Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des Y Y, vertreten durch Mag. Andreas Reichenbach, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Theobaldgasse 15/21, gegen das am 21. September 2021 mündlich verkündete und mit 25. Oktober 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L519 2237350 1/7E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1981 geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt seit Mai 2005 in Österreich. Am 31. August 2009 heiratete er eine österreichische Staatsbürgerin. Die Ehe, der keine Kinder entstammen, wurde im November 2019 im Einvernehmen geschieden. Dem Revisionswerber waren in Österreich offenbar beginnend ab Oktober 2005 wiederholt Aufenthaltstitel, zuletzt der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, erteilt worden.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 14. Juni 2019 erging gegen den Revisionswerber wegen des Vergehens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall und Abs. 3 erster Fall SMG sowie des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs. 2 SMG eine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten (davon zwölf Monate bedingt nachgesehen). Dem Schuldspruch zufolge habe er im Zeitraum vom Ende des Jahres 2016 bis zum März 2019 anderen Personen gewinnbringend Kokain in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge überlassen. Das Strafgericht ging dabei iSd § 27 Abs. 5 SMG davon aus, dass der Revisionswerber an Suchtmittel gewöhnt gewesen sei und die Taten vorwiegend deshalb begangen habe, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Darüber hinaus habe er im selben Zeitraum wiederholt Kokain ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen.
3 Das Strafgericht wertete als mildernd das teilweise überschießende Geständnis, die Sicherstellung eines erheblichen Teils des Suchtgifts und den bisher ordentlichen Lebenswandel des Revisionswerbers, als erschwerend hingegen das Zusammentreffen von zwei Vergehen.
4 Am 18. Juli 2019 wurde der Revisionswerber aus der Strafhaft entlassen und der Vollzug des unbedingten Strafteils in Anwendung des § 39 SMG aufgeschoben, um sich einer Drogentherapie zu unterziehen.
5 Mit Bescheid vom 19. Oktober 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber aufgrund des dargestellten strafbaren Verhaltens gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei, und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 55 FPG bestimmte das BFA eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise des Revisionswerbers.
6 Mit dem angefochtenen, in der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2021 verkündeten und mit 25. Oktober 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 In der Begründung bejahte das BVwG zunächst das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 ARB 1/80. Aus den vom Revisionswerber begangenen Straftaten, bei denen eine große Wiederholungsgefahr anzunehmen sei und eine massive Beeinträchtigung der Gesundheit von Menschen durch das Überlassen und den Verkauf von Drogen bestehe, sei eine gegenwärtige hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd § 52 Abs. 5 FPG abzuleiten.
8 Die Zeitspanne eines Wohlverhaltens des Revisionswerbers und Fehlens nachweisbaren Drogenkonsums sei zu kurz, um bereits einen Wegfall der von ihm ausgehenden Gefährdung annehmen zu können. Daran ändere die familiäre Bindung zu seiner nunmehrigen Lebensgefährtin (einer in Österreich aufenthaltsberechtigten bosnischen Staatsangehörigen) nichts, zumal der Revisionswerber „auch erst seit nicht einmal einem Jahr an derselben Adresse gemeldet“ sei. Ein wechselseitiges „Abhängigkeits oder Pflegschaftsverhältnis“ bestehe nicht. Die (bereits vor der in Rn. 1 erwähnten Ehescheidung eingegangene) Beziehung zu seiner Lebensgefährtin habe den Revisionswerber offensichtlich auch nicht von seinem strafbaren Verhalten abhalten können, was daher auch zukünftig nicht zu erwarten sei.
9 Im Rahmen seiner Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG die erwähnte Beziehung mit der Lebensgefährtin in Österreich, die Aufenthaltsdauer seit Mai 2005 und den Erwerb sehr guter Deutschkenntnisse. Von 2011 bis 2019 sei der Revisionswerber bei sechzehnjähriger Aufenthaltsdauer insgesamt nur sechs Jahre lang legal beschäftigt gewesen. Seit 7. September 2020 besuche er eine Facharbeiter Intensivausbildung im Bereich „Labortechnik Biochemie“; die dazugehörende Lehrabschlussprüfung solle am 16. September 2022 stattfinden. Überdies weise er näher dargestellte Sozialkontakte auf. Er habe Verbindlichkeiten von rund 40.000 €.
10 Im Herkunftsstaat lebten Angehörige des Revisionswerbers, nämlich seine Eltern und drei Schwestern. Für ihn als gesunden und arbeitsfähigen Menschen stehe zudem einer weiteren Ausbildung oder Beschäftigung in der Türkei und damit insgesamt der Möglichkeit zur Reintegration nichts entgegen. Kontakte zu in Österreich aufhältigen Personen könnten telefonisch, mittels elektronischer Medien oder im Weg von Besuchen aufrechterhalten werden.
11 Angesichts der Begehung einer besonders verpönten Straftat, des langen Tatzeitraums und in der Verhandlung zum Ausdruck kommender geringer Einsicht in das Tatunrecht führe die Abwägung nach § 9 BFA VG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK, so folgerte das BVwG abschließend, zum Ergebnis, dass die gewichtigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers in Österreich überwögen. Die durch die Aufenthaltsbeendigung bewirkte Trennung insbesondere von der Lebensgefährtin sei im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität in Kauf zu nehmen.
12 Unter Berücksichtigung der dargelegten Gesichtspunkte erwiesen sich die Rückkehrentscheidung und die Verhängung eines Einreiseverbotes für die Dauer von fünf Jahren, womit nur die Hälfte des möglichen Rahmens von bis zu zehn Jahren ausgeschöpft worden sei, als geboten und als gerade noch ausreichend.
13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
14 Die Revision erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG wie in der Revision unter Bezugnahme auf das Erkenntnis VwGH 31.8.2021, Ra 2021/21/0075, zutreffend aufgezeigt wird einschlägige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht berücksichtigt hat.
15 Das BVwG nahm nämlich im Rahmen seiner Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht darauf Bedacht, dass sich der Revisionswerber vor Begehung der in Rede stehenden Straftaten iSd § 10 Abs. 1 Z 1 StbG mehr als zehn Jahre rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hatte und davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war, was den Schluss zulässt, dass der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte. Die genannte Bestimmung normierte bis zu ihrer Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen von hier nicht gegebenen, eng gefassten Ausnahmefällen abgesehen eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden dürfe. Ungeachtet der Aufhebung dieser Bestimmung sind nach der Absicht des Gesetzgebers die im ehemaligen § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG zum Ausdruck kommenden Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiter beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12 und 13, und mehrere daran anschließende Judikate, wie beispielsweise VwGH 21.12.2021, Ra 2020/21/0262, Rn. 14, oder VwGH 31.5.2022, Ra 2020/21/0176, Rn. 11).
16 Um vor diesem Hintergrund auch unter Berücksichtigung der mit seinem langjährigen Aufenthalt verbundenen Integration und insbesondere des zuletzt geführten Familienlebens mit der Lebensgefährtin im vorliegenden Fall dennoch eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedürfte es somit einer spezifischen, aufgrund besonders gravierender Straftaten vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr. Eine derart massive Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen eines Drittstaatsangehörigen erlaubt, ist hier aber aus nachstehenden Gründen insgesamt nicht gegeben:
17 Vom BVwG wäre nämlich nicht nur auf von ihm als erschwerend angesehene Umstände wie insbesondere den langen Zeitraum der Tatbegehung Bedacht zu nehmen gewesen. Vielmehr hätte das BVwG auch einbeziehen müssen, dass wie in der Revision zutreffend geltend gemacht wird bei bisheriger langjähriger Unbescholtenheit nur eine einzige Verurteilung vorliegt, die überdies nur zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe geführt hatte. Außerdem hätte das BVwG bei der Beurteilung der Schwere des Deliktes und der daraus ableitbaren Gefährdung das auch vom Strafgericht als mildernd angesehene Geständnis berücksichtigen und einbeziehen müssen, dass weder ein Verbrechen vorlag noch qualifizierter Suchtgifthandel in Form der Verwirklichung der Tatbestände nach Abs. 2, 4 oder 5 des § 28a SMG gegeben war (siehe in diesem Sinn zu einem vergleichbaren Fall das auch in der Revision ins Treffen geführte Erkenntnis VwGH 31.8.2021, Ra 2021/21/0075, Rn. 13 bis 15).
18 Überdies hätte das BVwG dem mehr als zweijährigen Wohlverhalten des Revisionswerbers seit der Entlassung aus der Strafhaft im Juli 2018 nicht jede Bedeutung absprechen dürfen und auch auf die nach der Aktenlage (siehe den „Abschlussbericht“ vom 14. Juni 2021) erfolgreiche Absolvierung einer psychotherapeutischen Behandlung seiner Drogensucht seit 31. Juli 2019 angemessen Bedacht nehmen müssen, sind diese Umstände doch grundsätzlich geeignet, die aus dem seinerzeitigen strafrechtlichen Fehlverhalten ableitbare Gefährdung und die vom BVwG unterstellte mangelnde Einsicht in das Unrecht der Taten zu relativieren. Die Beurteilung des BVwG, bei dem in der Verhandlung vorgelegten, damals aktuellen negativen Drogentest vom 16. September 2021 handle es sich um eine nicht aussagekräftige „Momentaufnahme“, hätte aber für ihre Tragfähigkeit erfordert, entweder den Revisionswerber zum bisherigen Verlauf der Therapie (ergänzend zu dem erwähnten „Abschlussbericht“) zur Vorlage weiterer Unterlagen aufzufordern oder selbst diesbezügliche Ermittlungen anzustellen. Im Übrigen hätte auch der erkennbare Versuch zur Stabilisierung seiner Lebensverhältnisse, insbesondere in beruflicher Hinsicht, bei Erstellung der Gefährdungsprognose zu Gunsten des Revisionswerbers einbezogen werden müssen.
19 Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den genannten Gründen wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
20 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
21 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 9. Juni 2022