JudikaturVwGH

Ra 2022/14/0048 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
07. November 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl und die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des R H, vertreten durch Dr. Martin Dellasega, Dr. Thomas Lechner Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juli 2021, W154 1433178 2/8E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 8. August 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Mit Bescheid vom 7. Februar 2013 wies das damals zuständige Bundesasylamt diesen Antrag vollinhaltlich ab und wies den Revisionswerber aus dem Bundesgebiet nach Afghanistan aus.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2015 hinsichtlich des Antrags auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet ab, erkannte dem Revisionswerber jedoch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.

4 Mit Bescheid vom 21. November 2016 wurde die Aufenthaltsberechtigung bis zum 10. Dezember 2018 verlängert. Mit Eingabe vom 5. November 2018 beantragte der Revisionswerber die erneute Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung.

5 Mit Schreiben vom 25. April 2019 teilte die Staatsanwaltschaft Innsbruck dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit, dass der Revisionswerber in Untersuchungshaft genommen worden sei.

6 Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 9. Dezember 2019 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß § 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren, davon zwei Jahre bedingt nachgesehen unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, zur Zahlung eines Teilschmerzengeldbetrages gemäß § 369 Abs. 1 StPO sowie gemäß § 389 Abs. 1 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

7 Über Berufung der Staatsanwaltschaft Innsbruck schied das Oberlandesgericht Innsbruck mit Urteil vom 11. Februar 2020 die Gewährung der teilbedingten Strafnachsicht nach § 43a Abs. 4 StGB aus dem Ersturteil aus, weil es eine zur Gänze unbedingte Freiheitsstrafe für erforderlich erachtete.

8 In weiterer Folge leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Aberkennungsverfahren ein, im Zuge dessen der Revisionswerber am 9. März 2020 einvernommen wurde.

9 Mit Bescheid vom 17. März 2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten (gestützt auf § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005) ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Weiters erließ die Behörde eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und legte für die freiwillige Ausreise eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Weiters erließ es ein auf neun Jahre befristetes Einreiseverbot und wies den Antrag des Revisionswerbers auf Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung ab.

10 In der dagegen erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers brachte dieser vor, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe bei der Beurteilung der Lageänderung nicht dargelegt, worin diese Änderung im Vergleich zur letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung bestanden habe, eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe dem Revisionswerber auch weiterhin nicht offen. Bei einer Rückkehr befürchte er unter Darlegung näherer Länderberichte zudem eine Gefährdung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK. Unter einem beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

11 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erließ daraufhin am 11. Mai 2020 eine Beschwerdevorentscheidung, mit der es die Beschwerde mit der Maßgabe, dass dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 aberkannt werde, als unbegründet abwies.

12 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit einer hier nicht wesentlichen Maßgabe als unbegründet ab. Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.

13 Begründend erwog das Bundesverwaltungsgericht zur Änderung der Umstände, dass der mittlerweile straffällig gewordene Revisionswerber seit der letzten Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung zahlreiche unterschiedliche in den Feststellungen nicht näher genannte Berufserfahrungen gesammelt habe. Ihm drohe nunmehr im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Es stehe ihm eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar e Sharif zur Verfügung.

14 Den Entfall einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht formelhaft mit dem geklärten Sachverhalt aufgrund der Aktenlage und dem Inhalt der Beschwerde. Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die maßgeblichen Sachverhaltselemente seien nicht vorgelegen.

15 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der mit Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, E 3372/2021 8, das angefochtene Erkenntnis, „insoweit damit die Beschwerde gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan und gegen die Setzung einer 14 tägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird“ wegen Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art. 2 EMRK auf Leben sowie gemäß Art. 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden, aufhob, im Übrigen die Behandlung der Beschwerde ablehnte und insoweit die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

16 Die nun vorliegende außerordentliche Revision richtet sich gegen die dem Rechtsbestand noch angehörenden Spruchteile des angefochtenen Erkenntnisses, somit gegen die Aberkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten, die Entziehung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, die Rückkehrentscheidung und das Einreiseverbot im Ausmaß von neun Jahren und macht zur Begründung ihrer Zulässigkeit Begründungsmängel, Feststellungsmängel sowie eine Abweichung von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Entfall der mündlichen Verhandlung an sich sowie im Speziellen im Zusammenhang mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie eines Einreiseverbots geltend.

17 Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

18 Die Revision ist bereits im Hinblick auf ihr Vorbringen zum rechtswidrigen Entfall der mündlichen Verhandlung zulässig und im Ergebnis auch begründet.

19 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

20 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob im Sinn des § 21 Abs. 7 erster Satz BFA VG „der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

21 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 8.4.2021, Ra 2020/20/0232, 0233, mwN).

22 Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG kann auch bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten eines Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (VwGH 16.1.2019, Ra 2018/18/0272, mwN). Es ist grundsätzlich immer auch Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts, sich vor Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen, sofern nicht ausnahmsweise ein eindeutiger Fall gegeben sei. Von dieser Verpflichtung wäre das Bundesverwaltungsgericht auch dann nicht entbunden, wenn das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im erstinstanzlichen Verfahren eine persönliche Einvernahme durchgeführt hat (vgl. VwGH 30.10.2019, Ro 2019/14/0007, mwN).

23 Weder hat sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Beschwerde, die unter Vorlage einschlägiger Länderinformationen mit einem substantiierten Sachverhaltsvorbringen den Feststellungen der belangten Behörde entgegengetreten ist, auseinandergesetzt, noch hat es dem Revisionswerber die Gelegenheit gegeben, im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu dieser Beschwerde gehört zu werden. Auch hat es verabsäumt, sich einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber und seinem Verhalten im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung und dem Einreiseverbot zu verschaffen.

24 Demnach lagen die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA VG für die Abstandnahme von der beantragten Verhandlung nicht vor.

25 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH 8.4.2021, Ra 2020/20/0232, 0233, mwN).

26 Das Erkenntnis war sohin im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

27 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

28 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. November 2022

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