Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätinnen Dr. Wiesinger und Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des A M, vertreten durch Dr. Max Kapferer, Dr. Thomas Lechner und Dr. Martin Dellasega, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. März 2022, W241 2234086 1/8E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Kosovo, reiste im Februar 2006 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. Oktober 2006 abgewiesen wurde. Unter einem wurde der Revisionswerber in den Kosovo ausgewiesen. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Revisionswerber im August 2012 zurückgezogen.
2 Im April 2009 hatte der Revisionswerber eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet. Ab Oktober 2012 verfügte er über einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“, der wiederholt zuletzt mit Gültigkeit bis zum 12. Dezember 2021 verlängert wurde. Im November 2021 stellte der Revisionswerber rechtzeitig einen Verlängerungsantrag.
3 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 11. März 2015 war der Revisionswerber wegen gewerbsmäßig in Bezug auf eine den Wert von € 3.000, übersteigende Sache begangener Hehlerei nach § 164 Abs. 1, 3 und 4 zweiter und dritter Fall StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten und zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt worden.
4 Weiters wurde der Revisionswerber mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 9. Oktober 2019 wegen Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs. 1 erster Fall StGB, Diebstahls nach § 127 StGB und schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs. 2, 148 erster Fall StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Monaten verurteilt.
5 Die Ehe des Revisionswerbers wurde 2019 geschieden, die Lebensgemeinschaft wurde jedoch nach der Entlassung des Revisionswerbers aus der Haft im Mai 2020 wieder aufgenommen.
6 Mit Bescheid vom 18. Mai 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in den Kosovo zulässig sei, und gewährte ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erließ das BFA überdies gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. März 2022 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Das BVwG ging in der Entscheidungsbegründung davon aus, der Aufenthalt des Revisionswerbers stelle eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ dar. Seine Aussagen in der Beschwerdeverhandlung hätten gezeigt, dass er dem Unrecht seiner Taten wenig Bedeutung beimesse, was darauf schließen lasse, dass „auch der österreichischen Rechtsordnung wenig Bedeutung beigemessen wird“. In Anbetracht des „hohen Schuldmaßes“ sei der seit der vorzeitigen bedingten Haftentlassung im Mai 2020 vergangene Zeitraum zu kurz, um „eine Gefährlichkeit“ des Revisionswerbers „ausschließen zu können“.
9 Bei der nach § 9 BFA VG durchgeführten Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG die sechzehnjährige Dauer des rechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers und seine (von 2012 bis Juni 2019 mit kurzen Unterbrechungen durchgehend ausgeübte) Erwerbstätigkeit zu seinen Gunsten. Das BVwG ging davon aus, der Revisionswerber verfüge über „keine Familienangehörigen“ im Bundesgebiet. Zwar lebe er „aktuell in aufrechter Lebensgemeinschaft“ mit seiner geschiedenen Ehefrau. Die Intensität dieser Beziehung sei aber wegen zwischenzeitiger Meldungen des Revisionswerbers über mehrere Monate an anderen Wohnsitzen, der 2019 erfolgten Scheidung und einer gegen den Revisionswerber im Jahr 2012 erstatteten Anzeige wegen Gewalttaten an seiner Ehefrau als gemindert anzusehen. Das BVwG gehe daher „zwar von einer Lebensgemeinschaft, nicht aber von einem Familienleben iSd Art. 8 EMRK“ aus. Die gegenständliche Entscheidung könne „daher nur in das Privatleben“ des Revisionswerbers eingreifen. Angesichts der gravierenden Delinquenz des Revisionswerbers überwögen somit so das zusammengefasste Ergebnis des BVwG dessen individuelle Interessen nicht die besonders großen öffentlichen Interessen an der Beendigung seines Aufenthaltes und an der Erlassung eines fünfjährigen Einreiseverbotes.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
11 Die Revision, die in der Zulässigkeitsbegründung zu Recht Begründungsmängel in Bezug auf die Gefährdungsprognose und die Interessenabwägung geltend macht, erweist sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigen entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 27.4.2023, Ra 2022/21/0130, Rn. 14, mwN).
13 Vorliegend hat das BVwG aber die konkreten Umstände insbesondere der dem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 9. Oktober 2019 (siehe oben Rn. 4) zugrunde liegenden Taten nicht ausreichend festgestellt. Bis auf die Höhe des Schadens, der durch den vom Revisionswerber in Form eines durch Täuschung erlangten Darlehens begangenen Betrug entstanden ist, finden sich im angefochtenen Erkenntnis keine konkreten Feststellungen zu den spezifischen Umständen weder dieser Tat noch des ihm vorgeworfenen Diebstahls und auch nicht betreffend des ihm zur Last gelegten Eingriffes in die sexuelle Selbstbestimmung einer Frau. Schon von daher wurde die Annahme des BVwG zum Vorliegen eines „hohen Schuldmaßes“ nicht nachvollziehbar begründet. Wie die Revision überdies zutreffend aufzeigt, hätte das BVwG außerdem auf die vom Revisionswerber bereits in seiner Beschwerde näher vorgetragenen, die Verwerflichkeit seiner Straftaten potentiell mindernden Umstände eingehen und dazu Feststellungen treffen müssen. Abgesehen davon genügt es für eine Subsumtion unter den Tatbestand des § 11 Abs. 4 Z 1 NAG nicht, dass eine „Gefährlichkeit [...] nicht auszuschließen“ ist; das gilt umso mehr für die Erfüllung des Einreiseverbotstatbestandes nach § 53 Abs. 3 Z 1 FPG, der das auf einer entsprechenden (positiven) Feststellungsgrundlage beruhende Vorliegen einer „schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ verlangt. Auch das wird in der Revision zutreffend gerügt.
14 Überdies legte das BVwG wie in der Revision ebenfalls zu Recht ins Treffen geführt wird der Interessenabwägung zu Unrecht zu Grunde, zwischen dem Revisionswerber und seiner geschiedenen Ehefrau und nunmehrigen Lebensgefährtin bestehe kein Familienleben iSd Art. 8 EMRK. So ging das BVwG davon aus, der Revisionswerber lebe seit seiner Haftentlassung wieder mit seiner geschiedenen Ehefrau im gemeinsamen Haushalt und die Lebensgemeinschaft sei (wieder) aufrecht. Die Annahme, es liege (dennoch) kein Familienleben iSd Art. 8 EMRK vor, erweist sich schon angesichts der Dauer der Beziehung und des festgestellten Zusammenlebens, als rechtswidrig, ohne dass es auf vom BVwG ins Treffen geführte kurzzeitige Wohnsitzmeldungen des Revisionswerbers an anderen Orten oder auf die Anzeige wegen eines schon lange zurückliegenden Verdachts, die im Übrigen keine Verurteilung, sondern die Verfahrenseinstellung zur Folge hatte, ankäme (dazu, dass auch eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben iSd Art. 8 EMRK darstellen kann, siehe etwa nur VwGH 17.12.2019, Ro 2019/18/0006, Rn. 14, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus den genannten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
17 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. September 2024
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