E2516/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist eine 1993 geborene somalische Staatsangehörige aus der Region Lower Shabelle, die dem Clan der Geledi angehört und sich zum sunnitischen Islam bekennt. Sie stellte am 24. Mai 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, den sie damit begründete, dass ihr Ex-Mann ihr ihre Kinder weggenommen und ihre Tochter illegal beschneiden habe lassen. Er gehöre der Al Shabaab an und habe sie mit dem Umbringen bedroht. In Somalia habe sie keine eigene Familie mehr. Im Falle einer Rückkehr befürchte sie, getötet zu werden.
2. Mit Bescheid vom 23. November 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Beschwerdeführerin den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung für die Dauer eines Jahres (Spruchpunkt III.).
3. In ihrer gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht brachte die Beschwerdeführerin unter anderem vor, im November 2023 in Österreich einen Sohn zur Welt gebracht zu haben. Im Fall einer Rückkehr nach Somalia gälte sie als alleinstehende Frau und wäre der Gefahr ausgesetzt, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden. Sie sei als Waisenkind aufgewachsen und habe keine Familienangehörigen in Somalia bzw wisse nichts über deren Verbleib. Die Beschwerdeführerin verwies dazu auf näher zitierte Länderberichte, denen zufolge in Somalia Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexuelle Gewalt, weit verbreitet sei. Alleinstehende und alleinerziehende Frauen seien davon besonders betroffen.
4. Mit Erkenntnis vom 11. Juni 2024 wies das Bundesverwaltungsgericht diese Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab.
4.1. Begründend führt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin entgegen dem von ihr vorgebrachten Ausreisegrund nicht wegen einer Scheidung und des Versuchs einer Kontaktaufnahme mit ihren Kindern von ihrem Ex-Mann, einem Mitglied der Al Shabaab, und dessen Familie bedroht worden sei. Sie habe ebenso wenig nach dem Verlassen ihres Herkunftsstaates in der Türkei einen anderen, wieder nach Somalia zurückgekehrten Mann geheiratet. Ihr Fluchtvorbringen und das Vorbringen zu einem zweiten Ehemann seien aus jeweils näher dargelegten Gründen nicht glaubhaft.
4.2. Die Beschwerdeführerin habe schon ihren familiären Hintergrund nicht glaubhaft dargestellt. So habe sie etwa abweichende Angaben zum Aufenthaltsort ihrer Schwester sowie dazu gemacht, wen sie in der Erstbefragung mit "ihrer Familie" gemeint habe. Auch habe sie am Ende der mündlichen Verhandlung erstmals ausgesagt, in Somalia nur einen Bruder gehabt zu haben. Ihre darauffolgende Erklärung, ihre Schwester gemeint zu haben, sei untauglich. Der Beschwerdeführerin sei es angesichts dieser widersprüchlichen Aussagen nicht gelungen, davon zu überzeugen, keine familiären Anknüpfungspunkte in ihrer Heimat zu haben.
4.3. Das – nicht glaubhafte – Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin wiese für das Beschwerdeverfahren auch keine direkte Asylrelevanz auf, weil die behauptete Drohung, ihre Kinder nicht sehen zu dürfen, an keinen Konventionsgrund anknüpfe. Das behaupte die Beschwerdeführerin auch gar nicht. Kraft der Unglaubwürdigkeit ihres Vorbringens gehöre sie aber auch nicht – wie in der Beschwerde eigentlich ins Feld geführt – der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen an, zumal selbst ihr behaupteter familiärer Hintergrund nicht glaubhaft sei.
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5.1. Die Beschwerdeführerin bringt im Wesentlichen vor, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht mit ihrem Vorbringen auseinandergesetzt, im Fall einer Rückkehr nach Somalia als alleinstehende Frau zu gelten und der Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Trotz dieses Vorbringens habe das Gericht zur Situation alleinstehender Frauen in Somalia keine einzige Feststellung getroffen und auch keinen Bericht eingeholt. Demgegenüber seien in der Beschwerde umfangreiche Quellen zitiert worden, die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, insbesondere durch Vergewaltigung und Zwangsverheiratung, nach wie vor als erhebliches Problem in Somalia darstellten.
5.2. Es sei daher Willkür des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn die einzige Ausführung zu diesem Vorbringen folgender Satz sei: "Kraft der Unglaubhaftigkeit ihres Vorbringens gehört sie aber auch nicht […] der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen an, zumal selbst ihr behaupteter familiärer Hintergrund nicht glaubhaft ist." Warum die Beschwerdeführerin als somalische Staatsbürgerin und Frau im Falle ihrer Rückkehr nach Somalia nicht als alleinstehende Frau gelten solle und welche Schutzmöglichkeiten ihr in Somalia gegen allfällig daraus erwachsende Gefährdungen zur Verfügung stünden, sei dem Erkenntnis nicht zu entnehmen. Das Bundesverwaltungsgericht setze sich damit zu den Verfahrensergebnissen in Widerspruch und lasse wesentliche Sachverhaltselemente bewusst ungeprüft.
5.3. Gemäß der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Verweis auf VfGH 24.9.2018, E2684/2017) könne die geschlechtsspezifische Verfolgung als Angehörige der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Somalia auf Grund der Gefahr von Zwangsverheiratung und Vergewaltigung asylrelevant sein, weshalb sich das Bundesverwaltungsgericht mit einem in diese Richtung gehenden Vorbringen auseinanderzusetzen habe.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber – wie auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg. cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).
3. Derartige, in die Verfassungssphäre reichende Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Die Beschwerdeführerin brachte in ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht vor, dass sie im Fall einer Rückkehr nach Somalia als alleinstehende Frau gälte und der Gefahr ausgesetzt wäre, Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden. Auch habe sie im November 2023 in Österreich einen Sohn zur Welt gebracht und sei nunmehr alleinerziehende Mutter. Sie verwies in der Beschwerde unter anderem auf den Asylländerbericht der österreichischen Botschaften zu Somalia vom November 2022, demzufolge in Somalia Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexuelle Gewalt, weit verbreitet sei. Besonders betroffen davon seien IDPs sowie alleinstehende und alleinerziehende Frauen. Von staatlichem Schutz könne nicht ausgegangen werden, Straflosigkeit sei weit verbreitet.
3.2. Dennoch unterlässt das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis jegliche Auseinandersetzung mit der vorgebrachten und laut dem zitierten Länderbericht risikoerhöhenden Eigenschaft der Beschwerdeführerin als alleinerziehende Mutter. Dass die Beschwerdeführerin einen Sohn im Säuglingsalter hat, wird im angefochtenen Erkenntnis überhaupt nicht erwähnt, obwohl sie ihren Sohn zur mündlichen Verhandlung mitgebracht haben dürfte und darauf von der erkennenden Richterin auch angesprochen wurde ("Sie sind heute mit dem gemeinsamen Sohn hier.").
3.3. Darüber hinaus hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Beschwerdeführerin "[k]raft der Unglaubhaftigkeit ihres Vorbringens" nicht der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen angehöre, ohne Feststellungen zu etwaigen Familienangehörigen in Somalia zu treffen. Eine nachvollziehbare und nachprüfbare Beurteilung der Frage, ob die Beschwerdeführerin in Somalia als "alleinstehend" gälte und hinreichenden Schutz etwa vor geschlechtsspezifischer Gewalt fände, ist auf dieser Grundlage nicht möglich.
3.4. Ausgehend davon hat das Bundesverwaltungsgericht in entscheidungswesentlichen Punkten jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und sein Erkenntnis mit Willkür belastet.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.