JudikaturVwGH

Ra 2022/20/0335 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
23. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revisionen von 1. M A 2. S A, 3. T A, 4. M A, und 5. N A, alle vertreten durch Mag. Judith Morgenstern, Rechtsanwältin in 1090 Wien, Berggasse 7/5, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. September 2022, 1. W191 2245791 1/6E, 2. W191 2245790 1/6E, 3. W191 2245789 1/6E, 4. W191 2245786 1/6E, und 5. W191 2245788 1/6E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Die angefochtenen Erkenntnisse betreffend die erst-, dritt-, viert- und fünftrevisionswerbenden Parteien werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den erst-, dritt-, viert- und fünftrevisionswerbenden Parteien Aufwandersatz in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Die Revision des Zweitrevisionswerbers wird zurückgewiesen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien. Alle sind Staatsangehörige Afghanistans. Sie reisten mit ihnen nach § 26 Fremdenpolizeigesetz 2005 iVm § 35 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilten Einreisetiteln gemeinsam in Österreich ein und stellten hier am 22. März 2021 Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.

2 Mit den Bescheiden je vom 22. Juli 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab. Unter einem wurde den revisionswerbenden Parteien der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen infolgedessen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Dabei ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass den revisionswerbenden Parteien gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen sei, weil der Ehemann der Erstrevisionswerberin und Vater der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien über diesen Status verfüge.

3 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen die Versagung des Status von Asylberechtigten Beschwerden, in denen auch vorgebracht wurde, die Erstrevisionswerberin und die Drittrevisionswerberin seien im Herkunftsstaat allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt.

4 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung die Beschwerden als unbegründet ab. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG jeweils nicht zulässig sei.

5 Die Entscheidungen begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit hier von Bedeutung, damit, die Geschlechtszugehörigkeit an sich führe noch nicht zur maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung. Vielmehr komme es darauf an, ob westliches Verhalten oder eine westliche Lebensführung derart ein wesentlicher Bestandteil der Identität einer Frau geworden sei, dass es für sie eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen. Die Erst- und die Drittrevisionswerberin hätten aber nicht eine solche Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten Afghanistans darstelle.

6 Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die revisionswerbenden Parteien mit den vorliegenden Revisionen, in denen u.a. geltend gemacht wird, die Machtübernahme der Taliban im August 2021 habe was sich auch aus den vom Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichten ergebe zu einer fundamentalen Änderung der Umstände in Afghanistan geführt. Seither seien Frauen „in ihrer Gesamtheit“ von asylrelevanter Verfolgung bedroht, ohne dass eine Prüfung der individuellen Situation erforderlich wäre. Das Bundesverwaltungsgericht habe vor diesem Hintergrund zu Unrecht Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Zeit vor der (erneuten) Machtübernahme der Taliban auf die jetzige Situation übertragen und sei überdies von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Unter Bezugnahme auf die im Zeitpunkt der Einbringung der Revision beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) unter den Zlen. C-608/22 und C 609/22 anhängig gewesenen (über Antrag des Verwaltungsgerichtshofes eingeleiteten) Verfahren über die Ersuchen um Vorabentscheidung machen die revisionswerbenden Parteien zudem geltend, die Frage, ob angesichts der sich aufgrund der nunmehr unter der Herrschaft der Taliban darbietenden Situation in Afghanistan von einer asylrelevanten Gruppenverfolgung von Frauen auszugehen sei, sei bisher „noch nicht höchstgerichtlich geklärt“.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. April 2024 die gegenständlichen Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des EuGH in den dort zu den Zlen. C-608/22 und C-609/22 anhängigen Rechtssachen ausgesetzt.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - über die Revisionen erwogen:

Zur Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse betreffend die erst-, dritt-, viert- und fünftrevisionswerbenden Parteien:

9 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C-608/22 und C-609/22, hat der EuGH die vom Verwaltungsgerichtshof vorgelegten Fragen beantwortet.

10 Nach Erlassung dieses Urteils hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425, und im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2022/20/0028, ausführlich mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im hier gegenständlichen Fall erstattet wurde. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend der Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024, im Fall einer Situation, wie sie im Tenor dieses Urteils geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

12 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im genannten Urteil des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

13 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

14 In Verkennung dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass der Erst- und der Drittrevisionswerberin nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aufgrund asylrelevante Verfolgung ihres Geschlechts drohe, zumal sie nicht eine solche Lebensweise angenommen hätten, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten Afghanistans darstelle.

15 Somit erweisen sich aus den in den oben erwähnten Erkenntnisses vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes über die Beschwerden der Erstrevisionswerberin und der Drittrevisionswerberin gegen die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als inhaltlich rechtswidrig und waren gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

16 Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen durch den Verwaltungsgerichtshof aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 9.5.2023, Ra 2022/20/0273), weshalb auch die Erkenntnisse über die Beschwerden des Viert- und des Fünftrevisionswerbers gegen die Abweisung von deren Anträgen auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben waren.

17 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 52 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Zur Zurückweisung der Revision des Zweitrevisionswerbers :

19 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

20 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

21 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

22 Die Begründung für die Zulässigkeit der Revision enthält keinerlei konkret auf die Person des Zweitrevisionswerbers Bezug nehmendes Vorbringen. In Bezug auf den Zweitrevisionswerber werden in der Revision sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

23 In der vorliegenden Konstellation führt auch der Umstand, dass das Erkenntnis betreffend die Erstrevisionswerberin durch den Verwaltungsgerichtshof aufgehoben wird, nicht zur Aufhebung der den Zweitrevisionswerber betreffenden Entscheidung.

24 Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 erhalten unter den Voraussetzungen der § 34 Abs. 2 und 3 AsylG 2005 alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen.

25 Der in § 34 AsylG 2005 verwendete Begriff des Familienangehörigen ist anders als etwa bei der Anwendung des § 35 AsylG 2005, der in seinem Abs. 5 festlegt, wer nach dieser Bestimmung als Familienangehöriger anzusehen ist im Sinn der Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 zu verstehen (vgl. VwGH 28.3.2023, Ra 2022/20/0330, mwN). Gemäß § 22 Abs. 1 Z 22 lit. c AsylG 2005 ist Familienangehöriger ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten.

26 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 24. Oktober 2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausgeführt, dass aus dem Blickwinkel des Kindes, das die Eigenschaft als Familienangehöriger von seinen Eltern ableiten möchte, auf den Zeitpunkt der Antragstellung bezogen auf den von ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz abzustellen ist. Es muss, um als Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 (lit. c) AsylG 2005 zu gelten, in diesem Zeitpunkt minderjährig und ledig sein (siehe dazu auch VwGH 4.4.2024, Ra 2023/01/0162).

27 Zum Zeitpunkt der Stellung seines Antrages auf internationalen Schutz am 22. März 2021 war der am 23. November 2002 geborene Zweitrevisionswerber jedoch bereits volljährig, sodass die Bestimmungen über das Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 auf ihn nicht anwendbar sind.

28 Die Revision des Zweitrevisionswerbers war daher gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 23. Dezember 2024

Rückverweise