Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des I M, vertreten durch MMag.a Marion Battisti, Rechtsanwältin in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29. September 2020, W196 1260693 2/2E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines unbefristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
1. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird insoweit, als damit die gegen den zugrunde liegenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25. Juni 2020 erhobene Beschwerde auch hinsichtlich der Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
2. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
1 Der am 25. Februar 1993 geborene und aus Tschetschenien stammende Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte nach der Einreise in das Bundesgebiet, bezogen auf seine Mutter, am 29. Jänner 2004 einen Asylerstreckungsantrag. Dieser Antrag wurde abgewiesen. Mit Bescheid vom 10. Februar 2011 stellte die Bundespolizeidirektion Innsbruck unter Hinweis auf die lange Verfahrensdauer fest, dass eine Ausweisung des Revisionswerbers auf Dauer unzulässig sei.
In der Folge wurden dem Revisionswerber Aufenthaltstitel, zuletzt eine bis zum 4. April 2018 gültige „Rot Weiß Rot Karte plus“ erteilt. Danach verfügte er unbestritten über keine Aufenthaltsberechtigung im Bundesgebiet.
2 Mit rechtskräftigem Urteil vom 11. Oktober 2012 verhängte das Landesgericht Innsbruck über den Revisionswerber wegen des am 15. August 2012 in Innsbruck begangenen Verbrechen des versuchten Raubes (von Zigaretten) sowie des Vergehens der Körperverletzung eine (zum Teil bedingt nachgesehene) zwölfmonatige Freiheitsstrafe.
3 Mit weiterem rechtskräftigen Urteil vom 26. Juni 2013 verhängte das Oberlandesgericht Innsbruck in Abänderung eines Urteils des Landesgerichtes Innsbruck über den Revisionswerber wegen der Vergehen der Veruntreuung (von 1.670, Euro Bargeld und Zigaretten am 20. November 2011), der Fälschung eines Beweismittels und der Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung (durch Vortäuschung und Anzeige eines Raubüberfalls am 20. November 2011 unter Anfertigung entsprechender Videoaufzeichnungen) eine Zusatzgeldstrafe (von 60 Tagessätzen) unter Bedachtnahme auf das vorgenannte Urteil.
4 Mit rechtskräftigem Urteil vom 8. Februar 2013 (Bezirksgericht Innsbruck) war gegen den Revisionswerber wegen des am 18. November 2012 begangenen Vergehens der Körperverletzung (Versetzen eines Faustschlages gegen das Gesicht seines Kontrahenten, wodurch dieser eine Prellung erlitten hatte) eine (unbedingte) einmonatige Freiheitsstrafe ergangen.
5 Mit weiterem rechtskräftigen Urteil vom 1. August 2017 verhängte das Bezirksgericht Innsbruck über den Revisionswerber neuerlich wegen des Vergehens der Körperverletzung (durch Versetzen eines Kopfstoßes gegen seinen Kontrahenten am 5. Februar 2017) eine Geldstrafe von 300 Tagessätzen.
6 Schließlich verhängte das Landesgericht Innsbruck mit rechtskräftigem Urteil vom 24. April 2018 gegen den Revisionswerber wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels eine (unbedingte) Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Er hatte im September 2017 3000 Gramm Cannabiskraut von Tschechien über einen unbekannten Grenzübergang nach Österreich eingeführt sowie dieses Suchtgift an seinen Bruder weitergegeben. Der Revisionswerber befand sich bis zu seiner bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug am 23. Mai 2020 in Strafhaft.
7 Mit Bescheid vom 25. Juni 2020 erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005. Es erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und bestimmte gemäß § 55 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise. Weiters erließ es gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot.
8 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 29. September 2020 als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
9 Begründend verwies das BVwG vor allem auf die erwähnten strafgerichtlichen Verurteilungen und die ihnen zu Grunde liegenden Tathandlungen.
Der Revisionswerber sei gesund und arbeitsfähig. In Österreich habe er die Hauptschule absolviert und eine kaufmännische Lehre abgeschlossen, sei insgesamt jedoch nur 15 Monate lang Erwerbstätigkeiten nachgegangen und habe ansonsten staatliche Unterstützung bezogen. Auch zuletzt sei er ohne Beschäftigung gewesen. Er spreche Deutsch und Tschetschenisch sowie „schlecht“ Russisch. Seine Mutter und seine Schwester lebten, ebenso wie sein Bruder, gegen den jedoch ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme anhängig sei, in Österreich. Es bestehe weder ein Abhängigkeitsverhältnis des Revisionswerbers zu seinen Familienangehörigen, noch ein gemeinsamer Haushalt. Seit dem 25. Mai 2020 wohne er gemeinsam mit seiner Verlobten, einer österreichischen Staatsbürgerin. Sein Vater, die Großeltern sowie ein Onkel hielten sich noch in der Russischen Föderation auf.
Im Hinblick auf die (in Rn. 2 bis 6 dargestellte) massive und von wiederholter Gewaltanwendung gekennzeichnete, zuletzt auf den besonders schädlichen Bereich grenzüberschreitender Drogenkriminalität ausgedehnte und damit noch gesteigerte Straffälligkeit, derentwegen er bereits wiederholt das Haftübel verspürt habe, sei von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit auszugehen, die eine Rückkehrentscheidung erfordere sowie auch das auf unbefristete Dauer verhängte Einreiseverbot rechtfertige und als verhältnismäßig erscheinen lasse. Auch die Trennung von den in Österreich lebenden Angehörigen, zu denen Kontakte telefonisch oder durch elektronische Kommunikation aufrechterhalten werden könnten, sei in Kauf zu nehmen. Dies gelte auch in Bezug auf die Verlobte, zumal die Lebensgemeinschaft mit ihr erst während prekären und illegalen Aufenthalts des Revisionswerbers eingegangen worden sei, dem somit bewusst gewesen sei, nicht gemeinsam mit ihr im Bundesgebiet verbleiben zu können. Zudem fehle jedenfalls eine außergewöhnliche in Österreich erreichte Integration. Mit der Möglichkeit einer Reintegration im Herkunftsstaat, wo er bis zum Alter von zehn Jahren aufgewachsen sei, die Sozialisierung erfahren und die Schule besucht habe sowie die Sprache beherrsche, sei zu rechnen. Es seien auch keine Gründe etwa eine Gefährdung im Hinblick auf die Sicherheits- und Menschenrechtslage im Herkunftsstaat ersichtlich, die gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprächen.
Von der Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG abgesehen werden können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine. Das Eingehen einer Lebensgemeinschaft mit einer Österreicherin sei der Entscheidung zu Grunde gelegt worden, habe jedoch keinen anderen Ausgang des Verfahrens erlaubt.
10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
11 Die Revision erweist sich - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - aus nachstehenden Gründen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG teilweise als zulässig und insoweit auch als berechtigt.
12 Der Revisionswerber wendet sich - vor allem unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung der Verhandlungspflicht - gegen die vom BVwG nach § 9 BFA VG vorgenommene Interessenabwägung und, der Sache nach insgesamt die Gefährdungsprognose ansprechend, gegen die unbefristete Dauer des Einreiseverbotes.
13 Mit seinen Ausführungen zur Interessenabwägung ist der nunmehr unbestritten unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältige Revisionswerber, der damit den Rückkehrentscheidungstatbestand nach § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erfüllt, zunächst darauf zu verweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage beruht und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgt ist nicht revisibel iSd Art. 133 Abs. 4 B VG ist (vgl. VwGH 9.11.2020, Ra 2020/21/0417, Rn. 14, mwN).
14 Das ist hier der Fall. Die in der Revision hervorgehobene Dauer der Beziehung mit seiner Verlobten, einer österreichischen Staatsbürgerin, erscheint nämlich schon durch die lange Anhaltung des Revisionswerbers in Strafhaft als relativiert. Ebenso fällt der seinerzeitige gemeinsame Haushalt mit der Mutter bis zu seiner Inhaftierung im Jänner 2018 aufgrund der verbüßten Haft sowie des Lebensalters des Revisionswerbers nicht mehr entscheidend ins Gewicht.
15 Bei dem insoweit ergänzend in der Revision erstatteten Vorbringen, mit der damaligen und seit Anfang September 2020 schwangeren Lebensgefährtin am 7. November 2020 die Ehe eingegangen zu sein, handelt es sich im Übrigen um im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof unbeachtliche Neuerungen.
16 Auch wären, sollten sich Angehörige des Revisionswerbers aktuell nicht (mehr) im Herkunftsstaat aufhalten, wie die Revision geltend macht, allfällige dadurch erhöhte Schwierigkeiten bei der Integration auf Grund des großen öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung in Kauf zu nehmen.
17 In Bezug auf die Rückkehrentscheidung durfte das BVwG angesichts der gesamten Umstände dieses im Ergebnis insoweit klaren Falles vor dem Hintergrund des hier einschlägigen § 21 Abs. 7 BFA VG in vertretbarer Weise auch von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber absehen.
Dem BVwG ist auch darin zuzustimmen, dass vom Aufenthalt des Revisionswerbers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht.
18 Bei der Festsetzung der in der Revision schließlich angesprochenen Dauer des Einreiseverbotes ist aber immer eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, bei der nicht nur auf das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen und das deshalb prognostizierte Vorliegen der von ihm ausgehenden Gefährdung, sondern auch auf seine privaten und familiären Interessen Bedacht zu nehmen ist. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Revision, soweit sie die unbefristete Dauer des Einreiseverbotes bekämpft, als zulässig und als berechtigt.
19 Zwar hat das BVwG nämlich die privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers bei seiner Beurteilung, dass er nach wie vor eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, angesprochen, es hat aus diesen Interessen aber keine ersichtlichen Schlussfolgerungen in Bezug auf die Dauer des über ihn verhängten Einreiseverbotes gezogen. Es ließ also insbesondere, erkennbar in Verkennung der Rechtslage, offen, warum ungeachtet der langen Aufenthaltsdauer sowie des Maßes der dabei erreichten sprachlichen, familiären und zum Teil auch beruflichen Integration ein grundsätzlich auf Lebenszeit angelegtes Fernbleiben vom Bundesgebiet gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinn etwa VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0009, Rn. 35 bis 37, sowie VwGH 30.4.2020, Ra 2019/21/0244, Rn. 24 und 25).
20 In Bezug auf die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes ist das angefochtene Erkenntnis somit schon deshalb mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes behaftet, weshalb es insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
21 Im Übrigen war die Revision mangels Vorliegens einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
22 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 VwGG, iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 6. April 2021