Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. September 2020, 1. L504 2223333 2/2E, 2. L504 2176051 1/14E, 3. L504 2176047 1/11E, 4. L504 2176048 1/11E und 5. L504 2176049 1/11E, betreffend Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Parteien: 1. R N in W, 2. R N, 3. A N, 4. L N, und 5. M N, diese in K und vertreten durch Mag. Philipp Tschernitz, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Glasergasse 2), zu Recht erkannt:
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Die mitbeteiligten Parteien sind staatenlose Palästinenser und stammen aus dem Gazastreifen. Der Erstmitbeteiligte und die Zweitmitbeteiligte sind miteinander verheiratet, die dritt- bis fünftmitbeteiligten Parteien sind deren Kinder.
2 Die zweit- bis fünftmitbeteiligten Parteien stellten am 18. Dezember 2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Der Erstmitbeteiligte beantragte am 11. Mai 2019 die Gewährung von internationalem Schutz nach dem AsylG 2005.
3 Mit den Bescheiden je vom 2. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der zweit- bis fünftmitbeteiligten Parteien ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, sprach aus, dass ihre Abschiebung in die „palästinensischen Autonomiegebiete/Gaza“ zulässig sei, und setzte eine Frist für ihre freiwillige Ausreise fest. Betreffend den Erstmitbeteiligten erging mit Bescheid des BFA vom 22. April 2020 eine inhaltlich gleichlautende Entscheidung.
4 Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Bundesverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren die Bescheide vom 2. Oktober 2017 sowie den Bescheid vom 22. April 2020 auf und verwies die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 (zweiter Satz) VwGVG an das BFA zurück. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Gericht für nicht zulässig.
5 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, das BFA habe festgestellt, dass die mitbeteiligten Parteien staatenlose Palästinenser seien und aus dem Gazastreifen stammten. Die Behörde habe ihrer Entscheidung die Auffassung zugrunde gelegt, dass die „palästinensischen Gebiete“ als „Herkunftsstaat“ der mitbeteiligten Parteien zu betrachten seien. Sie habe zur Situation in diesen Gebieten Feststellungen getroffen und eine Gefährdung der mitbeteiligten Parteien im Fall ihrer Rückkehr in diese Gebiete geprüft.
6 Die Behörde habe dabei außer Acht gelassen, dass sich wie sich (erstmals) aus den Angaben des Erstmitbeteiligten im Rahmen seiner niederschriftlichen Befragung vor dem BFA am 4. Juni 2019 ergeben habe der legale gewöhnliche Aufenthalt des Erstmitbeteiligten seit dem Jahr 2003, somit bereits sechzehn Jahre vor dessen Einreise nach Österreich, und der legale gewöhnliche Aufenthalt der Zweitmitbeteiligten seit dem Jahr 2008, somit schon sieben Jahre vor deren Einreise in das Bundesgebiet, nicht mehr in den „palästinensischen Gebieten“, sondern in den Vereinigten Arabischen Emiraten befunden habe. Die dritt- bis fünftmitbeteiligten Parteien seien in den Vereinigten Arabischen Emiraten geboren und hätten sich dort legal aufgehalten. Darüber hinaus sei der Erstmitbeteiligte in diesem Staat seit dem Jahr 2003 beruflich tätig gewesen.
7 Die Vereinigten Arabischen Emirate seien daher als Staat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts der mitbeteiligten Parteien im Sinn von § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 zu qualifizieren. Es habe sich nicht nur um eine vorübergehende Nahebeziehung zu diesem Land gehandelt, sondern es habe sich dort auch für mehrere Jahre der private und berufliche Mittelpunkt der Familie befunden.
8 Das BFA habe folglich nicht den zutreffenden Herkunftsstaat geprüft, weshalb der entscheidungswesentliche Sachverhalt durch die Behörde qualifiziert mangelhaft ermittelt worden und für die Entscheidungsfindung notwendige Ermittlungen über weite Strecken gänzlich unterblieben seien. Das Bundesverwaltungsgericht hätte nicht nur Ergänzungen des Ermittlungsverfahrens vorzunehmen, sondern müsste vielmehr als „erste Instanz“ die erforderlichen Ermittlungsschritte setzen. Eine „Weiterführung“ des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht wäre nicht mit einer Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden und führte nicht zu einer wesentlichen Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens. Für das Bundesverwaltungsgericht bestehe im Fall der Einholung neuer Berichte die Verpflichtung zur Durchführung einer Verhandlung. Dies verursache, insbesondere in einem Mehrparteienverfahren, einen wesentlichen Mehraufwand gegenüber dem verwaltungsbehördlichen Verfahren, in dem die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme zur Wahrung des Parteiengehörs grundsätzlich ausreichend sei. Das BFA verfüge zudem über wesentlich besser ausgestattete personelle Ressourcen als das Bundesverwaltungsgericht. Die Annahme, der die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Behörde zurückverweisende Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts führe jedenfalls zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer, sei rein spekulativ, weil es statistisch belegt sei, dass nicht jeder Bescheid des BFA im Rechtsmittelweg bekämpft werde. Wenn die Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchführe und im Bescheid eine nachvollziehbare Beweiswürdigung sowie rechtsrichtige Beurteilung des Antrags der Parteien vornehme, sei auch mit einer höheren Akzeptanz der behördlichen Entscheidung zu rechnen.
9 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit insbesondere geltend macht, dass die Voraussetzungen für eine aufhebende und zurückverweisende Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht vorgelegen seien.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Revision samt der Verfahrensakten sowie nach Einleitung des Vorverfahrens es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist wie von ihr aufgezeigt und im Folgenden dargestellt wird zulässig und berechtigt.
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist in § 28 VwGVG ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 26.3.2019, Ra 2018/19/0556, mwN).
13 Von der Möglichkeit der Zurückverweisung darf nur bei krassen und besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0123; 14.12.2016, Ro 2016/19/0005, jeweils mwN; siehe auch VwGH 24.6.2020, Ra 2020/19/0074, mwN, wonach dann, wenn lediglich ergänzende Ermittlungen vorzunehmen sind, die ergänzende Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht im Interesse der Raschheit im Sinn des § 28 Abs. 2 Z 2 erster Fall VwGVG liegt).
14 Im vorliegenden Fall ergeben sich keine krassen und besonders gravierenden Ermittlungslücken im Sinn der dargestellten Rechtsprechung. Insbesondere könnten auch die Notwendigkeit der Ergänzung von Länderberichten sowie das Erfordernis der Durchführung einer Verhandlung für sich eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht rechtfertigen (siehe etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/20/0409).
15 Da das Bundesverwaltungsgericht zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ausging, belastete es den angefochtenen Beschluss mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieser war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das übrige Revisionsvorbringen hätte eingegangen werden müssen.
16 Für das fortzusetzende Verfahren wird zudem auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 15. Februar 2021, Ra 2021/01/0011, hingewiesen.
Wien, am 15. März 2021