Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Mai 2020, W140 2228228 1/19E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: W B, im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Algeriens, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 15. Juli 2015 unter Verwendung einer Aliasidentität und Vorgabe, ägyptischer Staatsangehöriger zu sein, einen Antrag auf internationalen Schutz. Das hierüber geführte Verfahren wurde, nachdem der Mitbeteiligte nach Frankreich (eigenen Angaben zufolge nach Paris) ausgereist und sein Aufenthalt (in Österreich) unbekannt war, am 22. September 2015 gemäß § 24 Abs. 2 AsylG 2005 eingestellt.
2 Bereits mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 12. August 2015 war der Mitbeteiligte, insbesondere wegen (versuchten) gewerbsmäßigen Diebstahls, zu einer (bedingt nachgesehenen) dreimonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.
3 Mit rechtskräftigem Urteil vom 13. Jänner 2020 verhängte das Landesgericht Korneuburg über den wieder nach Österreich eingereisten Mitbeteiligten wegen schweren gewerbsmäßigen Diebstahls, Urkundenunterdrückung, Entfremdung unbarer Zahlungsmittel und Fälschung einer besonders geschützten Urkunde eine zwölfmonatige Freiheitsstrafe (davon neun Monate bedingt nachgesehen). Er verbüßte den unbedingt verhängten Strafteil, unter Anrechnung einer Vorhaft, bis zum 17. Jänner 2020.
4 Mit Bescheid vom 16. Jänner 2020 hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ausgesprochen, dass dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Es hatte gegen ihn gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Algerien zulässig sei, und unter Hinweis auf die wiederholte Straffälligkeit gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG erkannte das BFA einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demzufolge gemäß § 55 Abs. 4 FPG dem Mitbeteiligten keine Frist für die freiwillige Ausreise.
5 Ebenfalls mit Bescheid vom 16. Jänner 2020 hatte das BFA über den Mitbeteiligten gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet, die nach seiner Entlassung aus der Strafhaft am 17. Jänner 2020 vollzogen wurde.
6 Begründend berief sich das BFA auf den Gebrauch zahlreicher Aliasidentitäten durch den über keinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich verfügenden Mitbeteiligten, sein Untertauchen und die Ausreise nach Stellung des in Rn. 1 erwähnten Antrags auf internationalen Schutz, den Gebrauch eines gefälschten italienischen Ausweises sowie das Fehlen jeglicher sozialer, beruflicher oder familiärer Integration in Österreich. Das BFA bejahte demnach das Vorliegen von Fluchtgefahr nach den Kriterien des § 76 Abs. 3 Z 3 und 9 FPG. Unter Berücksichtigung des bisherigen Verhaltens des Mitbeteiligten könne mit einer Anwendung gelinderer Mittel (aktuell) nicht das Auslangen gefunden werden.
7 Die Schubhaft wurde vom 17. Jänner 2020 bis zum 5. Februar 2020 (Enthaftung durch das BFA unter Anordnung gelinderer Mittel, nämlich einer Unterkunftnahme und eines Auftrages zu polizeilichen Meldungen) vollzogen.
8 Am 18. Jänner 2020 hatte der Mitbeteiligte neuerlich die Gewährung von internationalem Schutz beantragt.
9 Mit Aktenvermerk vom 19. Jänner 2020 hielt das BFA zur Aufrechterhaltung der Schubhaft fest, dass iSd § 76 Abs. 6 FPG Gründe zur Annahme bestünden, dass dieser Antrag auf internationalen Schutz zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden sei. Die Anhaltung in Schubhaft bleibe aufrecht, weil die Voraussetzungen hierfür vorlägen. Für die Höchstdauer gelte § 80 Abs. 5 FPG.
Begründend bezog sich das BFA neben der Stellung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz am zweiten Tag der Anhaltung in Schubhaft darauf, dass bereits eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot (vom 16. Jänner 2020 laut Rn. 4) vorliege. Dazu komme, dass das Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz des Mitbeteiligten „wegen Untertauchens im Jahr 2015 eingestellt“ worden sei.
10 Mit Bescheid vom 28. Jänner 2020 wies das BFA den vom Mitbeteiligten am 18. Jänner 2020 gestellten Antrag auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab. Es erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Algerien zulässig sei. Es erkannte einer Beschwerde „gegen diese Entscheidung“ gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 und 4 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab, sprach aus, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe und erließ schließlich gemäß § 53 Abs. 1 und 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot.
11 Mit Erkenntnis vom 20. Februar 2020 behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) über Beschwerde des Mitbeteiligten den die Rückkehrentscheidung sowie das Einreiseverbot betreffenden Bescheid des BFA vom 16. Jänner 2020 (laut Rn. 4) ersatzlos. Begründend erachtete das BVwG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt dem darauf aufbauenden Einreiseverbot für unzulässig, bevor über den anhängigen Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz (rechtskräftig) abgesprochen worden sei.
12 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 18. Mai 2020 hob das BVwG über (nach § 22a Abs. 1 BFA VG erhobene) Beschwerde des Mitbeteiligten vom 31. Jänner 2020 den Schubhaftbescheid des BFA vom 16. Jänner 2020 (laut Rn. 5 und 6) auf. Gleichzeitig erklärte es die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 17. Jänner 2020 bis zum 5. Februar 2020 für rechtswidrig. Es verhielt den Bund gemäß § 35 VwGVG zum Ersatz des Schriftsatzaufwandes des Mitbeteiligten und wies gleichzeitig den Antrag das BFA auf Aufwandersatz ab sowie den Antrag des Mitbeteiligten auf Ersatz seiner Eingabengebühr von € 30, zurück. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG schließlich aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
13 Begründend verwies das BVwG auf die Behebung des in Rn. 4 dargestellten Bescheides des BFA vom 16. Jänner 2020 durch Erkenntnis des BVwG vom 20. Februar 2020. Diese Entscheidung wirke gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG ex tunc, versetze die Sache also in den Stand vor dem Ergehen des ersatzlos behobenen Bescheides zurück. Das BFA habe den vorliegend bekämpften, auf § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gestützten Schubhaftbescheid (nur) zur Sicherung der Abschiebung des Mitbeteiligten erlassen. Aufgrund der ex tunc erfolgten Behebung des Bescheides vom 16. Jänner 2020 liege im Zeitpunkt der Schubhaftverhängung keine Rückkehrentscheidung mehr vor, weshalb sich die zur Sicherung der Abschiebung verhängte Schubhaft als rechtswidrig erweise. Diese Wirkung erstrecke sich auf den gesamten Zeitraum der Anhaltung.
Dazu komme, dass sich das BFA in seinem am 19. Jänner 2020 gemäß § 76 Abs. 6 FPG erstellten Aktenvermerk (neben der durchsetzbaren Rückkehrentscheidung und dem Einreiseverbot) darauf berufen habe, dass das Verfahren über den ersten Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz im Jahr 2015 wegen Untertauchens eingestellt worden sei. Aufgrund des Umstandes, dass dieser Antrag jedoch bereits rund fünf Jahre zurückgelegen sei, hätte das BFA nicht ohne Hinzutreten weiterer Gesichtspunkte davon ausgehen dürfen, dass der nunmehrige Antrag lediglich zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden sei. Die Umgehungsabsicht des Mitbeteiligten wäre vielmehr nachvollziehbarer zu begründen gewesen.
Den Ausspruch über den Aufwandersatz stützte das BVwG auf § 35 Abs. 1 VwGVG. Der Mitbeteiligte habe als vollständig obsiegende Partei Anspruch auf Ersatz seines Schriftsatzaufwandes, dem BFA gebühre als unterlegener Partei hingegen kein Kostenersatz. Das Begehren des Mitbeteiligten auf Ersatz seiner Eingabengebühr sei mangels gesetzlicher Grundlage zurückzuweisen gewesen.
14 Über die gegen dieses Erkenntnis in Bezug auf die zurückweisende Entscheidung (hinsichtlich der Eingabengebühr) zugunsten des Mitbeteiligten erhobene Amtsrevision des BFA hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen:
15 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
16 Das BFA weist der Sache nach zutreffend darauf hin, dass wenn die Schubhaft auch mit Bescheid angeordnet wird durch § 22a Abs. 1a BFA VG für Schubhaftbeschwerden das für Maßnahmenbeschwerden geltende Verfahrensrecht für anwendbar erklärt wird.
17 Demnach war es Aufgabe des BVwG, den Schubhaftbescheid und in weiterer Folge die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft einer nachträglichen Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung war nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit des konkret erlassenen Bescheides zu beurteilen, also zu klären, ob es am 16. Jänner 2020 aus damaliger Sicht rechtens war, über den Mitbeteiligten Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen und diese Schubhaft ab dem Tag darauf zu vollziehen (vgl. dazu etwa VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007, Rn. 11; VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0122, Rn. 9; VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0198, Rn. 21; VwGH 12.11.2020, Ra 2020/21/0279, Rn. 7, und VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0004, Rn. 21).
18 Vor diesem Hintergrund ist es entgegen der vom BVwG vertretenen Ansicht unerheblich, dass die Behebung des in Rn. 4 dargestellten Bescheides des BFA vom 16. Jänner 2020, mit dem insbesondere eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen worden war, durch Erkenntnis des BVwG vom 20. Februar 2020 (laut Rn. 11) mit ex tunc Wirkung erfolgte; denn die Frage, ob der Schubhaftbescheid im Zeitpunkt seiner Erlassung aus damaliger Sicht in die die spätere Behebung der Rückkehrentscheidung nicht einbezogen werden konnte rechtens war, bleibt davon unberührt.
Ergebnis ist somit, dass der vom Mitbeteiligten erhobenen Schubhaftbeschwerde nicht schon deshalb stattgegeben hätte werden dürfen, weil der Bescheid des BFA vom 16. Jänner 2020 nachträglich behoben wurde.
19 In Bezug auf die Anhaltung des Mitbeteiligten nach Stellung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz am 18. Jänner 2020 hat das BVwG die Beschwerdestattgebung aber ergänzend darauf gestützt, die Begründung im gemäß § 76 Abs. 6 FPG erstellten Aktenvermerk reiche nicht für die Annahme aus, dass der nunmehrige Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz lediglich zur Verzögerung der Vollstreckung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden sei. Auch diese Überlegung erweist sich im Ergebnis als verfehlt.
20 Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die detaillierten Ausführungen im Erkenntnis VwGH 18.2.2021, Ra 2021/21/0025, insbesondere Rn. 23 und 25, verwiesen werden. Darin hat der Verwaltungsgerichtshof näher dargelegt, dass eine unzureichende Begründung des Aktenvermerks oder diesbezüglich mangelhafte Ermittlungen des BFA nicht schon für sich genommen die Rechtswidrigkeit der Aufrechterhaltung der Schubhaft nach sich ziehen. Dem Aktenvermerk kommt nämlich in erster Linie Rechtsschutzfunktion zu und er stellt keinen die Schubhaft anordnenden Bescheid dar. Dass das BVwG in Bezug auf den Schubhaftbescheid nur eine nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit des „konkret erlassenen Bescheides“ vorzunehmen hat, lässt sich daher auf den Aktenvermerk im Sinne des § 76 Abs. 6 FPG nicht übertragen. Vielmehr ist vom BVwG zu klären, ob es aus damaliger Sicht rechtens war, dem Schubhäftling bei Stellung des Antrags auf internationalen Schutz eine Verzögerungs- oder Vereitelungsabsicht im Sinne der genannten Bestimmung zu unterstellen. In diesem Sinn ist vom BVwG auch nur eine „nachträgliche Kontrolle“ durchzuführen, die sich allerdings nicht auf die Tragfähigkeit der Begründung des diesbezüglichen Aktenvermerks beschränken darf; lediglich erst nach diesem Zeitpunkt eingetretene Tatsachen dürften vom BVwG nicht berücksichtigt werden.
21 Indem das BVwG im angefochtenen Erkenntnis von einer davon abweichenden Rechtsansicht ausging, belastete es die angefochtene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
22 Schließlich weist das BFA in der (insoweit zugunsten des Mitbeteiligten erhobenen) Amtsrevision zutreffend darauf hin, dass die Zurückweisung des Antrags auf Ersatz der Eingabengebühr von € 30, nicht dem Gesetz entspricht. Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Ausführungen im Erkenntnis VwGH 28.5.2020, Ra 2019/21/0336, Rn. 29, verwiesen werden.
23 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 11. März 2021