Leitsatz
Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall
Spruch
I. Die Beschwerdeführerinnen sind durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, den Beschwerdeführerinnen zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.117,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
1. Die Erstbeschwerdeführerin ist Mutter der minderjährigen Zweitbeschwerde-führerin. Die Beschwerdeführerinnen sind lettische Staatsangehörige und halten sich seit 2013 im Bundesgebiet auf. Sie verfügen über Anmeldebescheinigungen nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
2. Die Erstbeschwerdeführerin beantragte am 4. Jänner 2023 die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft und die Erstreckung der Verleihung der Staatsbürgerschaft auf die Zweitbeschwerdeführerin. Mit Bescheid vom 8. Mai 2023 wies die belangte Behörde die Anträge gemäß §10 Abs2 Z1 StbG in Verbindung mit §53 Abs2 Z2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) betreffend die Erstbeschwerdeführerin und gemäß §18 StbG betreffend die Zweitbeschwerdeführerin ab, da über die Erstbeschwerdeführerin mit rechtskräftigem Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Wien vom 10. August 2020 gemäß §99 Abs1a Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) eine Geldstrafe in Höhe von € 1.200,– verhängt worden sei.
Das Verwaltungsgericht Wien bestätigte diese Entscheidung mit Erkenntnis vom 23. Juni 2023. Begründend führt das Verwaltungsgericht – gestützt auf Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes – im Wesentlichen aus, dass die Staatsbürgerschaft einem Fremden gemäß §10 Abs2 Z1 StbG nicht verliehen werden dürfe, wenn bestimmte Tatsachen gemäß §53 Abs2 Z2, 5, 8, 9 und Abs3 FPG vorliegen würden. Als derartige "Tatsache" normiere §53 Abs2 Z2 FPG die rechtskräftig erfolgte Bestrafung wegen einer Verwaltungsübertretung zu einer Geldstrafe von mindestens € 1.000,– oder die Verhängung einer primären Freiheitsstrafe. Liege daher eine rechtskräftige Bestrafung wegen einer Verwaltungsübertretung vor, die die Vorgaben des §53 Abs2 Z2 FPG erfülle, sei das Verleihungshindernis des §10 Abs2 Z1 StbG gegeben. Da die Erstbeschwerdeführerin wegen einer Übertretung des §99 Abs1a StVO mit einer Geldstrafe von € 1.200,– bestraft und die in §53 Abs2 Z2 FPG genannte Strafhöhe damit erreicht worden sei, habe die belangte Behörde den Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf Verleihung der Staatsbürgerschaft zu Recht abgewiesen. Da damit auch die Voraussetzungen der Erstreckung der Verleihung der Staatsbürgerschaft auf die Zweitbeschwerdeführerin nicht vorlägen, sei auch der diesbezügliche Antrag zu Recht abgewiesen worden.
3. Gegen diese Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Wien richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 BVG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet wird. Sowohl die belangte Behörde als auch das Verwaltungsgericht Wien hätten §10 Abs2 Z1 StbG in Verbindung mit §53 Abs2 Z2 FPG dahingehend ausgelegt, dass das Vorliegen einer einmaligen rechtskräftigen Bestrafung wegen einer Verwaltungsübertretung mit einer Geldstrafe von mindestens € 1.000,– allein ausreiche, um einen Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft abzuweisen. Mit einer solchen Interpretation würde §10 Abs2 Z2 StbG im Hinblick auf Verwaltungsübertretungen nach §99 Abs1 und Abs1a StVO allerdings jeglicher Anwendungsbereich entzogen. Sowohl §99 Abs1 als auch §99 Abs1a StVO würden nämlich Mindeststrafen von über € 1.000,– vorsehen, wobei eine einmalige Bestrafung noch kein Verleihungshindernis darstelle, da ein solches gemäß §10 Abs2 Z2 StbG nur dann vorliege, wenn ein solcher Straftatbestand zweimal erfüllt werde.
Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 Z1 litb BVG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Ziffern- und Zeichenfolge "2, " in §10 Abs2 Z1 des Bundesgesetzes über die österreichische Staatsbürgerschaft (Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 – StbG), BGBl 311/1985, idF BGBl I 38/2011 und BGBl I 65/2021 ein. Mit Erkenntnis vom 28. November 2024, G88/2024, hob der Verfassungsgerichtshof die in Prüfung gezogene Ziffern- und Zeichenfolge als verfassungswidrig auf.
4. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
Das Verwaltungsgericht Wien hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerinnen nachteilig war.
Die Beschwerdeführerinnen wurden also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten. Da die Beschwerdeführerinnen gemeinsam durch eine Rechtsvertreterin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag zuzusprechen.