JudikaturVfGH

E667/2023 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Januar 2024

Spruch

I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.400,80 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die beschwerdeführenden Parteien, alle Staatsangehörige Syriens, stellten am 5. November 2020 Anträge auf internationalen Schutz.

2. Mit den Bescheiden vom 15. Oktober 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der beschwerdeführenden Parteien auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihnen den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.). Die befristeten Aufenthaltsberechtigungen für subsidiär Schutzberechtigte wurden ihnen für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

3. Gegen diese Bescheide erhoben die beschwerdeführenden Parteien vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung (BBU GmbH) am 18. November 2021 gleichlautende Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht.

4. Am 5. Juli 2022 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den beschwerdeführenden Parteien sowie dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Ladungen für die am 27. September 2022 anberaumte mündliche Verhandlung mitsamt der Aufforderung, an der Verhandlung als Parteien persönlich teilzunehmen.

5. Am 27. September 2022 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, der sowohl die beschwerdeführenden Parteien als auch ihre Rechtsvertreter unentschuldigt fernblieben. In weiterer Folge wurde das Erkennt-nis am selben Tag in Abwesenheit der beschwerdeführenden Parteien mündlich verkündet und wurden die Beschwerden als unbegründet abgewiesen.

6. Am 10. Oktober 2022 stellten die beschwerdeführenden Parteien vertreten durch die BBU GmbH – Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie Anträge auf neuerliche Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und brachten dazu vor, dass einem Mitarbeiter des Koordinationsbüros der BBU GmbH am 25. Juli 2022 ein Versehen unterlaufen sei, indem er den Termin für Donnerstag, den 29. September 2022, statt für Dienstag, den 27. September 2022, im internen System der BBU GmbH angelegt habe. Es sei im Sinne eines Vier Augen-Prinzips vorgesehen, dass die Geschäftsstellenleiterin bei der Zuweisung der Verhandlungen die Ladung noch einmal kontrolliere und mit dem im System eingetragenen Verhandlungstermin abgleiche. Die zuständige Geschäftsstellenleiterin sei auf Grund eines Arzttermins am 26. August 2022 unter Schock gestanden und habe daher vergessen, den Verhandlungstermin zu kontrollieren und mit der Ladung abzugleichen. Sie habe den Verhandlungstermin der für die Verhandlung eingeteilten Rechtsberaterin zugewiesen und die Verhandlung auch für den 29. September 2022 in den Dienstplan der Geschäftsstelle eingetragen.

7. Mit Beschluss vom 30. Jänner 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht den Wiedereinsetzungsantrag mit der Begründung ab, dass kein Kontrollsystem eingerichtet gewesen sei, welches den erhöhten Anforderungen an die Organisation einer berufsmäßigen Vertretungsorganisation gerecht werde, weshalb im vorliegenden Fall nicht von einem bloß minderen Grad des Versehens gesprochen werden könne.

8. Nachdem den beschwerdeführenden Parteien mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 20. März 2023, E667/2023 3 ua, Verfahrenshilfe in vollem Umfang gewährt worden war, erhoben diese eine auf Art144 B VG gestützte Beschwerde gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes, in der sie die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behaupten und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, in eventu die Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof, beantragen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 13. Dezember 2022, E3608/2021 ua, näher bezeichnete Bestimmungen des BBU Errichtungsgesetzes (BBU G) und des BFA Verfahrensgesetzes (BFA VG) in Prüfung gezogen und mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2023, G328/2022 ua, näher bezeichnete Bestimmungen ua über die Durchführung der Rechtsberatung und -vertretung durch die BBU GmbH vor dem Bundesverwaltungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben.

3. Gemäß Art140 Abs7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art140 Abs7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988).

4. Die mündliche Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 19. Juni 2023, um 10 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beschwerdeführenden Parteien bereits einen Verfahrenshilfeantrag beim Verfassungsgerichtshof gestellt. Die nach Bewilligung der Verfahrenshilfe durch einen Rechtsanwalt fristgerecht eingebrachte Beschwerde gilt gemäß §73 Abs2 und §464 Abs3 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG als zum Zeitpunkt der Einbringung des Verfahrenshilfeantrages, somit als vor Beginn der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren erhoben und beim Verfassungsgerichtshof anhängig (vgl zB VfSlg 11.748/1988, 13.665/1994). Der ihr zugrundeliegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.

5. Die beschwerdeführenden Parteien wurden im Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht durch die BBU GmbH vertreten, deren mögliches Fehlverhalten Auswirkungen auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes über ihren Wiedereinsetzungsantrag gehabt hat. Die beschwerdeführenden Parteien wurden sohin auf Grund eines auf verfassungswidriger Grundlage beruhenden Rechtsverhältnisses zur BBU GmbH vertreten. Es ist damit nicht ausgeschlossen, dass die Rechtsvertretung für die Rechtsstellung der beschwerdeführenden Parteien nachteilig war.

III. Ergebnis

1. Die beschwerdeführenden Parteien wurden somit durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

Der Beschluss ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevor-bringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhand-lung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 654,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 566,80 enthalten. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch einen Rechtsanwalt vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag, zuzusprechen.

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