JudikaturVfGH

U1121/2012 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
25. November 2013

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Entscheidungen in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden. Die Entscheidungen werden aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Erst- und Drittbeschwerde führerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit jeweils € 2.400,- be stimmten Prozesskosten sowie dem Zweitbeschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerden und Vorverfahren

1. Die Erstbeschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Republik Mazedonien und Angehörige der Volksgruppe der Roma, reiste am 10. Dezember 2011 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Zweitbeschwerdeführer, und ihrer minderjährigen Tochter, der Drittbeschwerdeführerin, legal nach Österreich ein und stellte gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer und im Namen der Drittbeschwerdeführerin am 13. Dezember 2011 einen Antrag auf inter nationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachte sie dabei im Wesentlichen vor, dass ihr Lebensgefährte mit Albanern Probleme gehabt habe und von diesen verletzt worden sei.

1.1. Vor vielen Jahren, als die Erstbeschwerdeführerin noch nicht mit ihrem Lebensgefährten zusammen gewesen sei, seien außerdem zwei unbekannte Männer zu ihr nach Hause gekommen und hätten gesagt, dass sie eine Arbeit in einem Restaurant für sie hätten. Als die Erstbeschwerdeführerin allerdings zu ihnen gekommen sei, habe sie bemerkt, dass es sich bei dem Restaurant um ein Bordell handle. Sie sei in weiterer Folge dazu gezwungen worden, in diesem Bordell zu arbeiten.

1.2. Im Zuge der Einvernahme vor dem Bundesasylamt wurde der Erst beschwerdeführerin nachweislich zur Kenntnis gebracht, dass sie das Recht habe, durch einen Organwalter desselben Geschlechts einvernommen zu werden. Die Erstbeschwerdeführerin erklärte sich jedoch mit der Fortführung der Einvernahme durch den männlichen Organwalter einverstanden.

Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 23. Dezember 2011 wurden die Anträge der Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen und des Zweitbeschwerdeführers bezüglich der Zuerkennung des Status der Asyl berechtigten gemäß §3 Abs1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Mazedonien gemäß §8 Abs1 leg.cit. abgewiesen. Weiters wurden die Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen und der Zweitbeschwerdeführer gemäß §10 Abs1 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Mazedonien ausgewiesen und wurde einer allfälligen Beschwerde an den Asylgerichtshof gemäß §38 Abs1 Z1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Die gegen diese Bescheide gerichteten Beschwerden wurde am Asylgerichtshof der Gerichtsabteilung "B/2", bestehend aus einem Richter und einer Richterin, zugeteilt. Außerdem wurde den Beschwerden mit Beschlüssen vom 23. Jänner 2012 gemäß §38 Abs2 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

2. Mit den nunmehr gemäß Art144a B VG angefochtenen Entscheidungen vom 27. April 2012 wies der Asylgerichtshof die Beschwerden der Erst- bis Dritt beschwerdeführer gemäß §66 Abs4 AVG iVm §§3, 8 Abs1 und 10 Abs1 AsylG 2005 – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – ab, da – selbst im Falle der Wahrunterstellung des Vorbringens – von der Schutzfähigkeit und willigkeit des mazedonischen Staates auszugehen sei. Auch existiere eine staatliche oder staatlich geduldete generelle Verfolgung der Volksgruppe der Roma in Mazedonien nicht. Weiters seien keine außergewöhnlichen Umstände zutage getreten, die im Rahmen einer Abschiebung der Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen und des Zweitbeschwerdeführers eine Verletzung der Art2 oder 3 EMRK bedeuteten und es überwögen die öffent lichen Interessen das Interesse der beschwerdeführenden Parteien am weiteren Verbleib in Österreich. Angesichts der fortgeschrittenen Schwangerschaft der Dritt beschwerdeführerin sprach der Asylgerichtshof jedoch aus, dass die Durch führung der Ausweisung bis 15. Oktober 2012 aufzuschieben sei.

3. In ihren gegen diese Entscheidungen gerichteten, auf Art144a B VG ge stützten Beschwerden rügen die Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen und der Zweitbeschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragen die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen.

4. Der belangte Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässigen – Beschwerden erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetz lich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).

2. §20 Asylgesetz 2005 – AsylG 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 4/2008 und §34 AsylG 2005 idF BGBl I 135/2009 lauten wie folgt:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

(1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuver nehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(3) Abs1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §67e AVG."

"Familienverfahren im Inland

§34. (1) Stellt ein Familienangehöriger (§2 Abs1 Z22) von

1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§8) zuerkannt worden ist oder

3. einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) - (3) […]

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) - (6) […]"

3. Die §§2 und 19 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2012 lauten auszugsweise wie folgt:

"§2

Annexsachen

(1) - (4) […]

(5) Annexität liegt weiters vor, wenn sich eine Rechtssache auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes Verfahren bezieht oder bezogen hat (Bezugsperson). Familienmitglieder in diesem Sinne sind:

1. der Ehegatte der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder Lebensgefährten;

2. Vorfahren und Nachkommen der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) dieser Vorfahren und Nachkommen und die Geschwister und

Kinder dieser Ehegatten (und Lebensgefährten);

3. Geschwister der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) und Kinder dieser Geschwister.

(6) - (7) […]"

"§19

Fälle der Unzuständigkeit

(1) - (4) […]

(5) Ist ein Richter als Einzelrichter oder als Vorsitzender eines Senates in einer

Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG unzuständig und wird ihm aus diesem Grund diese Rechtssache abgenommen, so verliert er damit gleichzeitig auch seine Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex oder zu denen diese Rechtssache annex ist."

4. Die Erstbeschwerdeführerin hat vor dem Bundesasylamt sowie in ihrer Beschwerde an den Asylgerichtshof als Fluchtgrund vorgebracht, in ihrem Herkunftsstaat längere Zeit dazu gezwungen worden zu sein, in einem Bordell zu arbeiten.

4.1. §20 AsylG 2005 normiert bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung in Abs1 das Gebot der Einvernahme durch einen Organwalter desselben Geschlechts vor der Behörde 1. Instanz und in Abs2 das Gebot der Verhandlung (und demzufolge auch Entscheidung) vor dem Asylgerichtshof durch (einen oder zwei) Richter desselben Geschlechts. Davon kann nach dem insoweit klaren Gesetzeswortlaut nur abgegangen werden, wenn die Partei ausdrücklich anderes verlangt, und zwar vor der Behörde 1. Instanz die Einvernahme durch einen Organwalter des anderen Geschlechts und vor dem Asylgerichtshof die Führung der Verhandlung durch Richter (uU auch) des anderen Geschlechts.

4.2. Das letztgenannte Begehren ist mit dem Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung befristet. Ein Verlangen, vom gesetzlichen Gebot der Einvernahme vor dem Bundesasylamt durch Organwalter desselben Geschlechts abzugehen, ersetzt sohin nicht das Erfordernis des ausdrücklichen Verlangens spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof.

4.3. Die Erstbeschwerdeführerin hat in diesem Zusammenhang zunächst zwar der (Fortsetzung der bereits begonnenen) Einvernahme durch einen männlichen Organwalter ausdrücklich zugestimmt, ein derartiges Verlangen in Bezug auf die Verhandlung vor dem Asylgerichtshof aber in ihrer Beschwerde nicht wiederholt. Vor dem Asylgerichtshof lag daher kein ausdrückliches Verlangen im Sinne des §20 Abs2 AsylG 2005 vor.

5. Am Asylgerichtshof wurden die Rechtssachen der Gerichtsabteilung "B/2", bestehend aus einem Richter und einer Richterin, zugeteilt. Unter Berufung auf §41 Abs7 AsylG 2005 entschied dieser Senat ohne Durchführung einer münd lichen Verhandlung, und zwar mit der Begründung, dass in den gegenständlichen Fällen der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt gewesen sei.

6. Die Erst- und Drittbeschwerdeführerinnen und der Zweitbeschwerdeführer wurden durch die angefochtenen Entscheidungen aus folgendem Grund in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt:

6.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 19.671/2012 ausgesprochen hat, ist eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbe stimmung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend macht, – sofern der Asylwerber nichts anderes verlangt – gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 gleich bei Beschwerdeanfall (und nicht nur bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung) einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen.

6.2. Der Asylgerichtshof hat im vorliegenden Fall über die Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin, die sowohl im Verfahren vor dem Bundesasylamt als auch in ihrer Beschwerdeergänzung an den Asylgerichtshof vorgebracht hat, in ihrem Herkunftsstaat dazu gezwungen worden zu sein, in einem Bordell zu arbeiten, sohin einen Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung behauptet hat, durch einen aus einem weiblichen Vorsitzenden und einem männlichen beisitzenden Richter be stehenden Senat in nichtöffentlicher Sitzung entschieden. Die Erst beschwerdeführerin wurde dadurch in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil über ihre Beschwerde gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 durch einen aus zwei Richterinnen bestehenden Senat abzusprechen gewesen wäre (vgl. VfSlg 19.671/2012).

6.3. Da die Entscheidung betreffend die Erstbeschwerdeführerin durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §19 Abs5 und §2 Abs5 Z1 der Geschäftsverteilung des Asyl gerichtshofes für das Geschäftsjahr 2012 iVm §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidungen betreffend den Zweitbeschwerdeführer und die Dritt beschwerdeführerin durch. Auch insoweit liegt daher jeweils eine Verletzung dieser beschwerdeführenden Parteien im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter vor.

III. Ergebnis

1. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne münd liche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88 VfGG. Ein über die antrags gemäß zugesprochenen Kosten hinausgehender Ersatz der Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von jeweils € 220,– kommt nicht in Betracht, weil den Beschwerdeführerinnen und dem Beschwerdeführer mit Beschluss vom 10. Juli 2012 Verfahrenshilfe auch im Umfang der einstweiligen Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr gewährt wurde. In den zugesprochen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.

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