Ra 2022/22/0179 1 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Rechtssatz
Der Fremde hielt sich im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als zehn Jahre in Österreich auf. Er ging auch einer Erwerbstätigkeit nach, die es ihm erlaubte, sich selbst zu erhalten und verfügte über gewisse Deutschkenntnisse. Es trifft zu, dass trotz derartiger integrationsbegründender Faktoren dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen wäre, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Die Aspekte - jahrelange Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes nach dem rechtskräftigen negativen Abschluss des Asylverfahrens, Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts und die hinsichtlich des Wegzugs der Ehegattin unterbliebene Information der Behörde - waren zweifelsohne zu Lasten des Fremden zu veranschlagen, allerdings kam ihnen für sich genommen kein derartiges Gewicht zu, dass sich das Ergebnis der Interessenabwägung als eindeutig dargestellt hätte. Dabei gilt es zudem anzumerken, dass der Aufenthalt des Fremden während der fünfjährigen Gültigkeitsdauer der ihm ausgestellten Aufenthaltskarte (formal) nicht unrechtmäßig war (vgl. VwGH 9.9.2020, Ro 2020/22/0010). Ausgehend davon erweist sich der Vorwurf, das VwG hätte sich einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen, um eine Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände umfassend vornehmen zu können, als zutreffend. Auch wenn der rechtsanwaltlich vertretene Fremde im Beschwerdeschriftsatz keinen Verhandlungsantrag gestellt hatte und folglich - da auch keine diesem Verständnis entgegenstehende Beweisanträge gestellt worden waren - von einem (schlüssigen) Verzicht auf den sich aus Art. 47 Abs. 2 GRC ergebenden Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung auszugehen war (vgl. VwGH 3.9.2015, Ra 2015/21/0054), war in der vorliegenden Konstellation gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG 2014, und zwar insbesondere in Anbetracht des keineswegs eindeutigen Falls (mehr als zehnjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet sowie Erwerbstätigkeit und Selbsterhaltungsfähigkeit des unbescholtenen Fremden), die Durchführung einer Verhandlung in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens des VwG geboten (vgl. VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0207; 4.3.2020, Ra 2019/21/0214). § 21 Abs. 7 BFA-VG 2014 berechtigte das VwG nicht zum Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung, weil in Bezug auf die Interessenabwägung kein eindeutiger Fall und somit kein geklärter Sachverhalt im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung vorlag (vgl. VwGH 27.1.2015, Ra 2014/19/0085).