JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0150 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
12. September 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Bamer, über die Revision des A E, vertreten durch Mag. Hermann Stenitzer Preininger, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Radetzkystraße 29/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juli 2022, I411 2254548 1/5E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

1 Mit Bescheid vom 21. März 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers eines ägyptischen Staatsangehörigen, der 1997 legal nach Österreich eingereist war auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab. Unter einem erließ das BFA gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Ägypten zulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zudem erließ es gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot.

2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 12. Juli 2022 als unbegründet ab. Es sprach weiters aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

3 Das BVwG stellte soweit für das Revisionsverfahren relevant fest, der Revisionswerber sei am 5. Oktober 1997 legal nach Österreich eingereist und habe seither das Bundesgebiet nicht verlassen. Im Oktober 2000 habe er mit einer österreichischen Staatsbürgerin eine Ehe geschlossen, aus welcher zwei Kinder eine Tochter und ein Sohn hervorgegangen seien. Die Ehe sei am 19. Dezember 2006 aus alleinigem Verschulden des Revisionswerbers geschieden worden. Seine zwei Kinder seien mittlerweile volljährig. Während er mit seiner Tochter regelmäßig in Kontakt stehe, habe er zu seinem Sohn keinen Kontakt. Abgesehen von seinen zwei Kindern, lebten noch zwei Brüder des Revisionswerbers in Österreich. Nachdem der Revisionswerber mehrmals strafgerichtlich verurteilt worden sei, sei über ihn mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Graz vom 20. September 2007 ein Aufenthaltsverbot verhängt worden. Trotz bestehender Ausreiseverpflichtung sei der Revisionswerber im Bundesgebiet verblieben und habe am 27. Juni 2012 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 13. September 2012 abgewiesen worden sei. Am 18. November 2013 habe der Revisionswerber einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der letztlich im Instanzenzug vom BVwG mit Erkenntnis vom 24. September 2014 zurückgewiesen worden sei. Von Jänner 2016 bis Jänner 2018 sei der Revisionswerber in Österreich geduldet gewesen; zuletzt sei ihm am 7. Februar 2020 eine Karte für Geduldete ausgestellt worden. In Österreich habe der Revisionswerber die Lehrabschlussprüfung für den Beruf Bäcker abgeschlossen. Seit Mai 2015 sei er regelmäßig als Arbeiter beschäftigt; seit 15. Mai 2020 sei er als Kellner in einem Café tätig. Zu keinem Zeitpunkt habe er über eine Beschäftigungsbewilligung verfügt. Der Revisionswerber sei in Österreich mehrmals strafgerichtlich verurteilt worden.

4 In seiner rechtlichen Beurteilung berücksichtigte das BVwG, dass der Revisionswerber während seines Aufenthalts Integrationsschritte wie die Absolvierung der Lehrabschlussprüfung und seine berufliche Tätigkeit gesetzt habe. Zudem stehe er regelmäßig mit seiner Tochter in Kontakt. Jedoch sei der mit der Rückkehrentscheidung verbundene Eingriff in sein Privat und Familienleben zulässig und verhältnismäßig, da dem öffentlichen Interesse an der Vornahme der Rückkehrentscheidung ein sehr großes Gewicht zukomme. Zudem sei seine Tochter volljährig, weshalb der Kontakt über moderne Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden und seine Tochter ihn auch regelmäßig in Ägypten besuchen könne. Entgegen dem Vorbringen des Revisionswerbers überwögen im konkreten Fall, ungeachtet eines sehr langen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale, die öffentlichen Interessen an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 und an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme.

5 Das gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG erlassene Einreiseverbot stützte das BVwG im Wesentlichen darauf, dass der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 19. Oktober 2006 wegen „§§ 28 Abs. 2 (4. Fall), 28 Abs. 4/2, 28 Abs. 4/3, 27 Abs. 1 (1.2.6. Fall) SMG“ zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sei. Weiters führte das BVwG aus, dass im Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsbild des Revisionswerbers vor allem zu berücksichtigen sei, dass er „in einem langen Zeitraum von etwa 20 Jahren mehrmals bzw. insgesamt 7 Mal strafgerichtlich verurteilt“ worden sei und seit mehreren Jahren einer Schwarzarbeit nachgehe. Überdies sei er jahrelang beharrlich illegal im Bundesgebiet geblieben und seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen. Im Verhalten des Revisionswerbers sei jedenfalls eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu erblicken, die die Verhängung eines vierjährigen Einreiseverbots notwendig mache. Seine letzte Verurteilung vom Mai 2022 liege noch nicht allzu lange zurück, um von einem Wegfall der Gefährdung ausgehen und eine positive Prognose treffen zu können.

6 Zum Entfall der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung führte das BVwG aus, der Sachverhalt sei durch das BFA vollständig erhoben worden und weise die gebotene Aktualität auf. Das Beschwerdevorbringen werfe keine neuen oder noch zu klärenden entscheidungswesentlichen Sachverhaltsfragen auf und richte sich primär gegen die rechtliche Beurteilung.

7 Das BVwG müsse sich auch keinen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen, da auch dann selbst unter Berücksichtigung aller zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Fakten kein für ihn günstigeres Ergebnis zu erwarten sei.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen eine Verletzung der Verhandlungspflicht durch das BVwG geltend macht. Der Revisionswerber halte sich seit nahezu 25 Jahren durchgehend in Österreich auf, sei integriert und verfüge über familiäre Bindungen. Das BVwG habe lediglich die strafrechtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers angeführt, ohne näher darauf einzugehen; es habe keine nachvollziehbare Gefährdungsprognose durchgeführt.

9 Über die Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision erweist sich im Hinblick auf das Zulässigkeitsvorbringen als zulässig und begründet.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Zwar kann worauf sich das BVwG stützte nach § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann allerdings bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen (positiven) persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0296, mwN).

12 In seiner Begründung berücksichtigte das BVwG sowohl bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG als auch bei der Annahme, dass der Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 FPG für die Verhängung des Einreiseverbotes erfüllt sei, die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers. Dabei ließ das BVwG jedoch die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht, dass bei einer Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. VwGH 22.2.2022, Ra 2020/21/0390, mwN). Auch für eine nachvollziehbare Abwägung der wechselseitigen Interessen nach § 9 BFA VG bedarf es einer näheren Darstellung der vom Revisionswerber verübten Delikte, um die daraus ableitbare Gefährlichkeit und die Größe des deshalb bestehenden öffentlichen Interesses an der Beendigung seines Aufenthaltes beurteilen zu können (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2020/21/0533, mwN).

13 Das BVwG stützte sich im Wesentlichen auf eine Verurteilung des Revisionswerbers aus dem Jahr 2006 und beschränkte sich diesbezüglich allerdings auf die Tatsache der Verurteilung, ohne jedoch weder die Tatzeitpunkte noch die konkreten Tathandlungen anzuführen, aus der sich die Gefährlichkeit des Revisionswerbers ergäbe. Das BVwG hat zwar zutreffend auch die Anzahl weiterer strafrechtlicher Verurteilungen hervorgehoben, das ist jedoch im Hinblick auf die auch in der Revision hervorgehobene lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich seit dem Jahr 1997 nicht ausreichend. Insgesamt konnte somit auch nicht vom Vorliegen eines eindeutigen Falles ausgegangen werden, der es dem BVwG ausnahmsweise erlaubt hätte, ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen.

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

15 Die Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG unterbleiben.

16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das den Betrag gemäß § 1 Z 1 lit. a der genannten Verordnung übersteigende Mehrbegehren war abzuweisen. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren war ebenfalls abzuweisen, weil in dem in der genannten Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits enthalten ist (VwGH 28.11.2023, Ra 2022/22/0043). Die zudem geltend gemachte Eingabengebühr war nicht zuzusprechen, weil dem Revisionswerber diesbezüglich mit dem Beschluss VwGH 6.9.2022, Ra 2022/17/0150 3, Verfahrenshilfe gewährt worden war.

Wien, am 12. September 2024

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