JudikaturVwGH

Ra 2021/22/0186 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
14. Juni 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, Hofrat Dr. Schwarz und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision der A P, vertreten durch Dr. Manfred Sommerbauer und DDr. Michael Hermann Dohr, Rechtsanwälte in 2700 Wiener Neustadt, Babenbergerring 5a/3. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Juli 2021, W241 2215394 1/6E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 4. Februar 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin, einer philippinischen Staatsangehörigen, vom 8. Oktober 2018 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in ihren Herkunftsstaat zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen gerichtete Beschwerde der Revisionswerberin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.

3 Zusammengefasst stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, die arbeitsfähige Revisionswerberin leide an keinen schweren physischen oder psychischen Erkrankungen oder Gebrechen. Sie halte sich seit 1. April 2015 durchgehend in Österreich auf und habe im Jahr 2015 eine Deutschprüfung auf A1 Niveau abgelegt. Den beiden in Österreich aufhältigen Söhnen der Revisionswerberin (geb. 3. Juli 2003 und 14. August 2004) sei im Juni 2020 jeweils ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 erteilt worden. Die Obsorge betreffend die beiden (zum damaligen Zeitpunkt) minderjährigen Kinder sei mit rechtskräftigem Beschluss des Bezirksgerichts D vom 30. Oktober 2015 auf die Eltern der Revisionswerberin übertragen worden, um die „Lebenschancen“ der Kinder in Österreich, insbesondere im Hinblick auf ihren Aufenthaltsstatus, zu verbessern.

Weiters lebten die Mutter sowie die Schwester der Revisionswerberin, der Ehegatte der Schwester sowie deren minderjährige Kinder im Bundesgebiet. Die Mutter sowie die Schwester der Revisionswerberin seien österreichische Staatsbürgerinnen. Der in Österreich wohnhafte Vater der Revisionswerberin verfüge über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Zwischen der Revisionswerberin und den zuletzt genannten Angehörigen bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis. Die Revisionswerberin sowie ihre beiden Kinder lebten seit ihrer Einreise in das österreichische Bundesgebiet im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern sowie der Schwester der Revisionswerberin und deren Familie. Für die Revisionswerberin seien Haftungserklärungen abgegeben worden. Ihre Mutter lebe seit spätestens 22. August 1997, ihr Vater seit spätestens 25. Mai 2004, ihre Schwester seit spätestens 22. November 2004 in Österreich. Der Ehegatte der Revisionswerberin, ein philippinischer Staatsangehöriger, lebe überwiegend in Saudi Arabien, wo er berufstätig sei. Die Großeltern, die Tante sowie mehrere Cousinen der Revisionswerberin lebten nach wie vor auf den Philippinen.

Die Revisionswerberin habe im Jahr 2007 sowie im Jahr 2008 Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Angehöriger“ bei der Österreichischen Botschaft Manila gestellt, die abgewiesen worden seien. Spätestens am 1. April 2015 sei die Revisionswerberin mittels eines Touristenvisums, gültig von 27. März 2015 bis 21. Mai 2015, in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Am 21. Mai 2015 habe sie erneut einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Angehöriger“ gestellt. Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 1. März 2018 sei dieser Antrag wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen worden. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde der Revisionswerberin sei mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 3. September 2018 keine Folge gegeben worden. Seit Ablauf der Gültigkeit ihres Visums am 21. Mai 2015 halte sich die unbescholtene Revisionswerberin daher unrechtmäßig in Österreich auf.

Zu keiner Zeit ihres Aufenthalts in Österreich sei sie einer legalen Beschäftigung nachgegangen. Sie beziehe keine Leistungen der staatlichen Grundversorgung, sei krankenversichert, nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation und verfüge mit Ausnahme ihrer Familienangehörigen über keine sozialen Kontakte in Österreich.

4 Zur Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Revisionswerberin sei die Obsorge für ihre beiden Kinder mit ihrem Einverständnis entzogen und auf ihre Eltern übertragen worden, sodass sie eine mögliche Trennung von ihren Kindern schon allein deshalb in Kauf genommen habe und eine durch eine Rückkehr der Revisionswerberin erfolgende Trennung von ihren Kindern als Eingriff in ihr Recht auf Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK gerechtfertigt erscheine. Die Obsorgeübertragung sei wie aus dem diesbezüglichen Beschluss des Bezirksgerichts hervorgehe einzig aus dem Grund erfolgt, den Kindern ein Aufenthaltsrecht in Österreich und damit eine bessere Ausbildung zu ermöglichen. Der Revisionswerberin habe jedoch bewusst sein müssen, dass sie selbst über kein Aufenthaltsrecht in Österreich verfüge und die Obsorgeübertragung folglich zu einer Trennung von ihren Kindern führen könne. Überdies sei der ältere Sohn der Revisionswerberin seit 3. Juli 2021 volljährig. Der jüngere Sohn werde im August 2022 die Volljährigkeit erlangen. Da die Söhne der BF nunmehr volljährig bzw. im Teenageralter seien, könne das Familienleben mit diesen durch elektronische Kommunikationsmittel und gegenseitige Besuche aufrechterhalten werden. Ebenso könnten die Söhne, die Staatsbürger der Philippinen seien, die Revisionswerberin in ihren Herkunftsstaat begleiten.

Dass die familiäre Nahebeziehung der Revisionswerberin zu ihren in Österreich lebenden erwachsenen Angehörigen über das normale, zwischen Eltern und volljährigen Kindern bzw. zwischen Geschwistern bestehende familiäre Band hinausginge, sei nicht dargetan worden. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass eine seitens der Eltern bzw. der Schwester gewährte finanzielle Unterstützung der Revisionswerberin nicht auch weiterhin im Falle ihrer Rückkehr auf die Philippinen zur Verfügung gestellt werden könne.

Zu Lasten der Revisionswerberin sei zudem zu berücksichtigen, dass sie nicht selbsterhaltungsfähig sei, sondern von ihren Angehörigen finanziell bzw. durch die Gewährung einer Unterkunft unterstützt werde. Besonders ausgeprägte private und persönliche Interessen habe die Revisionswerberin nicht dargetan. Sie habe in Österreich lediglich insofern Integrationsschritte gesetzt, als sie einen Deutschkurs bis zum Niveau A1 absolviert habe. Soziale Kontakte außerhalb der Familie seien nicht behauptet worden.

Ihr Privat- und Familienleben in Österreich sei auf Grund ihres illegalen Aufenthalts nur in geringem Maße schutzwürdig. Da die erwachsene Revisionswerberin den weitaus überwiegenden Teil ihres Lebens in ihrem Herkunftsstaat verbracht habe und die dortige Landessprache spreche, sei davon auszugehen, dass anhaltende Bindungen zum Herkunftsstaat bestünden, zumal dort einige ihrer Familienangehörigen lebten. Dass die Dauer des bisherigen Aufenthaltes der Revisionswerberin in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet wäre, sei nicht ersichtlich. Dass die Revisionswerberin strafgerichtlich unbescholten sei, vermöge weder ihr persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich zu verstärken, noch das öffentliche Interesse an der aufenthaltsbeendeten Maßnahme entscheidend abzuschwächen. Allein ein durch beharrliches Missachten der fremden und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften erwirkter Aufenthalt könne keinen auf Art. 8 EMRK gegründeten Rechtsanspruch bewirken. Die familiären und privaten Interessen der Revisionswerberin hätten daher gegenüber dem gewichtigen öffentlichen Interesse an der Einhaltung fremdenrechtlicher Vorschriften sowie an einem geordneten Zuwanderungswesen zurückzutreten. Mithin sei der beantragte Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 nicht zu erteilen.

Im Übrigen begründete das Verwaltungsgericht seine Entscheidung betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie die diesbezüglichen Nebenaussprüche.

In Bezug auf das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verwies das Verwaltungsgericht auf § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG).

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung im Zusammenhang mit der verwaltungsgerichtlichen Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK eine Abweichung von der hg. Rechtsprechung geltend macht.

6 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision erweist sich, weil das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zum Erfordernis der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen ist, als zulässig und berechtigt.

8 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).

9 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 9, mwN). Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0193 bis 0196, Rn. 15, mwN).

10 Vorliegend hatte sich das Verwaltungsgericht nicht zuletzt mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Konsequenzen die Versagung des beantragten Aufenthaltstitels bzw. die Erlassung der gegenständlichen Rückkehrentscheidung für das Wohl des noch minderjährigen Sohnes der Revisionswerberin hätte, der über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 verfügt und seit dem Jahr 2015 gemeinsam mit der Revisionswerberin bei den mütterlichen Großeltern in Wien wohnt, denen die Obsorge rechtskräftig zugesprochen wurde (zur Prüfung des Kindeswohls vgl. etwa VwGH 31.3.2021, Ra 2020/22/0030, Rn. 11). Der Umstand, dass die Obsorge mit Zustimmung der Revisionswerberin auf die mütterlichen Großeltern übertragen worden war, entband das Bundesverwaltungsgericht nicht davon, bei der gegenständlichen Entscheidung das Kindeswohl zu berücksichtigen.

11 Nach dem Gesagten lag in der gegenständlichen Konstellation kein „eindeutiger Fall“ vor, der es dem Bundesverwaltungsgericht ausnahmsweise erlaubt hätte, von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung abzusehen.

12 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

13 Die Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG unterbleiben.

14 Ein Antrag auf Aufwandersatz wurde von der Revisionswerberin nicht gestellt.

Wien, am 14. Juni 2022

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