Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr. in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A M, vertreten durch Dr. Manfred Schiffner, Rechtsanwalt in 8054 Seiersberg Pirka, Haushamer Straße 2/4. OG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. November 2020, W195 2011948 2/16E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Bangladeschs, stellte am 21. Juli 2011 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz, in dem er geltend machte, Mitglied der Bangladesh National Party zu sein, weswegen er attackiert und zusammengeschlagen worden sei. Aufgrund dieser Mitgliedschaft sei er auch unter einem falschen Vorwand bei der Polizei angezeigt worden.
2 Mit Erkenntnis vom 31. Mai 2012 wies der (damals zuständige) Asylgerichtshof in Bestätigung eines vom Bundesasylamt erlassenen Bescheides vom 8. September 2011 den Antrag zur Gänze ab und wies den Revisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Bangladesch aus. Dieses Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.
3 Am 2. August 2016 stellte der Revisionswerber gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er vor, er sei im Mai 2016 von politischen Gegnern fälschlicherweise wegen eines Verstoßes gegen das Terrorbekämpfungsgesetz strafrechtlich angezeigt worden, woraufhin ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden sei. Er könne in seiner Heimat mit keinem fairen Verfahren rechnen und Gegner der Regierung würden im Gefängnis sterben.
4 Mit Bescheid vom 15. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Folgeantrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Bangladesch zulässig sei und räumte ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise ein.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
6 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass keine maßgebliche Änderung der asyl und abschieberelevanten Lage im Herkunftsstaat seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den ersten Antrag auf internationalen Schutz festgestellt werden könne. Die nunmehr vorgebrachten Gründe, weshalb der Revisionswerber nicht in sein Herkunftsland zurückkehren könne, seien im Wesentlichen ident mit jenen des Vorverfahrens. Die weiteren Anzeigen stellten lediglich einen Nebenaspekt der ursprünglichen Verfolgungsbehauptung dar und würden nichts an der Unglaubhaftigkeit des zentralen Vorbringens im Rahmen des rechtskräftig abgeschlossenen Erstverfahrens ändern.
7 Mit Beschluss vom 18. Jänner 2021, E 4462/2020 5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung einer gegen dieses Erkenntnis erhobenen Beschwerde ab und trat diese gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
8 In der nunmehr vorliegenden außerordentlichen Revision wird zur Zulässigkeit geltend gemacht, das BVwG sei von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, wann sich die Sach und Rechtslage gegenüber Verhältnissen, die dem die Sachentscheidung entgegengehaltenen rechtskräftigen früheren Bescheid zugrunde lagen, geändert habe, abgewichen. Der Revisionswerber habe im gegenständlichen Verfahren die in Rede stehenden Haftbefehle im Original vorgelegt. Sie seien jedoch nicht übersetzt worden, weswegen der Ermittlungspflicht nicht nachgekommen worden und die Beweiswürdigung unvertretbar sei.
9 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
11 „Sache“ des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens war die Frage, ob das BFA den Folgeantrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zu Recht wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hatte. Das BVwG hatte dementsprechend zu prüfen, ob die Behörde aufgrund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist (vgl. VwGH 11.3.2021, Ra 2021/18/0059, mwN).
12 Die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags aufgrund geänderten Sachverhalts hat von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen im Beschwerdeverfahren anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen. Es entspricht im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhalts die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukommt; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, an den eine positive Entscheidungsprognose im obigen Sinne anknüpfen kann (vgl. VwGH 31.8.2020, Ra 2020/18/0102, mwN).
13 Im gegenständlichen Asylverfahren gab der Revisionswerber unter Vorlage zweier Haftbefehle an, dass er von Mitgliedern der Regierungspartei Awami League im Juni 2016 zweimal angezeigt worden sei und zwei Haftbefehle gegen ihn vorlägen. Diese Anzeigen hätten einen politischen Hintergrund, und es würden ihm unter anderem die Teilnahme an Demonstrationen sowie das Bewerfen von Polizisten mit Molotow Cocktails vorgeworfen. Er würde bei einer Rückkehr lebenslang ins Gefängnis kommen.
14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ist ein Folgeantrag zwar wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn der Asylwerber an seinem (rechtskräftig) nicht geglaubten Fluchtvorbringen unverändert festhielte und sich auch in der notorischen Lage im Herkunftsstaat keine für den internationalen Schutz relevante Änderung ergeben hätte. Werden aber beispielsweise neue (für den internationalen Schutz relevante) Geschehnisse geltend gemacht, die sich nach dem rechtskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens ereignet haben sollen, ist es nicht rechtens, die Prüfung dieses geänderten Vorbringens bloß unter Hinweis darauf abzulehnen, dass es auf dem nicht geglaubten Fluchtvorbringen des ersten Asylverfahrens fuße. Das neue Vorbringen muss vielmehr daraufhin geprüft werden, ob es einen „glaubhaften Kern“ im Sinne der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung aufweist. Könnten die behaupteten neuen Tatsachen zu einem anderen Verfahrensergebnis führen, bedarf es einer die gesamten bisherigen Ermittlungsergebnisse einbeziehenden Auseinandersetzung mit ihrer Glaubhaftigkeit (vgl. VwGH 21.8.2020, Ra 2020/18/0157, mwN).
15 Das BVwG begründete seine Entscheidung im vorliegenden Fall damit, dass eine maßgebliche Änderung der vom Revisionswerber bereits im Erstverfahren vorgebrachten Fluchtgründe nicht festgestellt werden könne, weil sein Vorbringen bereits im Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 31. Mai 2012 als nicht glaubhaft erachtet worden sei. Abgesehen davon, dass es nicht zutreffend ist, dass der Asylgerichtshof im ersten Verfahren das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers als nicht glaubhaft erachtete, sondern seine Entscheidung auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative gründete, ist der bloße Verweis auf das nicht geglaubte Fluchtvorbringen im Erstverfahren im Sinne der dargelegten Rechtsprechung nicht zulässig.
16 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits ausgesprochen, dass ein nach rechtskräftigem Abschluss eines Asylverfahrens erlassener Haftbefehl eine maßgebliche Sachverhaltsänderung darstellen kann, der eine neue Beurteilung der vom Asylwerber geltend gemachten Fluchtgründe erfordert. Es bedarf in einem solchen Fall einer beweiswürdigenden Auseinandersetzung mit dem neuen Vorbringen, insbesondere dahingehend, ob diesem Vorbringen ein zumindest glaubhafter Kern zukommt (vgl. VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0487, mwN). Die Behörde hat sich insoweit bereits bei der Prüfung der Zulässigkeit des (neuerlichen) Asylantrags mit der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers (und gegebenenfalls mit der Beweiskraft von Urkunden) auseinander zu setzen (vgl. erneut VwGH 31.8.2020, Ra 2020/18/0102).
17 Die vorgelegten Haftbefehle wurden weder vom BFA noch vom BVwG übersetzt und auch in der mündlichen Verhandlung, in der eine Dolmetscherin für die Sprache Bengali anwesend war, nur am Rande thematisiert. Ebenso wenig fanden die vorgelegten Haftbefehle Eingang in die Beweiswürdigung des BVwG. Die Revision rügt daher zu Recht, dass das BVwG seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen und aus diesem Grund auch die Beweiswürdigung des BVwG revisibel sei.
18 Vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen des BVwG, wonach die schiere Zahl der gegen die politische Opposition eingeleiteten Klagen im Vorfeld zur 11. Parlamentswahl vom 30. Dezember 2018 auf ein ungehindertes Spielfeld und die Kontrolle der Regierungspartei über die Justiz und Sicherheitsinstitutionen hindeute und in Bangladesch harte und lebensbedrohende Haftbedingungen herrschen würden, ist auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass den behaupteten neuen Tatsachen ein glaubhafter Kern innewohnt.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
20 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
21 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf die Erstattung der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil die Umsatzsteuer vom Pauschalbetrag nach der Aufwandersatzverordnung bereits umfasst ist (vgl. etwa VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0358).
Wien, am 23. Juni 2021