JudikaturVwGH

Ra 2020/08/0080 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. September 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision der I GmbH in L, vertreten durch QUINTAX gerlich fischer kopp steuerberatungsgmbh in 5020 Salzburg, Ignaz Rieder Kai 13a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. April 2020, L511 2131307 1/5E, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG und dem AlVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, nunmehr: Österreichische Gesundheitskasse; mitbeteiligte Parteien: 1. T S in P, 2. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1100 Wien, Wienerbergstraße 11, und 3. Pensionsversicherungsanstalt in 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Österreichische Gesundheitskasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

1 Mit Bescheid vom 3. Mai 2016 stellte die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse fest, dass der Erstmitbeteiligte aufgrund seiner Tätigkeit als „PLM [Product Lifecycle Management] Berater“ für die revisionswerbende Partei (Installation von EDV Lösungen bei Kunden der revisionswerbenden Partei, Beratungs- und Wartungsarbeiten) im Zeitraum von 1. Jänner 2010 bis 31. Juli 2013 als Dienstnehmer gemäß § 4 Abs. 1 und 2 ASVG der Pflichtversicherung (Vollversicherung) in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung sowie gemäß § 1 Abs. 1 lit. a AlVG der Arbeitslosenversicherung unterlegen sei. Unter den im Einzelnen festgestellten Merkmalen der Beschäftigung des Erstmitbeteiligten, insbesondere angesichts dessen organisatorischer Eingliederung in den Betrieb der revisionswerbenden Partei (Nutzung der von der revisionswerbenden Partei zur Verfügung gestellten Betriebsmittel wie Arbeitsplatz, Firmenhandy, Firmencomputer, Visitenkarte, Ersatz von Hotel- und Bewirtungskosten durch die revisionswerbende Partei), hätten die Merkmale persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen einer selbständigen Tätigkeit überwogen, weshalb ein abhängiges Dienstverhältnis vorgelegen sei.

2 Dagegen erhob die revisionswerbende Partei Beschwerde, in der sie etwa vorbrachte, der Erstmitbeteiligte sei „in keinster Weise“ in das Unternehmen der revisionswerbenden Partei eingebunden und nicht der „HR Abteilung“ unterstellt gewesen. Er sei nur bezahlt worden, wenn er tatsächlich gearbeitet habe, und hätte Aufträge auch ablehnen können. Aufwendungen im Zusammenhang mit dem für die Wahrnehmung der Kundentermine verwendeten privaten PKW seien allesamt vom Erstmitbeteiligten getragen worden; einen Kostenersatz von Seiten der revisionswerbenden Partei habe es nicht gegeben. Insgesamt könne nicht davon ausgegangen werden, dass im Zusammenhang mit der Beschäftigung des Erstmitbeteiligten für die revisionswerbende Partei die Merkmale persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen einer selbständigen Tätigkeit überwogen hätten. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Das Bundesverwaltungsgericht traf im Wesentlichen dieselben Sachverhaltsfeststellungen zur Tätigkeit des Erstmitbeteiligten für die revisionswerbende Partei, wie sie bereits die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse getroffen hatte. Diese Feststellungen würden sich aus den Aussagen des Erstmitbeteiligten während einer Einvernahme im behördlichen Verfahren ergeben. Die revisionswerbende Partei sei diesen Feststellungen in der Beschwerde nicht entgegengetreten. Strittig geblieben sei ausschließlich die rechtliche Subsumtion des festgestellten Sachverhalts. Aus der Aktenlage habe sich klar ergeben, dass durch eine mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten gewesen sei, weshalb diese unterbleiben habe können. In rechtlicher Hinsicht bestätigte das Bundesverwaltungsgericht die Beurteilung der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse, dass ein abhängiges Dienstverhältnis gemäß § 4 Abs. 2 ASVG vorgelegen sei.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit und Begründung der Revision wird insbesondere geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei insofern von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es entgegen dieser von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Das Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde, der Erstmitbeteiligte sei entgegen der Annahme der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse nicht in die betrieblichen Strukturen des Unternehmens der revisionswerbenden Partei eingegliedert gewesen, betreffe ein nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 4 Abs. 2 ASVG essentielles Kriterium für das Vorliegen eines abhängigen Dienstverhältnisses. Die Verhandlung wäre daher zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlich gewesen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

8 Das Bundesverwaltungsgericht hätte nach § 24 Abs. 4 VwGVG von der beantragten mündlichen Verhandlung nur dann absehen dürfen, wenn die Akten hätten erkennen lassen, dass durch die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegengestanden wären.

9 Den Sachverhaltsannahmen, auf die die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse und das Bundesverwaltungsgericht die rechtliche Beurteilung hinsichtlich des Vorliegens einer Pflichtversicherung des Erstmitbeteiligten gegründet haben, ist die revisionswerbende Partei in der Beschwerde gegen den Bescheid der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse wie dargestellt entgegengetreten, insbesondere, was die Annahme einer persönlichen Arbeitspflicht und einer Eingliederung in die betrieblichen Strukturen des Unternehmens der revisionswerbenden Partei betrifft. Vor diesem Hintergrund lagen im vorliegenden Verfahren, in dem „civil rights“ im Sinn des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beurteilen waren, die Voraussetzungen des Absehens von einer mündlichen Verhandlung nicht vor. Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen wie hier vorliegend zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Ist eine Verhandlung nach Art. 6 EMRK geboten, dann ist eine Prüfung der Relevanz des Verfahrensmangels der Unterlassung einer solchen Verhandlung nicht durchzuführen (vgl. VwGH 30.4.2021, Ra 2020/08/0043 ua., mwN).

10 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

11 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das die Eingabengebühr betreffende Mehrbegehren war im Hinblick auf die sachliche Abgabenfreiheit nach § 110 ASVG abzuweisen.

Wien, am 26. September 2022

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