JudikaturVwGH

Ra 2021/08/0073 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
20. Oktober 2021

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße in 1100 Wien, Laxenburger Straße 18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Juni 2021, W228 2239414 1/3E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: R K in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 22. Oktober 2010 sprach die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) aus, dass die Mitbeteiligte gemäß § 38 iVm. § 10 Abs. 1 AlVG für den Zeitraum 29. September 2020 bis 9. November 2020 ihren Anspruch auf Notstandshilfe verloren habe. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Mitbeteiligten wies das AMS mit Beschwerdevorentscheidung vom 11. Jänner 2021 als unbegründet ab.

2 Begründend führte das AMS aus, die Mitbeteiligte sei zu einer Schulungsmaßnahme am 29. September 2020 zugewiesen worden. Obwohl sie in Kenntnis der Maßnahme gewesen sei, sei sie unentschuldigt nicht erschienen. Die Einladung zur Schulungsmaßnahme sei der Mitbeteiligten entgegen ihren Behauptungen wirksam zugestellt worden.

3 In ihrer Beschwerde und ihrem Vorlageantrag wandte sich die Mitbeteiligte gegen die Sachverhaltsannahmen des AMS und brachte vor, eine Einladung zur Schulungsmaßnahme sei ihr nicht zugegangen. Eine Zustellung sei nicht wirksam erfolgt.

4 Mit dem angefochtenen ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge und hob die Beschwerdevorentscheidung ersatzlos auf. Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

5 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, der Mitbeteiligten sei vom AMS zunächst mitgeteilt worden, dass eine Zuweisung zu einem ab 29. September 2020 stattfindenden Kurs erfolgen werde, wobei aber der Kursort und die Uhrzeit nicht genannt worden seien. In der Folge habe das AMS eine Einladung zu dieser Schulungsmaßnahme mit eingeschriebenem Brief an die Mitbeteiligte gesandt. Die Hinterlegungsanzeige dieses Schreibens sei der Mitbeteiligten jedoch „mangels korrekter Durchführung der Hinterlegung“ nicht zugegangen. Sie habe das Schreiben daher nicht von der Post abgeholt und die Einladung nicht erhalten.

6 Seine Beweiswürdigung gründete das Bundesverwaltungsgericht auf den Akteninhalt. Die Angaben der Mitbeteiligten im Verfahren des AMS seien als glaubhaft anzusehen.

7 In rechtlicher Hinsicht liege mangels Zugangs einer Einladung keine Verweigerung der Teilnahme an einer Schulungsmaßnahme durch die Mitbeteiligte vor, sodass die Voraussetzungen eines Anspruchsverlustes nach § 10 Abs. 1 AlVG nicht gegeben seien.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des AMS, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9 Zur Zulässigkeit der Revision macht das AMS zusammengefasst geltend, das Bundesverwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine wirksame Zustellung der Einladung zur Schulungsmaßnahme an die Mitbeteiligte nicht erfolgt wäre. Die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes erweise sich als unschlüssig. In Hinblick auf die widersprechenden Prozessbehauptungen zur wirksamen Zustellung der Einladung zur Schulungsmaßnahme an die Mitbeteiligte hätte auch eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müssen. Indem das Bundesverwaltungsgericht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe, sei es von (näher bezeichneter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

10 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

11 Nach § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung dann absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 13.5.2019, Ra 2019/08/0057, mwN).

13 Das Verwaltungsgericht hat, wenn es eine zusätzliche, die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzende Beweiswürdigung vornimmt, eine solche ergänzende Beweiswürdigung regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung durchzuführen (vgl. VwGH 14.7.2021, Ra 2021/09/0019; 3.10.2017, Ra 2016/07/0002; jeweils mwN). Dies gilt umso mehr für den Fall, dass das Verwaltungsgericht die von der Verwaltungsbehörde aufgenommenen Beweismittel anders als diese würdigt und aufgrund dieser von jener der Verwaltungsbehörde abweichenden Beweiswürdigung andere entscheidungswesentliche Sachverhaltsfeststellungen trifft. Will das Verwaltungsgericht von der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung abweichend andere wesentliche Sachverhaltsfeststellungen treffen, hat es sogar ungeachtet eines Parteiantrags eine mündliche Verhandlung durchzuführen und dabei die bereits von der Verwaltungsbehörde aufgenommenen Beweismittel neuerlich aufzunehmen. Dies gilt gleichsam für den Fall, dass der entscheidungswesentliche Sachverhalt im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht strittig ist (VwGH 1.9.2020, Ra 2020/02/0148, mwN).

14 Im vorliegenden Fall lagen hinsichtlich des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes widersprechende prozessrelevante Behauptungen vor und hätte das Bundesverwaltungsgericht, wie die Revision zutreffend aufzeigt, nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung von den Sachverhaltsannahmen des AMS abgehen dürfen.

15 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung somit auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Wien, am 20. Oktober 2021

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