruppe zugerechnet wurden.

14 Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass die Übertragung der zur Blutrache ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf den gegenständlichen Fall schon daran scheitert, dass der Revisionswerber nicht wegen seiner Familienangehörigkeit verfolgt wird, sondern er selbst von den Verfolgern (den Angehörigen seiner ermordeten Freundin) als Verletzer der Familienehre angesehen wird (vgl. etwa VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011, mwN). Ein Konnex derartiger „Racheakte“ gegen seine Person zu den Fluchtgründen der GFK wird vom BVwG daher nicht nachvollziehbar dargetan.

15 Daran ändert auch nichts, dass das BVwG neben der „Familie“ auch die Ethnie des Revisionswerbers als möglichen Konventionsgrund in Betracht zieht. Dass der Revisionswerber aufgrund seiner ethnischen Herkunft verfolgt würde, vermag das BVwG nicht nachvollziehbar darzutun. Der ethnische Hintergrund des Revisionswerbers als Paschtune wird vom BVwG nur insoweit ins Spiel gebracht, als die drohende Verfolgung wegen Ehrverletzung ihre Ursache (auch) im paschtunischen Ehrenkodex Paschtunwali haben soll. Dass dieser Ehrenkodex unter Paschtunen nach den Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis noch immer eine bedeutende Rolle spielt, mag zwar zutreffen, macht aber deshalb stattfindende Gewaltakte gegen den Revisionswerber noch nicht zu einer ethnischen Verfolgung seiner Person. Den Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses ist nicht zu entnehmen, dass die Verfolger die Ehrverletzung gegenüber Personen, die keine Paschtunen seien, nicht ahnden würden. Der Ehrenkodex gilt danach für jeden, der in einem Siedlungsgebiet der Paschtunen lebe, womit der ethnischen Herkunft des Verfolgten insoweit keine entscheidende Bedeutung zukommt.

16 Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob Fälle der Blutrache an einem Familienangehörigen dem Konventionsgrund der sozialen Gruppe auch im Lichte der Statusrichtlinie zugeordnet werden können, Gegenstand eines anhängigen Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH zu C 217/23 (VwGH 28.3.2023, EU 2023/0001, Ra 2022/20/0289) ist. Aus den oben angeführten Gründen sind die dort gestellten Fragen für die Revisionssache jedoch nicht von Relevanz und es braucht der Ausgang dieses Vorabentscheidungsverfahrens somit nicht abgewartet werden.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 29. Februar 2024

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