JudikaturVwGH

Ra 2022/03/0229 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
23. Januar 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Handstanger und die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Dr. Zeleny, über die Revision der Landespolizeidirektion Wien gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 25. Juli 2022, Zl. VGW 031/039/15832/2021 13, betreffend eine Übertretung des Eisenbahngesetzes 1957 (mitbeteiligte Partei: M P in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht Wien und nunmehrigen Revisionswerberin vom 14. Oktober 2021 wurde der Mitbeteiligte schuldig erkannt, er habe am 6. Juli 2021 zu einer bestimmten Uhrzeit an einem näher bestimmten Ort in Wien mit einem dem Kennzeichen nach bestimmten Fahrzeug an einer „durch Lichtzeichen mit Schranken gesicherten Eisenbahnkreuzung“ nicht angehalten, obwohl das rote blinkende Licht geleuchtet habe. Er hätte sein Fahrzeug auf Grund seiner Fahrgeschwindigkeit und seines Abstandes von der Eisenbahnkreuzung leicht und gefahrlos anhalten können. Dadurch habe er gegen § 225 Abs. 3 Eisenbahngesetz 1957, BGBl. Nr. 60, iVm. § 99 Abs. 1 Z 1 Eisenbahnkreuzungsverordnung 2012 EisbKrV, BGBl. II Nr. 216, verstoßen, weswegen über ihn eine Geldstrafe in der Höhe von € 140, (Ersatzfreiheitsstrafe von zwei Tagen und 16 Stunden) verhängt und ihm ein Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens vorgeschrieben wurde.

2 Begründend wurde auf eine Anzeige auf Grund einer dienstlichen Wahrnehmung eines Polizeiorgans verwiesen. Zwar habe der Mitbeteiligte das ihm zur Last gelegte Verhalten bestritten, die erkennende Behörde habe aber keine Veranlassung gesehen, die Angaben der Meldungslegerin, welche diese unter Berufung auf ihren Diensteid erstattet habe, in Zweifel zu ziehen. Auch habe für die Meldungslegerin keine Veranlassung bestanden, eine ihr unbekannte Person wahrheitswidrig zu belasten.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge, behob das Straferkenntnis und stellte das Verfahren gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, es bezweifle nicht die Darstellung der Meldungslegerin, dass der Mitbeteiligte unter den im Straferkenntnis näher genannten Umständen vor einer „durch Lichtzeichen mit Schranken gesicherten Eisenbahnkreuzung“ nicht angehalten habe, obwohl das rote blinkende Licht geleuchtet habe. Dies habe auch der Mitbeteiligte selbst nicht in Abrede gestellt und werde als Sachverhalt festgestellt.

5 Der Verwaltungsakt lasse jedoch entscheidende Umstände offen, welche für die Beurteilung nötig wären, ob dies dem Mitbeteiligten vorwerfbar sei. Weder in der Anzeige noch in der ergänzenden Darstellung fänden sich Angaben darüber, welchen Abstand das vom Mitbeteiligten gelenkte Kraftfahrzeug gehabt habe, als das rote blinkende Licht bei der Eisenbahnkreuzung aufgeleuchtet habe, und mit welcher Geschwindigkeit das Kraftfahrzeug unterwegs gewesen sei. Dass die Meldungslegerin angegeben habe, sie habe „großzügig bemessen“, sei ein subjektiver Eindruck, der zutreffen könne, jedoch nicht objektiv überprüfbar sei und auch nicht zum Teil einer Nachrechnung darüber gemacht werden könne, ob die Rechtfertigung des Mitbeteiligten nicht ebenfalls zutreffen könnte.

6 Angesichts dieser „Beweislage“ könne nicht mit der für das Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Rechtfertigung des Mitbeteiligten, welche bei ihrem Zutreffen zu einer Einstellung des Strafverfahrens führe, doch den Tatsachen entspreche, sodass auf Grund der verbliebenen Zweifel zugunsten des Mitbeteiligten zu entscheiden gewesen sei.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der belangten Behörde vor dem Verwaltungsgericht. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren durchgeführt, in welchem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe gegen seine Pflicht zur amtswegigen Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes und gegen seine Verhandlungspflicht verstoßen.

9 Sie ist auch begründet.

10 Eine Einstellung des Verfahrens nach § 45 Abs. 1 Z 1 VStG kommt dann in Frage, wenn die Beweise für einen Schuldspruch nicht ausreichen.

11 Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gelten im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist (vgl. etwa VwGH 4.3.2022, Ra 2020/02/0213, mwN).

12 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zugrunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können; die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht ihrer aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst soweit das möglich ist für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. neuerlich VwGH Ra 2021/02/0057, mwN).

13 Der Mitbeteiligte hat sich im Strafverfahren im Wesentlichen damit gerechtfertigt, er hätte bei Aufleuchten des Lichtzeichens angesichts seiner Entfernung von der Eisenbahnkreuzung und seiner Geschwindigkeit ohne „Notbremsung“ nicht mehr rechtzeitig vor dieser anhalten können. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass bei Zutreffen dieser Rechtfertigung das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen wäre.

14 Die Richtigkeit dieser rechtlichen Annahme des Verwaltungsgerichts hängt zunächst davon ab, welche Art von Sicherung der Eisenbahnkreuzung im gegenständlichen Fall vorlag. Feststellungen dazu enthält das angefochtene Erkenntnis nicht.

15 Im Straferkennntis vom 14. Oktober 2021 wird die als erwiesen angenommene Tat dahingehend umschrieben, der Mitbeteiligte habe „an einer durch Lichtzeichen mit Schranken gesicherten Eisenbahnkreuzung“ nicht angehalten, obwohl „das rote blinkende Licht leuchtete“. Der Mitbeteiligte hat in seiner, als Einspruch gegen die Strafverfügung vom 17. August 2021 zu wertenden E Mail vom 5. September 2021 vorgebracht, dass das Lichtzeichen „gleich rot zeigt und gleichzeitig auch das Tonsignal angeht“, während es bei einer „normalen Kreuzung“ (gemeint wohl: Lichtzeichen auf Straßen mit öffentlichem Verkehr iSd. StVO 1960) vor dem roten Licht zunächst grünes blinkendes und dann gelbes nicht blinkendes Licht gebe.

16 Wäre die gegenständliche Eisenbahnkreuzung, wie der Mitbeteiligte im Strafverfahren vorgebracht hat, derart gesichert, dass die Lichtzeichen nur rotes blinkendes Licht zeigen (vgl. zu einer solchen Art der Sicherung § 8 Abs. 5 und 6 Eisenbahn Kreuzungsverordnung 1961, BGBl. Nr. 2, welche auf Grundlage und nach Maßgabe der Übergangsbestimmung des § 102 Abs. 1 und 3 EisbKrV beibehalten werden könnte), käme dem Vorbringen des Mitbeteiligten für die Frage einer Übertretung des Anhaltegebotes Entscheidungsrelevanz zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits ausgesprochen, dass ein Straßenbenützer grundsätzlich verpflichtet ist, sein Fahrzeug bereits beim erstmaligen Ertönen eines akustischen oder Aufleuchten eines optischen Zeichens vor den Schranken anzuhalten. Dies setzt jedoch voraus, dass es dem Fahrzeuglenker auch möglich ist, vom Zeitpunkt des Beginns des Signals aus gerechnet, sein Fahrzeug noch vor den Schranken zum Stillstand zu bringen. Dies hängt aber insbesondere von seiner Fahrgeschwindigkeit (wobei dem Fahrzeuglenker ein Überschreiten der nach den gegebenen Verhältnissen einzuhaltenden Fahrgeschwindigkeit zur Last fällt) und der Entfernung von der Kreuzung beim Ertönen oder Aufleuchten des ersten Signals ab. Befindet er sich daher im Zeitpunkt des Ergehens des ersten Zeichens in einer solchen Entfernung vor den Schranken, dass er nicht mehr anhalten kann, so hat er die Kreuzung zu übersetzen (vgl. VwGH 11.5.1983, 82/03/0195, zur Eisenbahn Kreuzungsverordnung 1961; vgl. überdies zur Verpflichtung der Straßenbenützer, bei Annäherung an eine Eisenbahnkreuzung die Geschwindigkeit so zu wählen, dass sie verlässlich anhalten können, VwGH 18.11.1983, 83/02/0080).

17 Das Verwaltungsgericht hätte daher für den Fall, dass abhängig von der noch festzustellenden Art der Sicherung der Eisenbahnkreuzung die Entfernung des Fahrzeuges des Mitbeteiligten von der Eisenbahnkreuzung und die Geschwindigkeit des Fahrzeuges für die Frage, ob eine strafbare Übertretung des Anhaltegebotes vorlag, von Amts wegen entsprechende Feststellungen zu treffen gehabt und dafür die notwendigen Erhebungen, erforderlichenfalls einschließlich einer mündlichen Verhandlung unter Einvernahme des Mitbeteiligten und der Meldungslegerin, durchführen müssen.

18 Da das Verwaltungsgericht die Bedeutung der Art der Sicherung der Eisenbahnkreuzung für die Strafbarkeit des Verhaltens des Mitbeteiligten verkannte, war das angefochtene Erkenntnis schon aus diesem Grund wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 23. Jänner 2023

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