JudikaturVfGH

V29/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
28. November 2023

Spruch

I. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, Z MES1 V 05333/008, kundgemacht durch die Aufstellung von Straßenverkehrszeichen, war – soweit damit auf der Landesstraße B 1 von Straßenkilometer 119,758 bis Straßenkilometer 120,334 eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h verfügt wird – bis zum 8. März 2023, um 9.30 Uhr, gesetzwidrig.

II. Die Niederösterreichische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 B VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, der Verfassungsgerichtshof möge

"- erkennen, dass die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008 hinsichtlich der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h von Strkm 119,758 bis Strkm. 120,334 gesetzwidrig kundgemacht und daher aufzuheben ist, in eventu

- feststellen, dass die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008 hinsichtlich der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h von Strkm 119,758 bis Strkm. 120,334 am 02.10.2021 um 13.19 Uhr nicht rechtmäßig kundgemacht und daher gesetzwidrig war."

II. Rechtslage

1. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008, hat folgenden Wortlaut (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"Verordnung

Die Bezirkshauptmannschaft Melk verfügt gemäß §43 Abs1 litb in Verbindung mit §55 Straßenverkehrsordnung 1960 - StVO 1960 im Gemeindegebiet von Blindenmarkt aus Gründen der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs die mit beiliegenden klausulierten Plan des Amtes der NÖ Landesregierung, Straßenbauabteilung 6, Maßstab 1:500, Ausfertigung 8.10.2014, dargestellten Bodenmarkierungen und Verkehrszeichen.

Dieser Plan, welcher mit einer Bezugsklausel versehen ist, bildet einen wesentlichen Bestandteil dieser Verordnung.

Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 tritt diese Verordnung mit der Aufstellung der Verkehrszeichen sowie der Anbringung der Bodenmarkierungen (§55 Abs1 StVO 1960 in Verbindung mit der Bodenmarkierungsverordnung) laut beiliegendem Plan in Kraft.

Alle mit dieser Verordnung in Widerspruch stehenden Verordnungen werden aufgehoben und treten mit der Entfernung der alten Verkehrszeichen und Bodenmarkierungen außer Kraft.

Ergeht an:

[…]

Der Bezirkshauptmann

[…]"

2. Die für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit der angefochtenen Verordnung anzuwendenden Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO. 1960), BGBl 159/1960, lauten in der jeweils maßgeblichen Fassung wie folgt (Zitat ohne die Hervorhebungen im Original):

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. […]

c)–d) […].

(1a)–(11) […]

§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. […]

(1a)–(5) […]

[…]

§52. Die Vorschriftszeichen

Die Vorschriftszeichen sind

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen,

b) Gebotszeichen oder

c) Vorrangzeichen.

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen

1.–9d. […]

10a. 'GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG (ERLAUBTE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT)'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt an, dass das Überschreiten der Fahrgeschwindigkeit, die als Stundenkilometeranzahl im Zeichen angegeben ist, ab dem Standort des Zeichens verboten ist. Ob und in welcher Entfernung es vor schienengleichen Eisenbahnübergängen anzubringen ist, ergibt sich aus den eisenbahnrechtlichen Vorschriften.

10b. 'ENDE DER GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung an. Es ist nach jedem Zeichen gemäß Z10a anzubringen und kann auch auf der Rückseite des für die Gegenrichtung geltenden Zeichens angebracht werden. Es kann entfallen, wenn am Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Geschwindigkeitsbeschränkung, sei es auch nicht aufgrund dieses Bundesgesetzes, beginnt.

11.–14b. […]

b) Gebotszeichen.

15.–22a. […]

c) Vorrangzeichen

23.–25b. […]

[…]

§94b. Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde

(1) Behörde im Sinne dieses Bundesgesetzes ist, sofern der Akt der Vollziehung nur für den betreffenden politischen Bezirk wirksam werden soll und sich nicht die Zuständigkeit der Gemeinde oder – im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist – der Landespolizeidirektion ergibt, die Bezirksverwaltungsbehörde

a) […]

b) für die Erlassung von Verordnungen und Bescheiden,

c)–h) […].

(2) […]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 18. Februar 2022 wurde über den Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wegen einer Übertretung des §52 lita Z10a StVO 1960 gemäß §99 Abs2e StVO 1960 eine Geldstrafe in Höhe von € 470,– und im Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von 82 Stunden verhängt. Dem Beschwerdeführer wurde zur Last gelegt, er habe am 2. Oktober 2021, um 13.19 Uhr, im Gemeindegebiet von Blindenmarkt auf der Landesstraße B 1, nächst Straßenkilometer 119,783 in Fahrtrichtung Osten, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h überschritten.

2. Aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich den vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B VG gestützten Antrag auf Aufhebung der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008, "hinsichtlich der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h von Strkm 119,758 bis Strkm. 120,334". In eventu wird beantragt, festzustellen, dass diese Geschwindigkeitsbeschränkung am 2. Oktober 2021, um 13.19 Uhr, nicht rechtmäßig kundgemacht und daher gesetzwidrig war.

2.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich führt zunächst zum Sachverhalt Folgendes aus: In der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2023 habe der Meldungsleger zeugenschaftlich angegeben, dass das Straßenverkehrszeichen "Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h" entsprechend einer Messung mit dem Lasergeschwindigkeitsmessgerät bei Straßenkilometer 119,776 aufgestellt sei. Laut Mitteilung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 9. März 2023 sei das Straßenverkehrszeichen bis zum 8. März 2023, um 9.30 Uhr, bei Straßenkilometer 119,773 aufgestellt gewesen.

2.2. Zur Präjudizialität der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung wird darauf hingewiesen, dass diese die Grundlage der dem Beschwerdeführer angelasteten Verwaltungsübertretung bilde und daher vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Straferkenntnisses anzuwenden sei.

2.3. In der Folge legt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich seine Bedenken gegen die angefochtene Verordnungsbestimmung dar: Diese sehe auf der Landesstraße B 1 in Fahrtrichtung Osten einen räumlichen Geltungsbereich von Straßenkilometer 120,334 bis Straßenkilometer 119,758 vor. Die tatsächliche Kundmachung des Endes der Geschwindigkeitsbeschränkung sei jedoch bei Straßenkilometer 119,773 – und damit 15 Meter vom verordneten Bereich entfernt – erfolgt. Durch diese signifikante Abweichung des Aufstellungsortes des Straßenverkehrszeichens vom Ort des verordneten Geltungsbereiches liege ein Kundmachungsmangel der angefochtenen Verordnungsbestimmung vor.

3. Die verordnungserlassende Behörde hat weder Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnungsbestimmung vorgelegt, noch eine Äußerung erstattet.

4. Die Niederösterreichische Landesregierung hat die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnungsbestimmung sowie weitere Unterlagen vorgelegt und mitgeteilt, dass sie "nach Einbindung der Bezirkshauptmannschaft Melk" beschlossen habe, von der Erstattung einer Äußerung abzusehen.

5. Der Beschwerdeführer im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat eine Äußerung erstattet, in der er sich der Sache nach den im Antrag geäußerten Bedenken anschließt.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof vertritt zu Art89 Abs1 B VG beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg 20.182/2017 die Auffassung, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (VfSlg 20.182/2017). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich (vgl VfSlg 20.251/2018).

Die Kundmachung der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung ist ausweislich der vorgelegten Unterlagen durch die Aufstellung entsprechender Straßenverkehrszeichen erfolgt, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den im Antrag dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

2.2. Der Antrag ist begründet.

2.2.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich macht geltend, dass die Kundmachung der angefochtenen Geschwindigkeitsbeschränkung von dem in der angefochtenen Verordnung vorgesehenen Geltungsbereich erheblich abweiche.

2.2.2. Gemäß §44 Abs1 StVO 1960 sind die in §43 StVO 1960 bezeichneten Verordnungen, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft (vgl VfGH 25.2.2019, V68/2018 mwN).

Der Vorschrift des §44 Abs1 StVO 1960 ist immanent, dass die bezüglichen Straßenverkehrszeichen dort angebracht sind, wo der räumliche Geltungsbereich der Verordnung beginnt und endet. Zwar ist zur Kundmachung von Verkehrsbeschränkungen keine "zentimetergenaue" Aufstellung der Verkehrszeichen erforderlich (vgl dazu VwGH 13.2.1985, 85/18/0024; 25.1.2002, 99/02/0014; 10.10.2014, 2013/02/0276), jedoch wird dieser Vorschrift nicht Genüge getan und liegt ein Kundmachungsmangel vor, wenn der Aufstellungsort vom Ort des Beginns bzw Endes des verordneten Geltungsbereiches einer Verkehrsbeschränkung signifikant abweicht (vgl VfSlg 15.749/2000 mwN; zu den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien vgl VwGH 3.7.1986, 86/02/0038; 16.2.1999, 98/02/0338; 22.2.2006, 2003/17/0138; 24.11.2006, 2006/02/0232; 5.9.2008, 2008/02/0011; 21.11.2008, 2008/02/0231; 25.11.2009, 2009/02/0095; 25.6.2014, 2013/07/0294; vgl auch VfSlg 20.251/2018).

2.2.3. Mit Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008, wurden im Gemeindegebiet von Blindenmarkt mehrere, auf einem einen integrierenden Bestandteil dieser Verordnung bildenden Plan eingezeichnete Verkehrsregelungen verordnet. Unter anderem wurde die mit dem vorliegenden Antrag angefochtene Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h auf der Landesstraße B 1 von Straßenkilometer 119,758 bis Straßenkilometer 120,334 verfügt. Aus den vom Landesverwaltungsgericht Niederösterreich sowie von der Niederösterreichischen Landesregierung vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass das Ende dieser Geschwindigkeitsbeschränkung in Fahrtrichtung Osten bis zum 8. März 2023 bei Straßenkilometer 119,773 kundgemacht war. Das Straßenverkehrszeichen war daher – auch zum Tatzeitpunkt – 15 Meter von dem in der angefochtenen Verordnungsbestimmung verordneten Geltungsbereich entfernt aufgestellt.

2.2.4. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu §44 Abs1 StVO 1960 führt eine derart signifikante Abweichung zu einer nicht ordnungsgemäßen Kundmachung (VfSlg 20.251/2018 mwN). Auch wenn die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zur Kundmachung von Verordnungen iSd §44 Abs1 StVO 1960 je nach örtlichen Verkehrsverhältnissen eine bestimmte Fehlertoleranz vorsieht – die Aufstellung der entsprechenden Verkehrszeichen hat nicht "zentimetergenau" zu erfolgen –, bewirkt die festgestellte Abweichung von 15 Metern im vorliegenden Fall eine nicht ordnungsgemäße Kundmachung. Die angefochtene Verordnungsbestimmung erweist sich daher als gesetzwidrig.

2.3. Gemäß Art139 Abs3 Z3 B VG hat der Verfassungsgerichtshof nicht nur die präjudiziellen Teile einer Verordnung, sondern die ganze Verordnung aufzuheben (vgl VfSlg 18.068/2007), wenn er zur Auffassung gelangt, dass die ganze Verordnung gesetzwidrig kundgemacht wurde. Diese Bestimmung ist von dem Gedanken getragen, den Verfassungsgerichtshof in die Lage zu versetzen, in all jenen Fällen, in denen die festgestellte Gesetzwidrigkeit der präjudiziellen Verordnungsstelle offenkundig auch alle übrigen Verordnungsbestimmungen erfasst, die ganze Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben (vgl VfSlg 19.128/2010).

Der festgestellte Kundmachungsmangel betrifft ausschließlich die angefochtene – im Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich präjudizielle – Geschwindigkeitsbeschränkung. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008, enthält weitere Verkehrsregelungen, die auf andere Weise, insbesondere durch Aufstellung entsprechender Verkehrszeichen, an näher bezeichneten Orten kundzumachen sind. Eine Aufhebung der ganzen Verordnung gemäß Art139 Abs3 Z3 B VG kommt daher im vorliegenden Verfahren nicht in Betracht.

2.4. Im Hinblick auf das im Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vorgelegte Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 9. März 2023, wonach der Kundmachungsmangel hinsichtlich der angefochtenen Verordnungsbestimmung am 8. März 2023, um 9.30 Uhr, behoben worden sei, hat der Verfassungsgerichtshof auszusprechen, dass die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, MES1 V 05333/008, bis zum 8. März 2023, um 9.30 Uhr, gesetzwidrig war (Art139 Abs4 B VG).

V. Ergebnis

1. Die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Melk vom 12. Mai 2015, Z MES1 V 05333/008, kundgemacht durch Aufstellung von Straßenverkehrszeichen, war – soweit damit auf der Landesstraße B 1 von Straßenkilometer 119,758 bis Straßenkilometer 120,334 eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h verfügt wird – bis zum 8. März 2023, um 9.30 Uhr, gesetzwidrig.

2. Die Verpflichtung der Niederösterreichischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B VG und §59 Abs2 iVm §61 VfGG sowie §2 Abs1 Z6 NÖ Verlautbarungsgesetz.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Rückverweise