JudikaturVwGhRa 2021/14/0070

Ra 2021/14/0070 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. März 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Mag. I. Zehetner als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Jänner 2021, W105 2149885 2/16E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: N R, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 7. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Februar 2017 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt IV.).

3 Mit Erkenntnis vom 29. März 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheides erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Am 7. Oktober 2019 stellte der Mitbeteiligte einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz.

5 Mit Bescheid vom 7. November 2019 wies das BFA diesen Antrag hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), gewährte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.), erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.) und trug dem Mitbeteiligten die Unterkunftnahme in einem näher bestimmten Quartier auf (Spruchpunkt VIII.).

6 Mit Erkenntnis vom 7. Jänner 2020 wies das BVwG die Beschwerde des Mitbeteiligten gegen die Spruchpunkte I., II., III., IV., V., VI. und VIII. als unbegründet ab und gab der Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes VII. des angefochtenen Bescheides insoweit statt, als das Einreiseverbot auf ein Jahr herabgesetzt wurde. Das BVwG sprach weiters aus, dass die Beschwerde „[i]m Übrigen“ abgewiesen werde und erklärte die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

7 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der das Erkenntnis des BVwG mit Erkenntnis vom 9. Juni 2020, E 587/2020 11, hinsichtlich der Entscheidung über subsidiären Schutz und der darauf aufbauenden Spruchpunkte behob und dies insbesondere mit einer unzureichenden Auseinandersetzung des BVwG mit der EASO (nunmehr: EUAA) „Country Guidance“ zu Afghanistan begründete.

8 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 13. Jänner 2021 gab das BVwG der Beschwerde des Mitbeteiligten gegen Spruchpunkt II. des bekämpften Bescheides statt und erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu. Das BVwG erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 13. Jänner 2022 und behob die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides ersatzlos. Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das BVwG für nicht zulässig.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Amtsrevision.

10 Der Mitbeteiligte erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, dass bei Zurückweisung eines Antrages durch die Behörde Sache eines Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung sei; von dieser Rechtsprechung sei das BVwG durch die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung an den Mitbeteiligten abgewichen.

13 Die Revision erweist sich bereits aus diesem Grund als zulässig und auch berechtigt.

14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Prüfung des Vorliegens der entschiedenen Sache von der rechtskräftigen Vorentscheidung auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit derselben nochmals zu überprüfen. Identität der Sache liegt dann vor, wenn sich gegenüber der früheren Entscheidung weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt. Im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt (vgl. VwGH 3.10.2023, Ra 2023/14/0178, mwN).

15 In jenem Fall, in dem das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den verfahrenseinleitenden Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat, ist insoweit „Sache des Beschwerdeverfahrens“ vor dem Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob diese Zurückweisung zu Recht erfolgt ist. Die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens ist nämlich nach der ständigen, auch über den Bereich des Asylrechts hinausgehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur jene Angelegenheit, die den Inhalt des Spruchs des Bescheides der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde gebildet hat. Dieser stellt den äußersten Rahmen dar, durch den die Angelegenheit begrenzt wird. Hat die belangte Behörde einen Antrag zurückgewiesen und wird dagegen Beschwerde erhoben, ist „Sache“ des Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht lediglich die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Zurückweisung. Das Verwaltungsgericht hat allein zu prüfen, ob die inhaltliche Behandlung des Antrages zu Recht verweigert worden ist. Mit einer meritorischen Entscheidung über den Antrag überschreitet das Verwaltungsgericht hingegen die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens (vgl. erneut VwGH 3.10.2023, Ra 2023/14/0178, mwN).

16 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis vom 19. Oktober 2021, Ro 2019/14/0006, nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. EuGH 9.9.2021, C 18/20) des Näheren mit der Vereinbarkeit der asylrechtliche Folgeanträge betreffenden Rechtslage mit den unionsrechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) befasst. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

17 Dort hat der Verwaltungsgerichtshof unter anderem ausgesprochen, dass ein Folgeantrag auf internationalen Schutz nicht allein deshalb wegen entschiedener Sache zurückgewiesen werden darf, weil der nunmehr vorgebrachte Sachverhalt von der Rechtskraft einer früheren Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz erfasst sei, ohne dass eine Prüfung im Sinn des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie vorgenommen worden wäre, ob „neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“ (vgl. VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006, Rn. 75).

18 Kommt bei dieser Prüfung hervor, dass - allenfalls entgegen den Behauptungen eines Antragstellers - solche neuen Elemente oder Erkenntnisse nicht vorliegen oder vom Antragsteller gar nicht vorgebracht worden sind, so ist eine Zurückweisung wegen entschiedener Sache weiterhin in einem Verfahren, in dem auch die Vorgaben des Kapitels II der Verfahrensrichtlinie zu beachten sind statthaft. Das gilt auch dann, wenn zwar neue Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, die Änderungen aber lediglich Umstände betreffen, die von vornherein zu keiner anderen Entscheidung in Bezug auf die Frage der Zuerkennung eines Schutzstatus führen können. Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt hat nämlich in diesen Konstellationen keine Änderung erfahren (VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006, Rn. 76).

19 Ergibt aber die Prüfung des im Folgeantrag erstatteten Vorbringens, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, ist die Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache nicht statthaft. Dies gilt im Besonderen auch dann, wenn das Vorbringen schon in einem früheren Verfahren hätte erstattet werden können und den Antragsteller ein Verschulden daran trifft, den fraglichen Sachverhalt nicht schon im früheren Verfahren geltend gemacht zu haben (VwGH 19.10.2021, Ro 2019/14/0006, Rn. 78).

20 Das BVwG hat, wie die Amtsrevision zutreffend aufzeigt, nicht bloß über die Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des Antrages auf Zuerkennung von subsidiärem Schutz durch das BFA entschieden, wie dies unter eingehenderer Auseinandersetzung mit der EASO „Country Guidance“ zu Afghanistan aufgrund der Bindung an die tragenden Gründe für die Aufhebung des Vorerkenntnisses durch den Verfassungsgerichtshof iSd. § 87 Abs. 2 VfGG und vor dem Hintergrund der Erheblichkeitsprüfung im Sinn des Art. 40 Abs. 2 und 3 Verfahrensrichtlinie (Urteil des EuGH vom 9. September 2021, C 18/20) geboten gewesen wäre. Sondern das BVwG hat (ohne dass vom BFA eine diesbezügliche Entscheidung vorlag) bereits selbst in der Sache eine meritorische Entscheidung getroffen und dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

21 Dass der „Behördenwillen“ des BFA im Bescheid vom 7. November 2019 in einer inhaltlichen Entscheidung in der Frage des subsidiären Schutzes gelegen sei, wie der Mitbeteiligte in seiner Revisionsbeantwortung vorbringt, kann der Bescheidbegründung gerade nicht entnommen werden.

22 Damit hat das Verwaltungsgericht jedoch die „Sache“ des Beschwerdeverfahrens überschritten und daher sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge seiner Unzuständigkeit belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher bereits aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG aufzuheben.

Wien, am 4. März 2024

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