JudikaturVwGH

Ra 2020/18/0439 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
07. Juni 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 9. Jänner 2020 mündlich verkündete und am 9. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W172 2214023 1/27E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: E A), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan schiitischen Glaubens, der im Iran geboren wurde und niemals in Afghanistan gelebt hat, stellte am 10. Juni 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er habe im Iran gemeinsam mit Freunden Alkohol konsumiert, weshalb die Polizei sie festgenommen habe. Einer der Freunde, der auch Drogen genommen habe, sei von der Polizei geschlagen worden und noch in derselben Nacht verstorben. Der Mitbeteiligte selbst sei vor Gericht gestellt und zu 80 Peitschenhieben verurteilt worden. Um der Strafe zu entgehen und weil ihn der Vater des verstorbenen Freundes, der ihn für den Tod seines Sohnes verantwortlich gemacht habe, wiederholt bedroht habe, sei er geflohen.

2 Mit Urteil vom 18. Oktober 2018 erkannte das Landesgericht Steyr den Mitbeteiligten für schuldig, er habe „Suchtgift, nämlich Cannabiskraut, [...] anderen, und zwar teils Minderjährigen gewinnbringend überlassen [...] [und] Cannabiskraut [...] ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und [...] zum Eigenkonsum besessen“. Das Landesgericht Steyr verurteilte den Mitbeteiligten wegen Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1, Abs. 2 und Abs. 4 SMG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von fünf Monaten. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Mit Urteil vom 12. Dezember 2018 sprach das Landesgericht Steyr den Mitbeteiligten weiterer Delikte nach denselben Bestimmungen des SMG für schuldig; von der Verhängung einer Zusatzstrafe wurde abgesehen.

3 Mit Bescheid vom 18. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (die amtsrevisionswerbende Partei) den Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, erließ gegen ihn ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot, gewährte ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise und stellte fest, dass er sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 7. Dezember 2018 verloren habe.

4 Der dagegen vom Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status eines Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

5 Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte, ein schiitischer Moslem, sei im Iran in einem vergleichsweise säkularen Umfeld sozialisiert worden. Er halte sich nicht an islamische Vorschriften und habe eine säkular liberale Weltanschauung. Er führe in Österreich eine westlich geprägte Lebensweise. Aufgrund dieser Lebensweise bzw. Lebenseinstellung drohe ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan Lebensgefahr oder ein Eingriff in seine körperliche Integrität.

6 In der Beweiswürdigung hielt das BVwG fest, es zeige sich beim Mitbeteiligten „eine Kontinuität einer hedonistischen und säkularen Einstellung“. Seine ablehnende und gleichgültige Haltung gegenüber religiösen Konventionen sei schon im Iran durch Alkohol und Drogenkonsum sichtbar geworden und habe sich auch in Österreich fortgesetzt. Durch seine urban geprägte Sozialisation im Iran sei er offener gegenüber westlich-liberalen Wertehaltungen und Lebensstilen eingestellt, was seine Eingliederung in die österreichische Gesellschaft in kultureller und sozialer Hinsicht erleichtert und beschleunigt habe. „Daran“ könnten auch seine strafgerichtlichen Verurteilungen wegen Suchtmittelvergehen nichts ändern, da „aus diesen für sich gesehen nur der Vorwurf eines fehlenden rechtskonformen Verhaltens abgeleitet werden kann“. Der Mitbeteiligte habe „mit seiner verwestlichten Haltung, zudem mit seinem authentischen Auftreten in der mündlichen Verhandlung [...] sehr überzeugend auf das erkennende Gericht“ gewirkt. Auch den im angefochtenen Erkenntnis nicht wiedergegebenen Aussagen des in der Verhandlung einvernommenen Zeugen habe gefolgt werden können.

7 In der rechtlichen Würdigung hielt das BVwG fest, die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen, unter denen Frauen aufgrund eines gelebten westlich orientierten Lebensstils Asyl beanspruchen könnten, würde sinngemäß auch für Männer gelten. Die Abkehr des Mitbeteiligten vom Islam sei durch die Nichtbefolgung religiöser Vorschriften und seine Hinwendung zu einer säkular liberalen bzw. nicht konfessionellen Einstellung auch nach außen hin erkennbar und stehe „im völligen Gegensatz“ zu den in Afghanistan vorherrschenden religiösen Zwängen und Dogmen. Es könne mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Mitbeteiligte bei einer Rückkehr nach Afghanistan seine nicht-islamische Überzeugung und daran orientierte Lebensführung nach außen tragen würde bzw. könne ihm nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht „zugesonnen“ werden, seine innere Einstellung dauerhaft zu verleugnen. Dem Mitbeteiligten drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung als verwestlichte Person schon durch die einfache Bevölkerung, die von traditionell islamischen Vorstellungen geprägt sei. Darüber hinaus sei auch eine Verfolgung durch islamistische Gruppierungen oder fundamentalistische Einzelpersonen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative sei nicht gegeben, zumal der Mitbeteiligte im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan aufgrund seiner Apostasie bzw. säkular-liberalen Haltung einem erhöhten Sicherheitsrisiko ausgesetzt sei. Weiters sei davon auszugehen, dass der afghanische Staat nicht willens und in der Lage sei, den Mitbeteiligten entsprechend zu schützen.

8 Dagegen richtet sich die außerordentliche Amtsrevision, die zur Begründung ihrer Zulässigkeit insbesondere geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht von Entscheidungen abgewichen, weil es sich nicht mit der Aussage der EASO Richtlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 auseinandergesetzt habe, für als verwestlicht wahrgenommene Männer sei das Verfolgungsrisiko minimal und abhängig von den spezifischen individuellen Umständen, und weil es in aktenwidriger Weise einen Abfall des Mitbeteiligten vom Islam angenommen habe.

9 Der Mitbeteiligte erstattete zu dieser Revision eine Revisionsbeantwortung.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig und begründet.

12 Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 4.4.2022, Ra 2021/19/0227, mwN).

13 Die Amtsrevision macht zu Recht geltend, dass sich das BVwG nicht mit der genannten Aussage der im Zeitpunkt seiner Entscheidung aktuellsten – EASO Richtlinien zu Afghanistan vom Juni 2019 auseinandergesetzt hat.

In diesem Zusammenhang ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach diesen Richtlinien besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden bzw. das BVwG in Bindung an entsprechende Empfehlungen in den Richtlinien internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen in den Richtlinien des UNHCR und der EASO (nunmehr: EUAA) auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. dazu etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, mwN).

Die somit gebotene Auseinandersetzung mit den Richtlinien der EASO hat das BVwG fallbezogen unterlassen und sein Verfahren dadurch mit einem Verfahrensmangel belastet.

Die Relevanz dieses Verfahrensfehlers wird von der Revision zutreffend aufgezeigt, zumal EASO in seinen Richtlinien zu dem Ergebnis gelangt ist, für als „verwestlicht“ wahrgenommene Männer sei das Verfolgungsrisiko minimal und abhängig von den spezifischen individuellen Umständen.

14 Soweit das BVwG darüber hinaus in der rechtlichen Würdigung offenbar annimmt, der Mitbeteiligte sei vom Islam abgefallen (Apostasie), entfernt es sich von seinen eigenen Sachverhaltsfeststellungen, denen zufolge der Mitbeteiligte (weiterhin) schiitischer Moslem sei.

15 Der Revision gelingt es somit, relevante Begründungsmängel darzulegen, weshalb das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Wien, am 7. Juni 2022

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