JudikaturVwGH

Ra 2022/20/0335 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
30. April 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, in den Rechtssachen der revisionswerbenden Parteien 1. M A, 2. S A, 3. T A, 4. M A, und 5. N A, alle vertreten durch Mag. Judith Morgenstern, Rechtsanwältin in 1090 Wien, Berggasse 7/5, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. September 2022, 1. W191 2245791 1/6E, 2. W191 2245790 1/6E, 3. W191 2245789 1/6E, 4. W191 2245786 1/6E und 5. W191 2245788 1/6E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revisionsverfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 und C 609/22 über die mit den Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der zweit bis fünftrevisionswerbenden Parteien. Alle sind Staatsangehörige Afghanistans. Sie reisten mit ihnen nach § 26 Fremdenpolizeigesetz 2005 iVm § 35 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilten Einreisetiteln gemeinsam in Österreich ein und stellten hier am 22. März 2021 Anträge auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005.

2 Mit den Bescheiden je vom 22. Juli 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab. Unter einem wurde den revisionswerbenden Parteien der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen infolgedessen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Dabei ging das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl davon aus, dass den revisionswerbenden Parteien gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zu erteilen sei, weil der Ehemann der Erstrevisionswerberin und Vater der zweit- bis fünftrevisionswerbenden Parteien über diesen Status verfüge.

3 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen die Versagung des Status von Asylberechtigten Beschwerden, in denen auch vorgebracht wurde, die Erstrevisionswerberin und die Drittrevisionswerberin seien im Herkunftsstaat allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt.

4 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung die Beschwerden als unbegründet ab. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG jeweils nicht zulässig sei.

5 Die Entscheidungen begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit hier von Bedeutung, damit, die Geschlechtszugehörigkeit an sich führe noch nicht zur maßgeblichen Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgung. Vielmehr komme es darauf an, ob westliches Verhalten oder eine westliche Lebensführung derart ein wesentlicher Bestandteil der Identität einer Frau geworden sei, dass es für sie eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen. Die Erst- und die Drittrevisionswerberin hätten aber nicht eine solche Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten Afghanistans darstelle.

6 Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die vorliegenden Revisionen, in denen u.a. geltend gemacht wird, die Machtübernahme der Taliban im August 2021 habe was sich auch aus den vom Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegten Länderberichten ergebe zu einer fundamentalen Änderung der Umstände in Afghanistan geführt. Seither seien Frauen „in ihrer Gesamtheit“ von asylrelevanter Verfolgung bedroht, ohne dass eine Prüfung der individuellen Situation erforderlich wäre. Das Bundesverwaltungsgericht habe vor diesem Hintergrund zu Unrecht Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Zeit vor der (erneuten) Machtübernahme der Taliban auf die jetzige Situation übertragen und sei überdies von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Die Frage, ob angesichts der sich aufgrund der nunmehr unter der Herrschaft der Taliban darbietenden Situation in Afghanistan von einer asylrelevanten Gruppenverfolgung von Frauen auszugehen sei, sei bisher „noch nicht höchstgerichtlich geklärt“, zumal zu dieser Frage auch ein vom Verwaltungsgerichtshof eingeleitetes Vorabentscheidungsverfahren anhängig sei (Verweis auf den Beschluss vom 14. September 2022, Ra 2021/20/0425).

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren eingeleitet, Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.

8 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen

- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,

- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,

- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,

- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,

- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,

- der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird,

- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,

- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,

- keinen Sport ausüben dürfen,

im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?

2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“

9 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union, der dem Verwaltungsgerichtshof mitgeteilt hat, dass er die beiden bei ihm unter den Zlen. C 608/22 und C 609/22 registrierten Verfahren zur gemeinsamen Verfahrensführung und Entscheidung verbunden hat (vgl. VwGH 19.1.2023, Ra 2022/20/0201 bis 0204), kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen war (vgl. VwGH 29.2.2024, Ra 2023/20/0574, mwN).

Wien, am 30. April 2024

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