JudikaturVwGH

Ra 2022/18/0193 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. August 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr. in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Vonier, über die Revision der S M in W, vertreten durch Sonja Karpf, LL.M., Rechtsanwältin in 1020 Wien, Fanny Mintz Gasse 6/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Juni 2022, W292 2248639 1/15E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberin, eine syrische Staatsangehörige, reiste im September 2021 gemeinsam mit ihrem traditionell angetrauten Ehemann in das Bundesgebiet ein. Beide beantragten am 9. September 2021 internationalen Schutz in Österreich.

2 Im Rahmen der behördlichen Befragungen begründete die Revisionswerberin ihren Antrag mit dem Krieg in ihrem Herkunftsstaat. Zudem führte sie aus, dass sie in der Provinz Homs geboren sowie aufgewachsen sei und vor ihrer Ausreise im Gouvernement Al Raqqa gelebt habe. Sie verwies darauf, die Ehe mit ihrem traditionell angetrauten Ehemann vor einem Geistlichen in Syrien geschlossen zu haben. Ihr Vater sei bereits verstorben, ihre Mutter und ihre Geschwister würden in der Türkei leben.

3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag der Revisionswerberin mit Bescheid vom 21. Oktober 2021 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Revisionswerberin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

4 Dem Antrag des traditionell angetrauten Ehemannes der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hatte das BFA zuvor mit Bescheid vom 18. Oktober 2021 stattgegeben und ihm den Status eines Asylberechtigten zuerkannt.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

6 Zusammengefasst hielt das BVwG soweit für das Revisionsverfahren von Belang fest, die Revisionswerberin sei zwar nach traditionellen islamischen Gepflogenheiten mit einem in Österreich asylberechtigten syrischen Staatsangehörigen verheiratet, in Ermangelung einer staatlichen Registrierung der Ehe vor syrischen Behörden werde diese Form der Eheschließung vom syrischen Staat jedoch nicht anerkannt. Folglich liege auch in Österreich keine gültige Ehe vor, sodass die Anwendung der Bestimmungen des § 34 Asylgesetz 2005 auf die Revisionswerberin nicht in Betracht komme. Die Revisionswerberin stamme aus einem von kurdischen Machthabern kontrollierten Gebiet. Weder ihr traditionell angetrauter Ehemann, der hier asylberechtigt sei, noch ihre im wehrfähigen Alter befindlichen Brüder, die den Wehrdienst allesamt verweigert hätten und in die Türkei geflüchtet seien, könnten nach Syrien zurückkehren. Im Fall einer Rückkehr sei die Revisionswerberin damit alleinstehend. Eine Gruppenverfolgung alleinstehender Frauen in den von kurdischen Machthabern kontrollierten Gebieten könne anhand der Länderinformationen jedoch nicht angenommen werden. Die Herkunft und Flucht der Revisionswerberin begründe „nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts“ auch keine Gefahr, vom syrischen Regime als oppositionell wahrgenommen zu werden. Ins Gewicht falle, dass die Ehe der Revisionswerberin in Syrien behördlich nicht registriert und die Revisionswerberin politisch nicht in Erscheinung getreten sei. Auch sonstige Asylgründe seien nicht hervorgekommen.

7 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem vorbringt, dem BVwG seien zur Frage, ob der Revisionswerberin im Fall einer Rückkehr eine oppositionelle Gesinnung vom syrischen Regime unterstellt werde, relevante Ermittlungs- und Begründungsmängel unterlaufen. Dass der Revisionswerberin im Falle einer Wiedereinreise nach Syrien und Weiterreise in ihre Herkunftsregion keine Gefahr drohe, mit dem syrischen Regime in Kontakt zu geraten und aufgrund einer ihr unterstellten oppositionellen Gesinnung verfolgt zu werden, habe das BVwG nicht nachvollziehbar begründet. Dabei habe das BVwG insbesondere nicht ausreichend in den Blick genommen, dass das syrische Regime bereits das Stellen eines Asylantrags als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung erachte und die Revisionswerberin der erhöhten Gefahr einer Reflexverfolgung ausgesetzt sei. Sowohl ihr traditionell angetrauter Ehemann als auch andere männliche Verwandte der Revisionswerberin hätten vor einer Zwangsrekrutierung die Flucht ergriffen.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 20.4.2023, Ra 2022/19/0028 bis 0031, mwN, und VwGH 3.5.2022, Ra 2021/18/0250, mwN).

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 5.7.2023, Ra 2021/18/0267, mwN).

12 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht.

13 Zutreffend weist die Revision darauf hin, dass die Revisionswerberin im Verfahren sie betreffende Risikofaktoren einer Rückkehrgefährdung geltend gemacht hat, die auch Deckung in den einschlägigen Länderinformationen finden. So hat die Revisionswerberin in ihrer Stellungnahme vom 23. März 2022 unter Verweis auf die maßgebliche Berichtslage vorgebracht, dass sie als Familienangehörige ihres traditionell angetrauten Ehemannes, der hier asylberechtigt sei, bei einer Rückkehr auch deswegen ins Visier des syrischen Regimes geraten würde und mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hätte.

14 Nach dem vom BVwG auch herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 27. April 2022 unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko. Auch Kollektivhaft von Angehörigen oder Nachbarn ist dokumentiert, fallweise auch wegen als regimefeindlich geltenden Personen im Ausland. Frauen mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (aaO Seite 99 f).

15 Nach den einschlägigen (und von der Revisionswerberin in ihrer Stellungnahme vom 23. März 2022 ebenfalls zitierten) UNHCR Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. Fassung, März 2021, Seite 108), werde die tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige bestehe die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht würden.

16 Schließlich treffen auch die Länderrichtlinien der EUAA (Country Guidance), denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wie jenen des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“ vgl. etwa VwGH 7.6.2022, Ra 2020/18/0439, mwN) und die gemäß Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2021/2303 bei der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen sind, eine ähnliche Einschätzung (vgl. die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung maßgebliche Country Guidance Syria, November 2021) bzw. vornehmen (vgl. die aktuelle Country Guidance Syria, Februar 2023).

17 Während das BVwG feststellte, dass dem traditionell angetrauten Ehemann der Revisionswerberin in Österreich wegen Wehrdienstverweigerung der Asylstatus zukomme und er ihr im Falle einer Rückkehr nach Syrien nicht als männlicher Begleiter zur Seite stehen könne, setzte es sich mit dem oben dargestellten Vorbringen im Rahmen seiner Beweiswürdigung nur insoweit auseinander, als die bislang mangelnde behördliche Registrierung der Ehe die Wahrscheinlichkeit erheblich mindere, vom syrischen Regime mit ihrem traditionell angetrauten Ehemann in Zusammenhang gebracht und deshalb als oppositionell betrachtet oder gar reflexverfolgt zu werden. Feststellungen, die diese Schlussfolgerung tragen, traf das BVwG nicht. Eine Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Revisionswerberin, dass ihre im wehrfähigen Alter befindlichen Brüder, die sich nach den Feststellungen des BVwG wegen Wehrdienstverweigerung auf der Flucht befänden, als regimekritische Oppositionelle angesehen würden und der Revisionswerberin als Angehörige möglicherweise deshalb bei Rückkehr in ihren Heimatstaat Verfolgung drohen würde, blieb das BVwG ebenso schuldig.

18 Im Übrigen zeigt die Revision zu Recht auf, dass sich das BVwG mit der Behauptung der Revisionswerberin, schon beim Grenzübertritt von den syrischen Behörden aufgegriffen und verfolgt zu werden, nicht ausreichend auseinandergesetzt hat.

19 Zwar traf das BVwG Feststellungen zur Ein- und Ausreise, der Situation an Grenzübergängen und zur Rückkehr an den Herkunftsort in Syrien auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien vom 27. April 2022 (angefochtenes Erkenntnis, Seiten 14 bis 19), wonach die Behandlung von Rückkehrenden nach Syrien stark vom Einzelfall abhänge; man könne „jederzeit verhaftet und verhört werden und niemand weiß, ob man leben, getötet oder verschwinden gelassen wird“. Es legte aber nicht nachvollziehbar dar, weshalb die Revisionswerberin unter Berücksichtigung dieser Länderfeststellungen und der von ihr im Verfahren aufgezeigten Risikofaktoren keiner maßgeblichen Gefahr ausgesetzt wäre, vom syrischen Regime aufgegriffen und verfolgt zu werden. Die Erklärung, die Revisionswerberin habe sich zu keinem Zeitpunkt politisch betätigt und es seien sonst keine Anhaltspunkte hervorgekommen, die sie von Interesse für das syrische Regime erscheinen ließen, ersetzt eine schlüssige Auseinandersetzung mit den übrigen vorgebrachten Risikofaktoren nicht.

20 Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben, ohne dass auf weiteres Revisionsvorbringen näher eingegangen werden müsste.

21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. August 2023

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