JudikaturVwGH

Ra 2023/08/0034 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Oktober 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des Mag. G H in L, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Jänner 2023, L524 2251173-1/4E, betreffend Zurückweisung eines Vorlageantrags in einer Angelegenheit nach dem AlVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Linz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Bescheid vom 15. Juli 2021 sprach die zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) gemäß § 10 iVm § 38 AlVG aus, dass der Revisionswerber für den Zeitraum 10. Juni 2021 bis 4. August 2021 seinen Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe.

2 Die gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobene Beschwerde wurde vom AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 30. September 2021 abgewiesen.

3 Mit Bescheid vom 9. Dezember 2021 wies das AMS den vom Revisionswerber gestellten Vorlageantrag vom 5. November 2021 zurück.

4 Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde. Er brachte vor, dass ihm die Beschwerdevorentscheidung erst am 25. Oktober 2021 zugestellt worden sei. Die vom AMS zur Begründung der Zurückweisung des Vorlageantrags festgestellte Zustellung durch Hinterlegung am 4. Oktober 2021 sei nicht wirksam erfolgt. Es sei nämlich offenbar kein Benachrichtigungszettel in seinen Postkasten gelegt worden, sodass der Revisionswerber von der Hinterlegung keine Kenntnis erlangt habe. Er habe das AMS bereits mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass es bei ihm Probleme mit der Zustellung von RSa und RSb Briefen gebe. Aus Gründen, die ihm nicht bekannt seien, lege der Postbeamte manchmal den Benachrichtigungszettel nicht im Postkasten ab. Er kreuze zwar jedes Mal am Rückschein an, dass er die Verständigung über die Hinterlegung in die Abgabeeinrichtung eingelegt hätte, sende diesen Rückschein auch an das AMS zurück und hinterlege das Schriftstück bei der Post, vergesse aber, den gelben Benachrichtigungszettel tatsächlich in den Postkasten zu legen. Darauf sei der Revisionswerber erstmals aus Anlass der Zustellung eines anderen Bescheides sowie eines weiteren Schriftstücks des AMS im Sommer 2021 aufmerksam geworden. Der Postbote habe jeweils geläutet, der Revisionswerber habe jedoch nicht öffnen können, ein gelber Zettel sei aber beide Male erst Tage danach im Postkasten gelegen. Ein anderes Mal habe der Postbeamte die Übernahmebestätigung selbst unterschrieben. Auch am 1. Oktober 2021 habe der Postbeamte offensichtlich nicht den Verständigungszettel über die Hinterlegung der Beschwerdevorentscheidung in den Postkasten gelegt. Gleichzeitig hätte dem Revisionswerber ein weiterer RSb Brief des AMS zugestellt werden sollen. Auch bei diesem sei der Verständigungszettel nicht in den Postkasten gelegt worden; in diesem Fall sei aber glücklicherweise keine wichtige Frist versäumt worden. Diese Schilderungen seien starke Hinweise dafür, dass am 1. bzw. 4. Oktober 2021 keine gültige Zustellung erfolgt sei.

5 Das bisher teilweise sehr nachlässige bzw. schlampige Fehlverhalten des Postbeamten lasse es sehr wahrscheinlich sein, dass er am 1. Oktober 2021 keinen gelben Benachrichtigungszettel in den Postkasten des Revisionswerbers gelegt habe, sodass es zu keiner wirksamen Zustellung gekommen sei. Dagegen sei es sehr unwahrscheinlich, dass jemand den Benachrichtigungszettel aus dem Postkasten herausgenommen habe. Dies sei ohne technische Hilfsmittel kaum möglich. Der Revisionswerber habe auch mit allen Bewohnern der Wohnungsanlage ein gutes Auskommen und wisse bei niemandem ein Motiv, warum er den gelben Zettel stehlen solle.

6 Erst durch die neuerliche Zusendung der Beschwerdevorentscheidung am 25. Oktober 2021 sei eine wirksame Zustellung erfolgt.

7 Der Revisionswerber beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab.

9 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die Beschwerdevorentscheidung am 4. Oktober 2021 durch Hinterlegung bei der Post zugestellt worden sei. In der diesbezüglichen Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass am Rückschein einer öffentlichen Urkunde als Zustellversuch der 1. Oktober 2021 und als Beginn der Abholfrist der 4. Oktober 2021 vermerkt seien und dass laut diesem Rückschein eine Verständigung über die Hinterlegung an der Abgabestelle hinterlassen worden sei. Die Schilderungen des Revisionswerbers über das Anläuten des Briefträgers, ohne eine Hinterlegungsanzeige zu hinterlassen, seien (wie das Bundesverwaltungsgericht näher erläuterte) nicht plausibel nachvollziehbar und daher nicht glaubhaft. Es verbleibe nur ein Zustellversuch, bei dem der Revisionswerber laut seinen Angaben keine Hinterlegungsanzeige erhalten habe. Dem stünden vier auch nach den Angaben des Revisionswerbers korrekte Zustellungen im Juni, Juli, August und November 2021 gegenüber. Sämtliche vom Revisionswerber geschilderten Vorkommnisse seien daher insgesamt nicht geeignet, Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zustellvorgangs betreffend die Beschwerdevorentscheidung im Oktober 2021 aufkommen zu lassen. Die bloße Behauptung, von der Post keine Verständigung von der Hinterlegung erhalten zu haben, sei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht geeignet, die gesetzliche Vermutung betreffend die vorschriftsgemäße Zustellung zu widerlegen. Es kämen daher keine berechtigten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Zustellvorgangs auf.

10 Ausgehend von der Zustellung am 4. Oktober 2021 sei der Vorlageantrag aber verspätet gewesen.

11 Von der beantragten mündlichen Verhandlung sah das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ab, „da die Akten erkennen ließen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt“.

12 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

14 Der Revisionswerber macht unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen sei.

15 Dies trifft zu, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.

16 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

17 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes lassen die Akten dann im Sinn des § 24 Abs. 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist der Fall, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wurde und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre. Ein bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalts kann außer Betracht bleiben (vgl. etwa VwGH 17.10.2019, Ra 2016/08/0010, mwN).

18 Gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen gehört es jedoch zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 12.11.2019, Ra 2019/17/0089, mwN).

19 Im vorliegenden Fall hat der Revisionswerber wie oben wiedergegeben umfangreich und substantiiert bestritten, dass eine Verständigung über die Hinterlegung der Beschwerdevorentscheidung in seinen Briefkasten eingelegt worden sei. Dieses Vorbringen war jedenfalls nicht von vornherein ungeeignet, die durch den Zustellnachweis aufgestellte Vermutung zu widerlegen (vgl. allgemein zu den Voraussetzungen dafür etwa VwGH 2.11.2022, Ra 2021/11/0188, mwN).

20 Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher die beantragte mündliche Verhandlung durchführen müssen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass Sache des Verfahrens nur die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des Vorlageantrags war: Denn selbst wenn diese Konstellation der Zurückweisung des verfahrenseinleitenden Antrags oder der Beschwerde gleichzuhalten wäre, sodass im Sinn des § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG ein Ausnahmetatbestand für das Absehen von der Verhandlung erfüllt wäre, wäre die Durchführung der Verhandlung in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens des Verwaltungsgerichts dennoch geboten gewesen, weil für die Rechtzeitigkeit des Rechtsmittels relevante Sachverhaltsfragen zu klären waren (vgl. dazu VwGH 27.4.2023, Ra 2023/21/0049, mwN).

21 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Oktober 2023

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