JudikaturVfGH

E1719/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
18. September 2015

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.

Der Beschluss wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt und Beschwerde

1. Der 1989 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Bosnien-Herzegowina. Er verfügte seit 24. März 2014 über eine Aufenthaltsbewilligung für Studierende. Nachdem er am 19. März 2015 deren Verlängerung beantragt hatte, erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) gegen ihn mit Bescheid vom 29. April 2015 eine auf §52 Abs4 Z1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl I 100 idF BGBl I 68/2013, gestützte Rückkehrentscheidung sowie ein auf §53 Abs2 Z7 FPG gestütztes Einreiseverbot für die Dauer von 18 Monaten. Begründend führte das BFA an, der Beschwerdeführer habe von 1. Dezember 2014 bis 4. Jänner 2015 ohne die erforderliche Beschäftigungsbewilligung bei einem näher bezeichneten Unternehmen gearbeitet. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer durch Hinterlegung am 4. Mai 2015 zugestellt.

2. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid am 1. Juni 2015 Beschwerde und stellte gleichzeitig einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Beides übermittelte er dem BFA per Telefax. Das BFA legte am 25. Juni 2015 die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vor.

3. Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als verspätet zurück. Es stützte diese Entscheidung auf §16 Abs1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), wobei eine bestimmte Fassung dieses Gesetzes nicht genannt wird. Nach dem im Beschluss wiedergegebenen Wortlaut handelt es sich um die Fassung BGBl I 68/2013.

4. Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, konkret des §16 Abs1 BFA-VG, sowie eine Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten geltend gemacht wird.

II. Rechtslage

1. §7 Abs4 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG), BGBl I 33/2013, lautet auszugsweise:

"Beschwerderecht und Beschwerdefrist

§7. […]

(4) Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den Bescheid einer Behörde gemäß Art130 Abs1 Z1 B VG, gegen Weisungen gemäß Art130 Abs1 Z4 B VG oder wegen Rechtswidrigkeit des Verhaltens einer Behörde in Vollziehung der Gesetze gemäß Art130 Abs2 Z1 B VG beträgt vier Wochen. […]"

2. §16 Abs1 BFA-VG, BGBl I 87/2012 idF BGBl I 68/2013, lautete:

"Beschwerdefrist und Wirkung von Beschwerden

§16. (1) Die Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen einen Bescheid des Bundesamtes beträgt, sofern nichts anderes bestimmt ist, zwei Wochen. §7 Abs4 erster Satz Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl I Nr 33/2013 ist, sofern es sich bei dem Fremden im Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, nicht anwendbar."

III. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat gemäß Art140 Abs1 Z1 litb B VG mit Erkenntnis vom 24. Juni 2015, G171/2015 ua., §16 Abs1 BFA VG idF BGBl I 68/2013 als verfassungswidrig aufgehoben und gleichzeitig ausgesprochen, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist. Der Ausspruch wurde vom Bundeskanzler mit BGBl I 84/2015 am 29. Juli 2015 kundgemacht.

3. Das Bundesverwaltungsgericht hat somit eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Ausspruch im soeben zitierten Erkenntnis vom 24. Juni 2015 gemäß Art140 Abs7 B VG die Anlassfallwirkung dahingehend erweitert, dass der als verfassungswidrig erkannte §16 Abs1 BFA VG idF BGBl I 68/2013 auch auf die vor seiner Aufhebung verwirklichten Tatbestände keine Anwendung mehr findet. Diese Erweiterung der Anlassfallwirkung wirkt sich daher auch auf die Berechnung der Rechtsmittelfrist im vorliegenden Fall aus.

Nach der bereinigten Rechtslage bestimmte sich die Frist zur Erhebung einer Beschwerde im vorliegenden Fall nach §7 Abs4 VwGVG und lief demnach am 1. Juni 2015 (vier Wochen nach Zustellung des Bescheides des BFA) ab. Die an diesem Tag eingebrachte Beschwerde war somit rechtzeitig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Zulässigkeit eines Rechtsmittels, also insbesondere dessen Rechtzeitigkeit, nach den Verhältnissen spätestens zum Ablauf der Rechtsmittelfrist zu beurteilen (vgl. VwGH 22.12.1997, 95/10/0078 mwN). Demnach ist die mit BGBl I 70/2015 am 18. Juni 2015 kundgemachte Neufassung des §16 Abs1 BFA VG, die wiederum eine von §7 Abs4 VwGVG abweichende zweiwöchige Rechtsmittelfrist vorsehen würde, auf den vorliegenden Fall nicht anzuwenden. Die Novelle BGBl I 70/2015 enthält keine von diesem Grundsatz abweichende Anordnung. Deshalb ist es offenkundig, dass die Anwendung der als verfassungswidrig aufgehobenen Gesetzesbestimmung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer wurde also durch den angefochtenen Beschluss wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

2. Der Beschluss ist daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden. Die durch die Beschwerde aufgeworfene Rechtsfrage ist durch die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes genügend klargestellt (insbesondere durch das vorzitierte Erkenntnis vom 24.6.2015, weiters VfGH 1.7.2015, E231/2015 ua., 2.7.2015, E874/2014 und E395/2015).

4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a Abs1 iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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