JudikaturVwGhRa 2023/06/0232

Ra 2023/06/0232 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser sowie die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Bayer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision 1. des G L und 2. der E L, beide in F, beide vertreten durch die hba Held Berdnik Astner Partner Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Karmeliterplatz 4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 6. Oktober 2023, LVwG 50.3 6515/2022 32 und LVwG 50.3 6516/2022 32, betreffend Einwendungen gegen ein Bauvorhaben (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Stadtgemeinde Fehring; mitbeteiligte Parteien: 1. A R und 2. E R, beide in F, beide vertreten durch Mag. Wolfram Schachinger, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Hafengasse 16/4 5; weitere Partei: Steiermärkische Landesregierung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Stadtgemeinde Fehring hat der erstrevisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Bauansuchen vom 22. Juli 2020, modifiziert mit Schreiben vom 17. Mai 2022, beantragten die mitbeteiligten Parteien die Erteilung der Baubewilligung für die Errichtung von je einem Bio Geflügelmaststall, Vormaststall mit 9.600 Hühnern, von je zwei Endmastställen für jeweils 4.800 Hühner pro Stall, für je drei Futtersiloanlagen und von Wegflächen im Gesamtausmaß von ca. 1330 m 2 auf näher bezeichneten Grundstücken der KG J.

2 Die revisionswerbenden Parteien erhoben in der am 17. Mai 2022 durch die belangte Behörde durchgeführten mündlichen Verhandlung Einwendungen gegen das Bauvorhaben.

3 Mit Bescheiden der belangten Behörde jeweils vom 30. Mai 2022 wurde den mitbeteiligten Parteien die beantragten baubehördlichen Bewilligungen unter Vorschreibung von Auflagen erteilt.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark (im Folgenden: Verwaltungsgericht) wurde die dagegen unter anderem von den revisionswerbenden Parteien erhobene Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass gegen diese Entscheidung eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG unzulässig sei.

5 Begründend stellte das Verwaltungsgericht nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens im Wesentlichen fest, dass in den beiden Stallgebäuden insgesamt maximal 28.800 Tiere zeitgleich gehalten werden könnten. Das gegenständliche Bauvorhaben unterliege trotz erhöhter Tierzahlen in den umliegenden relevanten Tierbetrieben nicht der UVP Pflicht. Weiters werden Feststellungen zum Tierbestand der umliegenden Tierbetriebe sowie Feststellungen dazu, mit welchen Auswirkungen auf die revisionswerbenden Parteien durch das beantragte Projekt in Bezug auf eine Belastung durch Geruch, Feinstaub, Ammoniak und Lärm zu rechnen sei.

6 In seiner Beweiswürdigung führte das Verwaltungsgericht dazu aus, dass sich die Feststellungen zur maximal zulässigen Tieranzahl aus dem Betriebskonzept ergebe, welches einen verschränkten Dauerbetrieb der beiden Stallungen vorsehe. Die Tierzahlen der umliegenden Tierhaltungsbetriebe seien aus den jeweiligen Verfahrensakten gerichtlich ermittelt worden. Die Feststellungen zur Immissionssituation betreffend Luftschadstoffe auf die Grundstücke der revisionswerbenden Parteien ergebe sich aus dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des beigezogenen amtlichen Sachverständigen Mag. Dr. B vom 21. August 2023, welches an alle Verfahrensbeteiligten ausgesendet und nicht beanstandet worden sei; es sei lediglich zu einer Rückfrage betreffend die Nichtberücksichtigung der Heimgartensiedlung gekommen. Die Ausführungen zur schalltechnischen Beurteilung ergäben sich aus dem Gutachten der M. GmbH vom 21. April 2022, welches durch den amtlichen Sachverständigen Ing. S. auf gerichtlichen Auftrag hin überprüft worden sei; dieses Gutachten sei an alle Verfahrensbeteiligten ausgesendet und von diesen nur dahingehend beanstandet worden, dass die Weidehaltung nicht berücksichtigt worden sei.

7 In rechtlicher Hinsicht hielt das Verwaltungsgericht zur Einwendung betreffend die Zugrundelegung falscher Tierzahlen im UVP Feststellungsverfahren fest, dass sich dieses Vorbringen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bestätigt habe. Das Ermittlungsverfahren habe aber ergeben, dass die Frage der UVP Pflicht trotz höherer Tierbestände nicht anders zu beurteilen sei. Überdies habe die rechtskräftige Feststellung der UVP Behörde Bindungswirkung im Materienverfahren, sodass das Verwaltungsgericht bei gleichbleibendem Sachverhalt und gleicher Rechtslage daran gebunden sei. Darüber hinaus seien die Auswirkungen durch das gegenständliche Projekt bei den revisionswerbenden Parteien sowohl für den Parameter Geruch als auch in Bezug auf die Luftschadstoffe PM 10 , Gesamtstaub (Deposition) und NH 3 unterhalb der jeweiligen Irrelevanzgrenzen und veränderten die Ist-Situation nicht. Aus diesem Grund sei bei gesunden, normal empfindenden Menschen und Kindern „von keinen erheblichen schädlichen, belästigenden oder belastenden Auswirkungen auf die Umwelt (Schutzgüter Mensch und Luft)“ auszugehen. In schalltechnischer Hinsicht komme es, wie festgestellt, durch das Bauvorhaben nur zu einer geringfügigen Veränderung der örtlichen Verhältnisse mit bis zu +1 dB an Orten in der Nachbarschaft, welche zum ständigen Aufenthalt geeignet seien. An Orten in der Nachbarschaft, bei denen nur ein vorübergehender Aufenthalt gegeben sei, sei mit einer Veränderung um bis zu +3 dB zu rechnen. Die Planungsrichtwerte der Flächenwidmung würden durch das Bauvorhaben somit an allen Beurteilungspunkten eingehalten werden.

8 Sodann legte das Verwaltungsgericht dar, die Verhandlung, welche von keiner Verfahrenspartei beantragt worden sei, habe unterbleiben können, weil die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließe und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehe.

9 Dagegen richtet sich die vorliegende Revision mit dem Begehren, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, in eventu wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben, in eventu in der Sache selbst zu entscheiden und den revisionswerbenden Parteien den Aufwandersatz zuzusprechen.

10 Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung, in welcher sie die kostenpflichtige Zurück-, in eventu Abweisung der Revision beantragten. Die belangte Behörde übermittelte einen als Revisionsbeantwortung bezeichneten Schriftsatz und beantragte die Zuerkennung von Aufwandersatz.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision erweist sich angesichts der Ausführungen in der Zulässigkeitsbegründung zum Abweichen des Verwaltungsgerichtes von der näher zitierten, ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung als zulässig.

12 § 24 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 138/2017, lautet auszugsweise:

Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

...

(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. ...

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

...“

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG selbst bei anwaltlich Vertretenen auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes steht. Das ist etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird. Dies gilt auch für den Fall, dass das Verwaltungsgericht von dem von der Verwaltungsbehörde festgestellten und von der Partei nicht bestrittenen Sachverhalt abgehen oder seine Entscheidung auf Umstände stützen möchte, die nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens waren. Das Verwaltungsgericht darf in seine rechtliche Würdigung keine Sachverhaltselemente einbeziehen, die der Partei nicht bekannt waren. Auch eine ergänzende Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung zu erfolgen (vgl. zum Ganzen VwGH 9.11.2023, Ra 2023/06/0148 bis 0150, mwN).

14 Entgegen der dargestellten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis, ohne zuvor eine mündliche Verhandlung durchzuführen, erstmals Feststellungen zu der sich aufgrund der erst im Zuge des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingeholten Gutachten ergebenden Immissionssituation für die revisionswerbenden Parteien getroffen, und sich somit auf Umstände gestützt, die nicht Gegenstand des Verwaltungsverfahrens waren; darüber hinaus hat es eine ergänzende Beweiswürdigung in Bezug auf die eingeholten Gutachten vorgenommen.

15 Darüber hinaus kommt ein Entfall der Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG nur dann in Betracht, wenn dem weder Art. 6 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen. Nachbarrechte im Baubewilligungsverfahren stehen in so engem Zusammenhang mit Auswirkungen des Bauvorhabens auf das Nachbargrundstück und dessen Wert bzw. auf den ungestörten Genuss des Eigentums am Nachbargrundstück, dass sie als „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK anzusehen sind (vgl. etwa VwGH 19.12.2022, Ra 2019/06/0141 und 0142, mwN).

16 Somit hätte das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.

17 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im fallbezogen gegebenen Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 26.1.2023, Ra 2021/01/0026, mwN)

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Da die revisionswerbenden Parteien ein Erkenntnis gemeinsam in einer Revision angefochten haben, ist der Aufwandersatz gemäß § 53 Abs. 1 VwGG nur einmal an den Erstrevisionswerber zu zahlen.

Wien, am 4. März 2024

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