JudikaturVwGH

Ra 2023/11/0140 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. März 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm und den Hofrat Dr. Faber sowie die Hofrätin Dr. in Oswald als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Janitsch, über die Revision des C N in W, vertreten durch Dr. Johannes Schuster und Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwälte in 1020 Wien, Praterstern 2/1. DG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. August 2023, Zl. W173 2271066 1/4E, betreffend Zusatzeintragung in den Behindertenpass nach dem BBG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 1.1. Über Antrag des Revisionswerbers stellte die belangte Behörde diesem am 7. März 2019 einen Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50% und der Zusatzeintragung „Der Inhaber/die Inhaberin kann die Fahrpreisermäßigung nach dem Bundesbehindertengesetz in Anspruch nehmen“ aus.

2 Ein vom Revisionswerber gestellter Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ wurde im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Februar 2020 abgewiesen.

3 1.2. Am 19. September 2022 beantragte der Revisionswerber erneut die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ in den Behindertenpass.

4 Die belangte Behörde holte ein medizinisches Sachverständigengutachten ein. Der Sachverständige Dr. K., ein Facharzt für Unfallchirurgie und Arzt für Allgemeinmedizin, führte in seinem Gutachten vom 17. Februar 2023 soweit im Revisionsfall von Interesse aus, der Revisionswerber leide an einer äußeren Instabilität des rechten Sprunggelenkes, es bestünden aber weder erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten noch erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit. Der Sachverständige kam zu dem Schluss, dass eine kurze Wegstrecke mit einem Aktionsradius von rund 10 Minuten entsprechend einer Entfernung von rund 300 bis 400 Metern ohne übermäßige Schmerzen und ohne Unterbrechung zumutbar und möglich sei. Gehbehelfe seien nicht erforderlich. Eine Sprunggelenksbandage bzw. knöchelhohe Schuhe seien ausreichend.

5 Dazu erstattete der Revisionswerber eine Stellungnahme und brachte vor, dass seine „Gehstrecke“ massiv eingeschränkt sei, er sich nur mit zwei Stützkrücken fortbewegen könne und ihm dadurch die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unmöglich sei. Zum Beweis legte er das Sachverständigengutachten Dris. R. vom 1. Juni 2022, welches in einem zum damaligen Zeitpunkt vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien anhängigen Verfahren betreffend die Entziehung von Rehabilitationsgeld eingeholt worden war, sowie einen Arztbrief Dris. T. vom 19. August 2021 vor.

6 Im Gutachten Dris. R. vom 1. Juni 2022 diagnostizierte dieser dem Revisionswerber einen Zustand nach ausgedehnter Bandruptur sowie Schmerzen und Instabilität im rechten oberen Sprunggelenk. Der Revisionswerber sei für leichte Arbeiten in überwiegend sitzender Arbeitshaltung, ausgeschlossen an exponierten Stellen im Hocken und Knien, geeignet. Die Anmarschwege seien aber nicht gewährleistet.

7 Dr. T. führte im Arztbrief vom 19. August 2021 aus, das rechte Sprunggelenk des Revisionswerbers sei klinisch komplett instabil, es sei klinisch eine Varisierung von 60 Grad möglich, das Sprunggelenk blockiere teilweise. Der Revisionswerber sei nur mit Knöchelorthese sowie zwei Unterarmstützen und unter Schmerzen gehfähig. Ab einer Gehstrecke von 100 Metern sei er stark eingeschränkt. Derzeit sei die Verwendung eines öffentlichen Verkehrsmittels nur schwer möglich.

8 Zu diesen Gutachten erstattete der Sachverständige Dr. K. mit Schreiben vom 14. März 2023 eine Stellungnahme, in der er zu dem Schluss kam, die Instabilität im Sprunggelenk sei durch festes, knöchelhohes Schuhwerk zu kompensieren. Dann seien auch keine Gehilfen erforderlich. Die Meinung Dris. T. hinsichtlich der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel werde nicht geteilt. Die vom Revisionswerber nachgereichten Befunde seien nicht geeignet, die Einschätzung des Sachverständigen zu entkräften.

9 1.3. Mit Bescheid vom 15. März 2023 wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers gemäß §§ 42 und 45 des Bundesbehindertengesetzes BBG ab.

10 1.4. Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. In der Beschwerde brachte er u.a. vor, dass ihm das Tragen von festen, knöchelhohen Schuhen massive Schmerzen bereite. Der Revisionswerber sei aufgrund der bestehenden Gesundheitsschädigung nicht in der Lage, eine Wegstrecke zur Erreichung eines öffentlichen Verkehrsmittels zurückzulegen und ein öffentliches Verkehrsmittel gefahrlos zu benutzen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit der Verwendung zweier Gehilfen bestehe erhöhte Sturzgefahr bei abruptem Anfahren und Abbremsen eines öffentlichen Verkehrsmittels.

11 2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

12 Das Verwaltungsgericht stellte soweit für das vorliegende Revisionsverfahren relevant fest, der Revisionswerber leide an einer Instabilität des rechten Sprunggelenkes, die die körperliche Belastbarkeit und Beweglichkeit nicht erheblich einschränke. Die Gesamtmobilität sei mit festem, knöchelhohem Schuhwerk ausreichend gegeben, um Wegstrecken von 300 bis 400 Metern ohne übermäßige Schmerzen und Unterbrechungen zurückzulegen, Niveauunterschiede zu überwinden, Haltegriffe zu benützen und sicher ein und auszusteigen. Der sichere Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln sei gewährleistet. Eines weiteren Gehbehelfes bedürfe es nicht. Dem Revisionswerber sei die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar.

13 Beweiswürdigend stützte sich das Verwaltungsgericht auf das Gutachten Dris. K., das es für nachvollziehbar und schlüssig erachtete. Betreffend das vom Revisionswerber vorgelegte Gutachten Dris. R. verwies das Verwaltungsgericht darauf, dass sich dieses Gutachten im arbeits und sozialgerichtlichen Verfahren mit der Frage einer Besserung des Leistungskalküls auseinandersetze, nicht hingegen schwerpunktmäßig mit der Frage der Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel. Dem vom Revisionswerber vorgelegten Arztbrief Dris. T sei die Stellungnahme des Sachverständigen Dr. K. vom 14. März 2023 entgegenzuhalten. Darin führe dieser nachvollziehbar aus, dass die Instabilität des rechten Sprunggelenkes durch festes, knöchelhohes Schuhwerk kompensiert werden könne und damit auch keine Gehhilfe mehr erforderlich sei. Dass die Verwendung von festem, knöchelhohem Schuhwerk mit massiven Schmerzen verbunden wäre, gehe aus den vom Revisionswerber vorgelegten Unterlagen nicht hervor.

14 Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht, dass die festgestellten dauernden Gesundheitsschädigungen des Revisionswerbers nicht ein Ausmaß erreichen würden, das die Eintragung des Zusatzes „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ iSd des § 42 Abs. 1 BBG iVm § 1 Abs. 4 Z 3 der Verordnung über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen rechtfertigen würde.

15 Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass zur Klärung des maßgebenden Sachverhaltes ein ärztliches Sachverständigengutachten sowie eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen eingeholt worden seien. Die Äußerungen des Sachverständigen seien nachvollziehbar und schlüssig gewesen. Der Sachverhalt sei daher geklärt.

16 3. Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Im vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung.

17 4. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

18 4.1. Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

19 4.2. Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

20 4.3. Das Verwaltungsgericht hat fallgegenständlich die Durchführung einer vom Revisionswerber ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung zu Unrecht nicht für geboten erachtet:

21 4.3.1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in einem Verfahren über die Berechtigung der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung“ unter Einbindung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden zu prüfen, ob der Betroffene dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (siehe etwa VwGH 28.2.2024, Ro 2021/11/0012, mwN).

22 4.3.2. Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens ist keine Frage bloß technischer Natur (siehe etwa VwGH 21.6.2017, Ra 2017/11/0040, mwN).

23 Sowohl dabei als auch bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Einschränkungen des Betroffenen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar erscheinen lassen, ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten (siehe erneut etwa VwGH 21.6.2017, Ra 2017/11/0040, mwN).

24 4.3.3. Das Verwaltungsgericht durfte im vorliegenden Fall schon deswegen nicht davon ausgehen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließe, weil der Revisionswerber der Annahme des Sachverständigen Dr. K. in seiner Stellungnahme vom 14. März 2023, wonach die Instabilität des rechten Sprunggelenkes durch das Tragen festen, knöchelhohen Schuhwerks kompensiert werden könne, mit der Behauptung entgegengetreten ist, dass ihm solches Schuhwerk starke Schmerzen bereite. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung sowie die Auswirkungen der vorgebrachten Schmerzen auf die Fähigkeit des Revisionswerbers, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen, wären unter ergänzender Befragung des Sachverständigen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu klären gewesen.

25 Diesem Ergebnis steht auch das in § 46 dritter Satz BBG festgelegte Neuerungsverbot nicht entgegen. So erachtete der Verfassungsgerichthof das genannte Neuerungsverbot, durch das verhindert werden soll, dass der Behindertenpasswerber im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etwas vorbringt bzw. vorlegt, das nicht bereits Gegenstand des verwaltungsbehördlichen Verfahrens war, im Sinne einer Strukturierung des Verfahrens und der Verfahrensökonomie sowohl im Lichte des Rechtsstaatprinzips als auch des Art. 136 Abs. 2 B VG als gerechtfertigt bzw. erforderlich (vgl. in diesem Zusammenhang auch VwGH 5.9.2023, Ra 2022/11/0204). Dabei ging der Verfassungsgerichtshof vor dem Hintergrund der Gesetzesmaterialien (AB 564 BlgNR 25. GP, 2) davon aus, dass das in § 46 BBG normierte Verbot, neue Tatsachen oder Beweismittel vorzubringen, erst ab der Vorlage der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gilt (VfSlg. 20.515/2021). Dieser Auslegung schließt sich der Verwaltungsgerichtshof an. Schon aus dem Grund, weil der Revisionswerber im vorliegenden Fall bereits im Beschwerdeschriftsatz vorgebracht hatte, das vom Sachverständigen empfohlene Schuhwerk bereite ihm massive Schmerzen, unterlag dieses Vorbringen jedenfalls nicht dem Neuerungsverbot.

26 4.4. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

27 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. März 2025

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